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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Gottfried Keller und seine Novellen

lente Holz iFran Margreth und Vater Jakobleiu im Grünen Heinrich). Der
junge Keller war der erklärte Liebling der dicken Fran in weißen Hemdärmeln,
die "eine große Sammlung Heiden- und Götzenbücher, d. h. alter, fabelhafter
Reisebeschreibungen, apokrypher Evangelien und Prophezeiungen, kurioser Chro¬
niken und volkstümlich theosophischer Schriften besaß. Er lauschte bei den
nächtlichen Zusammenkünften ihren geheimnisvollen Erzählungen ans dem
Reiche der Ahnungen, Träume und Geister, hörte von schreckhaften Erschei¬
nungen am Himmel und unter der Erde und schauerte vor Lust, wenn auf
Hexen, Gehängte, Männer ohne Kopf, die der Frau in ihrer Jugend manch¬
mal begegnet waren, auf Scharfrichter und Teufelsbanner die Rede kam. Ein
barockes Phantasieleben begann den Knaben auf gefährliche Weise zu bedrängen."
Aller Vorstellungen bemächtigte sich die Phantasie und gestaltete sie frisch nach
ihrer Weise aus. Als ein Beispiel erzählt er selbst in einem Brief von 1874:
"Ich war ein Kind von kaum fünf Jahren, als ich von einer Nachbarin sagen
hörte, man werde ihre Vermählung feiern. Ich verstand Verachtung und
träumte gleich darauf von ihr, d. h. von der Person, wie sie entkleidet, in
einen Backtrog gelegt und mit Mehl eingerieben und zugedeckt wurde, und
dieser Traum hinterließ nur einen sehnsüchtig traurigen Eindruck, der mich
lauge Jahre trotz alle" Gelächters nie verließ."

"In solch eigentümlicher Umgebung entwickelte sich, sagt Baechtold, in
dem Kinde -- es sind die ersten Vorzeichen des werdenden Dichters -- der
Hang, aus lauter Phantasie zu lügen, d. h. ohne böse Absicht mehr oder
minder harmlose Abenteuer und Geschichten zu erfinden, die dann oft zu kleinen
Verwicklungen führten. Ebenso bildete sich bei dieser stark in sich gekehrten
Natur, die keine harte Berührung von außen duldete, der Trieb zur Einsam¬
keit, zur Einsilbigkeit aus, später, als sich der gewaltsam aus der Bahn ge-
wvrfne Schüler zur Unthütigkeit verurteilt sah, die Neigung zu einem mürrischen
Schmollen wie Pankraz und zu trübseligen Grillenfang."

Bald regte sich in dem Knaben die Liebe zur Kunst. Ein nicht ganz ge¬
wöhnliches Zeichentalent brachte ihn auf den Gedanken, Maler zu werden.
Die schönen Tage, die er in dem nahe gelegnen Heimatsort des Vaters, in
Glnttfelden bei seinem Oheim, dem Arzt Heinrich Scheuchzer und seiner Gattin
Negula, "dem Urbild von Frau Regel Amrain," verbrachte, wurden vielfach
zum Nciturzeichuen benutzt. So brachte ihn denu die Mutter zu einem dürf¬
tigen Kunstmaler in die Lehre. Aber von gründlichem Unterricht war nicht
die Rede, der Anfänger blieb bedauerlicherweise meist sich selbst und seiner
ausschweifenden Phantasie überlassen, sodaß er, im Keime verpfuscht, es nie
zu etwas Rechtem bringen konnte. Nach seiner Konfirmation (1835), die
keinen besondern Eindruck auf ihn machte, fand er einen gediegnem Meister in
Rudolf Meyer. Aber dieser verließ bald Zürich, und so reifte in dem Zwanzig¬
jährigen der Entschluß, zu weiterer gründlicher Ausbildung nach München


Gottfried Keller und seine Novellen

lente Holz iFran Margreth und Vater Jakobleiu im Grünen Heinrich). Der
junge Keller war der erklärte Liebling der dicken Fran in weißen Hemdärmeln,
die „eine große Sammlung Heiden- und Götzenbücher, d. h. alter, fabelhafter
Reisebeschreibungen, apokrypher Evangelien und Prophezeiungen, kurioser Chro¬
niken und volkstümlich theosophischer Schriften besaß. Er lauschte bei den
nächtlichen Zusammenkünften ihren geheimnisvollen Erzählungen ans dem
Reiche der Ahnungen, Träume und Geister, hörte von schreckhaften Erschei¬
nungen am Himmel und unter der Erde und schauerte vor Lust, wenn auf
Hexen, Gehängte, Männer ohne Kopf, die der Frau in ihrer Jugend manch¬
mal begegnet waren, auf Scharfrichter und Teufelsbanner die Rede kam. Ein
barockes Phantasieleben begann den Knaben auf gefährliche Weise zu bedrängen."
Aller Vorstellungen bemächtigte sich die Phantasie und gestaltete sie frisch nach
ihrer Weise aus. Als ein Beispiel erzählt er selbst in einem Brief von 1874:
„Ich war ein Kind von kaum fünf Jahren, als ich von einer Nachbarin sagen
hörte, man werde ihre Vermählung feiern. Ich verstand Verachtung und
träumte gleich darauf von ihr, d. h. von der Person, wie sie entkleidet, in
einen Backtrog gelegt und mit Mehl eingerieben und zugedeckt wurde, und
dieser Traum hinterließ nur einen sehnsüchtig traurigen Eindruck, der mich
lauge Jahre trotz alle» Gelächters nie verließ."

