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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Gottfried Keller und seine Novellen

sich regelmäßig einzuteilen, sondern beständig genötigt ist, von der Hand in
den Mund und zwar meist auf Borg zu leben, wird die Kunst des Haushaltens
nie recht erlernen. Die Entbehrung, die sich die Mutter fortwährend auferlegte,
ist dem Sohne in schwierigen Umständen wohl gekommen.*) Die Mutter
war eine geistig aufgeweckte Frau, eine ganz vorzügliche Briefstellerin, die oft
große Munterkeit des Gemüts, daneben auch eine gewisse schweizerisch derbe
Rücksichtslosigkeit und Offenheit zeigt."

Die Schwester Regula blieb lebenslang ein bescheidnes Wesen, das man
sich, bis auf die letzte" Jahre, ganz gut aus der Umgebung des Bruders weg¬
denken kann. Sie wurde nach und nach ältliche Jungfrau und behielt seitdem
etwas Mißvergnügtes, Mürrisches. Seit dem Tode der Mutter (1864) führte
sie ihm die bescheidne Wirtschaft, freilich ohne die Fähigkeit, sein Leben freundlich
zu schmücken. Zwischen beiden bestand ein ewiges Gebrumm. Und doch war
sie ihm eine brave Schwester, die schließlich nur noch für ihn lebte.

Also darben hat Keller von seiner Mutter gelernt, und er hat es bis zu
seinem vierzigsten Lebensjahre oft genug geübt, aber weder sparen noch an¬
dauernd arbeiten. Ob sie auf sein Gemüt einen wesentlichen Einfluß geübt
hat, ist nicht zu ersehen. Aus seineu Briefen nu die Mutter klingt sehr selten
ein herzlicherer Ton der Liebe, mehr stille, freundliche Verehrung.

Anfangs besuchte Keller die Armenschule, dann einige Jahre das Lcmd-
knabeninstitnt, eine Privatanstalt, wo man anßer den Elementarfächern im
Französischen, im Italienischen und in der Buchhaltung unterrichtet wurde, und
seit 1833 die kantonale Industrieschule, die zur Vorbereitung auf technische Berufs¬
arten, Gewerbe und Handwerk bestimmt war. Hier wurde er als angeblicher
Rädelsführer eiuer lärmenden Unbvtmüßigkeit (gegen einen Lehrer) von der
Schule verwiesen, "während man die Schuldigern Herrensöhncheu schonte; das
bittere Gefühl der ungerechten Relegation hat er nie recht verwunden. Seit¬
dem war er völlig auf Selbstbildung angewiesen, die er von um an mit
einem heiligen Ernst betrieb, nicht ohne öfter schmerzlich durch die verschlossenen
Gitter in den reichen Garten der reifern Jugendbildung zu sehen und den
Verlust doppelt zu empfinden."

Im übrigen nahm er aus dem häuslichen Leben und dem Umgang in
der Stadt mannichfnche Eindrücke in sich auf, die sich später gerade in
seinen Novellen und im Roman spiegeln und überhaupt seine jugendliche Phan¬
tasie mit bleibender Wirkung belebten: Hausgenossen und Hausfreunde, wie
die Familie seiner Pflegeschwester Bäbeli (Das Verlorne Lachen) und der
durstige Schreiner Schanfelberger (Das Fähnlein der sieben Aufrechten), die
Spiele der Jugend und das Mörserschießen der Alten (Züricher Novellen), das
Puppenspiel, das die ersten Dichtungen veranlaßte, und vor allem die Trödlers-



") Davon hat er Vorteil gehabt.
Gottfried Keller und seine Novellen

sich regelmäßig einzuteilen, sondern beständig genötigt ist, von der Hand in
den Mund und zwar meist auf Borg zu leben, wird die Kunst des Haushaltens
nie recht erlernen. Die Entbehrung, die sich die Mutter fortwährend auferlegte,
ist dem Sohne in schwierigen Umständen wohl gekommen.*) Die Mutter
war eine geistig aufgeweckte Frau, eine ganz vorzügliche Briefstellerin, die oft
große Munterkeit des Gemüts, daneben auch eine gewisse schweizerisch derbe
Rücksichtslosigkeit und Offenheit zeigt."

Die Schwester Regula blieb lebenslang ein bescheidnes Wesen, das man
sich, bis auf die letzte» Jahre, ganz gut aus der Umgebung des Bruders weg¬
denken kann. Sie wurde nach und nach ältliche Jungfrau und behielt seitdem
etwas Mißvergnügtes, Mürrisches. Seit dem Tode der Mutter (1864) führte
sie ihm die bescheidne Wirtschaft, freilich ohne die Fähigkeit, sein Leben freundlich
zu schmücken. Zwischen beiden bestand ein ewiges Gebrumm. Und doch war
sie ihm eine brave Schwester, die schließlich nur noch für ihn lebte.

Also darben hat Keller von seiner Mutter gelernt, und er hat es bis zu
seinem vierzigsten Lebensjahre oft genug geübt, aber weder sparen noch an¬
dauernd arbeiten. Ob sie auf sein Gemüt einen wesentlichen Einfluß geübt
hat, ist nicht zu ersehen. Aus seineu Briefen nu die Mutter klingt sehr selten
ein herzlicherer Ton der Liebe, mehr stille, freundliche Verehrung.

