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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Gottfried Keller und seine Novellen

I" Hinsicht auf die ganze Persönlichkeit des Dichters, ohne die auch ein
volles Verständnis seiner Dichtungen nicht zu erreichen ist, sind wir erst jüngst
zu einem umfassenden Urteil befähigt worden, seitdem das weitschichtig angelegte
Werk von Jakob Baechtold: Gottfried Kellers Leben, seine Briefe
und Tagebücher, deren erster, fast 500 Seiten starker Band 1894 erschien,
mit dem soeben ausgegebnen dritten Bande von fast 700 Seiten vollständig
geworden ist. Daß das Werk gerade eine unterhaltende Lektüre für weitere
Kreise wäre wie eine Biographie Schillers oder Goethes, kann man nicht sagen.
Das Leben des Dichters war um äußern Ereignissen nicht reich, und auch was
uns von seiner innern Entwicklung entgegentritt, sowohl in der nicht gerade
sehr fesselnden Darstellung des Biographen, als auch ans den Briefen Kellers
selbst, erhebt sich uur zuweilen aus dein Alltäglichen in höhere Sphären.
Meist weht uns der kühle Hauch des verständigen Republikaners und des
vernünftigen Atheisten entgegen, und ein auffallend gemütloser Ton erklingt
fast durchweg. Jeue Gemütstiefe, bei der alle Erscheinungen und Vorgänge
der Außenwelt Beziehungen auf das Innere gewinnen und Empfindnngssaiten
erklingen lassen, tritt sehr selten hervor, und doch scheint sie, nach meinem
Geschmack wenigstens, bei einem wahren Dichter nicht entbehrlich zu sein. Eine
Betrachtung seines Lebensganges wird das beweisen.

Gottfried Keller wurde am 19. Juli 1819 als zweites Kind des Drechsler¬
meisters Rudolf Keller aus Glattfeldeu bei Zürich und seiner Gattin Elisabeth
in dem eignen Häuschen der Eltern zu Zürich geboren. Die Dürftigkeit des
Elternhauses war kaum weniger groß als bei der Geburt Schillers; auch sonst
waren die Verhältnisse uicht unähnlich, nur war umgekehrt der Vater Hand¬
werker und der Großvater mütterlicherseits Feldscher, aber der Vater war auch
ein durch Strebsamkeit und Würde in Kleidung, Haltung und Gesinnung aus¬
gezeichneter Mann, der ebenfalls Gedichte machte und mit dem Wort wie der
Feder gewandt umzugehen wußte. Im "Grünen Heinrich" hat ihm Keller zur
Freude der Mutter ein Denkmal gesetzt, wem, auch seiue Schilderung mehr
auf ihren Erzählungen als auf eigner Wahrnehmung beruht. Deal schon in
dem sechsten Lebensjahre Kellers starb sein Vater, dreiunddreißig Jahre alt, an
der Auszehrung, nachdem er vier Kiuder zuvor begraben hatte. So war Gott¬
fried Keller mit seinem zarten Mütterlein und der zweijährigen Schwester
Regula allein.

Die Mutter schildert Baechtold als eine verständige, brave Frau, nach
außen etwas ängstlich und verschüchtert. "Dem Sohne gewährte sie in liebe¬
voller Nachgiebigkeit ein größeres Maß von Freiheit, als ihm in früher Jugend
zuträglich war. Dabei hielt sie ihn weniger zur Arbeit als zur Sparsamkeit
an. Das war in ihren Augen die höchste Tugend für Leute von ihrer Lage.
Der Sohn hat sich wenig davon angeeignet. Mit dem Gelde haushälterisch
umzugehen war uicht seiue Sache. Wer bei knappen Mitteln nie dazu kommt,


Gottfried Keller und seine Novellen

I» Hinsicht auf die ganze Persönlichkeit des Dichters, ohne die auch ein
volles Verständnis seiner Dichtungen nicht zu erreichen ist, sind wir erst jüngst
zu einem umfassenden Urteil befähigt worden, seitdem das weitschichtig angelegte
Werk von Jakob Baechtold: Gottfried Kellers Leben, seine Briefe
und Tagebücher, deren erster, fast 500 Seiten starker Band 1894 erschien,
mit dem soeben ausgegebnen dritten Bande von fast 700 Seiten vollständig
geworden ist. Daß das Werk gerade eine unterhaltende Lektüre für weitere
Kreise wäre wie eine Biographie Schillers oder Goethes, kann man nicht sagen.
Das Leben des Dichters war um äußern Ereignissen nicht reich, und auch was
uns von seiner innern Entwicklung entgegentritt, sowohl in der nicht gerade
sehr fesselnden Darstellung des Biographen, als auch ans den Briefen Kellers
selbst, erhebt sich uur zuweilen aus dein Alltäglichen in höhere Sphären.
Meist weht uns der kühle Hauch des verständigen Republikaners und des
vernünftigen Atheisten entgegen, und ein auffallend gemütloser Ton erklingt
fast durchweg. Jeue Gemütstiefe, bei der alle Erscheinungen und Vorgänge
der Außenwelt Beziehungen auf das Innere gewinnen und Empfindnngssaiten
erklingen lassen, tritt sehr selten hervor, und doch scheint sie, nach meinem
Geschmack wenigstens, bei einem wahren Dichter nicht entbehrlich zu sein. Eine
Betrachtung seines Lebensganges wird das beweisen.