„In solch eigentümlicher Umgebung entwickelte sich, sagt Baechtold, in
dem Kinde — es sind die ersten Vorzeichen des werdenden Dichters — der
Hang, aus lauter Phantasie zu lügen, d. h. ohne böse Absicht mehr oder
minder harmlose Abenteuer und Geschichten zu erfinden, die dann oft zu kleinen
Verwicklungen führten. Ebenso bildete sich bei dieser stark in sich gekehrten
Natur, die keine harte Berührung von außen duldete, der Trieb zur Einsam¬
keit, zur Einsilbigkeit aus, später, als sich der gewaltsam aus der Bahn ge-
wvrfne Schüler zur Unthütigkeit verurteilt sah, die Neigung zu einem mürrischen
Schmollen wie Pankraz und zu trübseligen Grillenfang."

Bald regte sich in dem Knaben die Liebe zur Kunst. Ein nicht ganz ge¬
wöhnliches Zeichentalent brachte ihn auf den Gedanken, Maler zu werden.
Die schönen Tage, die er in dem nahe gelegnen Heimatsort des Vaters, in
Glnttfelden bei seinem Oheim, dem Arzt Heinrich Scheuchzer und seiner Gattin
Negula, „dem Urbild von Frau Regel Amrain," verbrachte, wurden vielfach
zum Nciturzeichuen benutzt. So brachte ihn denu die Mutter zu einem dürf¬
tigen Kunstmaler in die Lehre. Aber von gründlichem Unterricht war nicht
die Rede, der Anfänger blieb bedauerlicherweise meist sich selbst und seiner
ausschweifenden Phantasie überlassen, sodaß er, im Keime verpfuscht, es nie
zu etwas Rechtem bringen konnte. Nach seiner Konfirmation (1835), die
keinen besondern Eindruck auf ihn machte, fand er einen gediegnem Meister in
Rudolf Meyer. Aber dieser verließ bald Zürich, und so reifte in dem Zwanzig¬
jährigen der Entschluß, zu weiterer gründlicher Ausbildung nach München


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[0455] Gottfried Keller und seine Novellen lente Holz iFran Margreth und Vater Jakobleiu im Grünen Heinrich). Der junge Keller war der erklärte Liebling der dicken Fran in weißen Hemdärmeln, die „eine große Sammlung Heiden- und Götzenbücher, d. h. alter, fabelhafter Reisebeschreibungen, apokrypher Evangelien und Prophezeiungen, kurioser Chro¬ niken und volkstümlich theosophischer Schriften besaß. Er lauschte bei den nächtlichen Zusammenkünften ihren geheimnisvollen Erzählungen ans dem Reiche der Ahnungen, Träume und Geister, hörte von schreckhaften Erschei¬ nungen am Himmel und unter der Erde und schauerte vor Lust, wenn auf Hexen, Gehängte, Männer ohne Kopf, die der Frau in ihrer Jugend manch¬ mal begegnet waren, auf Scharfrichter und Teufelsbanner die Rede kam. Ein barockes Phantasieleben begann den Knaben auf gefährliche Weise zu bedrängen." Aller Vorstellungen bemächtigte sich die Phantasie und gestaltete sie frisch nach ihrer Weise aus. Als ein Beispiel erzählt er selbst in einem Brief von 1874: „Ich war ein Kind von kaum fünf Jahren, als ich von einer Nachbarin sagen hörte, man werde ihre Vermählung feiern. Ich verstand Verachtung und träumte gleich darauf von ihr, d. h. von der Person, wie sie entkleidet, in einen Backtrog gelegt und mit Mehl eingerieben und zugedeckt wurde, und dieser Traum hinterließ nur einen sehnsüchtig traurigen Eindruck, der mich lauge Jahre trotz alle» Gelächters nie verließ." „In solch eigentümlicher Umgebung entwickelte sich, sagt Baechtold, in dem Kinde — es sind die ersten Vorzeichen des werdenden Dichters — der Hang, aus lauter Phantasie zu lügen, d. h. ohne böse Absicht mehr oder minder harmlose Abenteuer und Geschichten zu erfinden, die dann oft zu kleinen Verwicklungen führten. Ebenso bildete sich bei dieser stark in sich gekehrten Natur, die keine harte Berührung von außen duldete, der Trieb zur Einsam¬ keit, zur Einsilbigkeit aus, später, als sich der gewaltsam aus der Bahn ge- wvrfne Schüler zur Unthütigkeit verurteilt sah, die Neigung zu einem mürrischen Schmollen wie Pankraz und zu trübseligen Grillenfang." Bald regte sich in dem Knaben die Liebe zur Kunst. Ein nicht ganz ge¬ wöhnliches Zeichentalent brachte ihn auf den Gedanken, Maler zu werden. Die schönen Tage, die er in dem nahe gelegnen Heimatsort des Vaters, in Glnttfelden bei seinem Oheim, dem Arzt Heinrich Scheuchzer und seiner Gattin Negula, „dem Urbild von Frau Regel Amrain," verbrachte, wurden vielfach zum Nciturzeichuen benutzt. So brachte ihn denu die Mutter zu einem dürf¬ tigen Kunstmaler in die Lehre. Aber von gründlichem Unterricht war nicht die Rede, der Anfänger blieb bedauerlicherweise meist sich selbst und seiner ausschweifenden Phantasie überlassen, sodaß er, im Keime verpfuscht, es nie zu etwas Rechtem bringen konnte. Nach seiner Konfirmation (1835), die keinen besondern Eindruck auf ihn machte, fand er einen gediegnem Meister in Rudolf Meyer. Aber dieser verließ bald Zürich, und so reifte in dem Zwanzig¬ jährigen der Entschluß, zu weiterer gründlicher Ausbildung nach München

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/455>, abgerufen am 26.06.2024.