Anfangs besuchte Keller die Armenschule, dann einige Jahre das Lcmd-
knabeninstitnt, eine Privatanstalt, wo man anßer den Elementarfächern im
Französischen, im Italienischen und in der Buchhaltung unterrichtet wurde, und
seit 1833 die kantonale Industrieschule, die zur Vorbereitung auf technische Berufs¬
arten, Gewerbe und Handwerk bestimmt war. Hier wurde er als angeblicher
Rädelsführer eiuer lärmenden Unbvtmüßigkeit (gegen einen Lehrer) von der
Schule verwiesen, „während man die Schuldigern Herrensöhncheu schonte; das
bittere Gefühl der ungerechten Relegation hat er nie recht verwunden. Seit¬
dem war er völlig auf Selbstbildung angewiesen, die er von um an mit
einem heiligen Ernst betrieb, nicht ohne öfter schmerzlich durch die verschlossenen
Gitter in den reichen Garten der reifern Jugendbildung zu sehen und den
Verlust doppelt zu empfinden."

Im übrigen nahm er aus dem häuslichen Leben und dem Umgang in
der Stadt mannichfnche Eindrücke in sich auf, die sich später gerade in
seinen Novellen und im Roman spiegeln und überhaupt seine jugendliche Phan¬
tasie mit bleibender Wirkung belebten: Hausgenossen und Hausfreunde, wie
die Familie seiner Pflegeschwester Bäbeli (Das Verlorne Lachen) und der
durstige Schreiner Schanfelberger (Das Fähnlein der sieben Aufrechten), die
Spiele der Jugend und das Mörserschießen der Alten (Züricher Novellen), das
Puppenspiel, das die ersten Dichtungen veranlaßte, und vor allem die Trödlers-



") Davon hat er Vorteil gehabt.
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[0454] Gottfried Keller und seine Novellen sich regelmäßig einzuteilen, sondern beständig genötigt ist, von der Hand in den Mund und zwar meist auf Borg zu leben, wird die Kunst des Haushaltens nie recht erlernen. Die Entbehrung, die sich die Mutter fortwährend auferlegte, ist dem Sohne in schwierigen Umständen wohl gekommen.*) Die Mutter war eine geistig aufgeweckte Frau, eine ganz vorzügliche Briefstellerin, die oft große Munterkeit des Gemüts, daneben auch eine gewisse schweizerisch derbe Rücksichtslosigkeit und Offenheit zeigt." Die Schwester Regula blieb lebenslang ein bescheidnes Wesen, das man sich, bis auf die letzte» Jahre, ganz gut aus der Umgebung des Bruders weg¬ denken kann. Sie wurde nach und nach ältliche Jungfrau und behielt seitdem etwas Mißvergnügtes, Mürrisches. Seit dem Tode der Mutter (1864) führte sie ihm die bescheidne Wirtschaft, freilich ohne die Fähigkeit, sein Leben freundlich zu schmücken. Zwischen beiden bestand ein ewiges Gebrumm. Und doch war sie ihm eine brave Schwester, die schließlich nur noch für ihn lebte. Also darben hat Keller von seiner Mutter gelernt, und er hat es bis zu seinem vierzigsten Lebensjahre oft genug geübt, aber weder sparen noch an¬ dauernd arbeiten. Ob sie auf sein Gemüt einen wesentlichen Einfluß geübt hat, ist nicht zu ersehen. Aus seineu Briefen nu die Mutter klingt sehr selten ein herzlicherer Ton der Liebe, mehr stille, freundliche Verehrung. Anfangs besuchte Keller die Armenschule, dann einige Jahre das Lcmd- knabeninstitnt, eine Privatanstalt, wo man anßer den Elementarfächern im Französischen, im Italienischen und in der Buchhaltung unterrichtet wurde, und seit 1833 die kantonale Industrieschule, die zur Vorbereitung auf technische Berufs¬ arten, Gewerbe und Handwerk bestimmt war. Hier wurde er als angeblicher Rädelsführer eiuer lärmenden Unbvtmüßigkeit (gegen einen Lehrer) von der Schule verwiesen, „während man die Schuldigern Herrensöhncheu schonte; das bittere Gefühl der ungerechten Relegation hat er nie recht verwunden. Seit¬ dem war er völlig auf Selbstbildung angewiesen, die er von um an mit einem heiligen Ernst betrieb, nicht ohne öfter schmerzlich durch die verschlossenen Gitter in den reichen Garten der reifern Jugendbildung zu sehen und den Verlust doppelt zu empfinden." Im übrigen nahm er aus dem häuslichen Leben und dem Umgang in der Stadt mannichfnche Eindrücke in sich auf, die sich später gerade in seinen Novellen und im Roman spiegeln und überhaupt seine jugendliche Phan¬ tasie mit bleibender Wirkung belebten: Hausgenossen und Hausfreunde, wie die Familie seiner Pflegeschwester Bäbeli (Das Verlorne Lachen) und der durstige Schreiner Schanfelberger (Das Fähnlein der sieben Aufrechten), die Spiele der Jugend und das Mörserschießen der Alten (Züricher Novellen), das Puppenspiel, das die ersten Dichtungen veranlaßte, und vor allem die Trödlers- ") Davon hat er Vorteil gehabt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/454>, abgerufen am 26.06.2024.