Gottfried Keller wurde am 19. Juli 1819 als zweites Kind des Drechsler¬
meisters Rudolf Keller aus Glattfeldeu bei Zürich und seiner Gattin Elisabeth
in dem eignen Häuschen der Eltern zu Zürich geboren. Die Dürftigkeit des
Elternhauses war kaum weniger groß als bei der Geburt Schillers; auch sonst
waren die Verhältnisse uicht unähnlich, nur war umgekehrt der Vater Hand¬
werker und der Großvater mütterlicherseits Feldscher, aber der Vater war auch
ein durch Strebsamkeit und Würde in Kleidung, Haltung und Gesinnung aus¬
gezeichneter Mann, der ebenfalls Gedichte machte und mit dem Wort wie der
Feder gewandt umzugehen wußte. Im „Grünen Heinrich" hat ihm Keller zur
Freude der Mutter ein Denkmal gesetzt, wem, auch seiue Schilderung mehr
auf ihren Erzählungen als auf eigner Wahrnehmung beruht. Deal schon in
dem sechsten Lebensjahre Kellers starb sein Vater, dreiunddreißig Jahre alt, an
der Auszehrung, nachdem er vier Kiuder zuvor begraben hatte. So war Gott¬
fried Keller mit seinem zarten Mütterlein und der zweijährigen Schwester
Regula allein.

Die Mutter schildert Baechtold als eine verständige, brave Frau, nach
außen etwas ängstlich und verschüchtert. „Dem Sohne gewährte sie in liebe¬
voller Nachgiebigkeit ein größeres Maß von Freiheit, als ihm in früher Jugend
zuträglich war. Dabei hielt sie ihn weniger zur Arbeit als zur Sparsamkeit
an. Das war in ihren Augen die höchste Tugend für Leute von ihrer Lage.
Der Sohn hat sich wenig davon angeeignet. Mit dem Gelde haushälterisch
umzugehen war uicht seiue Sache. Wer bei knappen Mitteln nie dazu kommt,


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[0453] Gottfried Keller und seine Novellen I» Hinsicht auf die ganze Persönlichkeit des Dichters, ohne die auch ein volles Verständnis seiner Dichtungen nicht zu erreichen ist, sind wir erst jüngst zu einem umfassenden Urteil befähigt worden, seitdem das weitschichtig angelegte Werk von Jakob Baechtold: Gottfried Kellers Leben, seine Briefe und Tagebücher, deren erster, fast 500 Seiten starker Band 1894 erschien, mit dem soeben ausgegebnen dritten Bande von fast 700 Seiten vollständig geworden ist. Daß das Werk gerade eine unterhaltende Lektüre für weitere Kreise wäre wie eine Biographie Schillers oder Goethes, kann man nicht sagen. Das Leben des Dichters war um äußern Ereignissen nicht reich, und auch was uns von seiner innern Entwicklung entgegentritt, sowohl in der nicht gerade sehr fesselnden Darstellung des Biographen, als auch ans den Briefen Kellers selbst, erhebt sich uur zuweilen aus dein Alltäglichen in höhere Sphären. Meist weht uns der kühle Hauch des verständigen Republikaners und des vernünftigen Atheisten entgegen, und ein auffallend gemütloser Ton erklingt fast durchweg. Jeue Gemütstiefe, bei der alle Erscheinungen und Vorgänge der Außenwelt Beziehungen auf das Innere gewinnen und Empfindnngssaiten erklingen lassen, tritt sehr selten hervor, und doch scheint sie, nach meinem Geschmack wenigstens, bei einem wahren Dichter nicht entbehrlich zu sein. Eine Betrachtung seines Lebensganges wird das beweisen. Gottfried Keller wurde am 19. Juli 1819 als zweites Kind des Drechsler¬ meisters Rudolf Keller aus Glattfeldeu bei Zürich und seiner Gattin Elisabeth in dem eignen Häuschen der Eltern zu Zürich geboren. Die Dürftigkeit des Elternhauses war kaum weniger groß als bei der Geburt Schillers; auch sonst waren die Verhältnisse uicht unähnlich, nur war umgekehrt der Vater Hand¬ werker und der Großvater mütterlicherseits Feldscher, aber der Vater war auch ein durch Strebsamkeit und Würde in Kleidung, Haltung und Gesinnung aus¬ gezeichneter Mann, der ebenfalls Gedichte machte und mit dem Wort wie der Feder gewandt umzugehen wußte. Im „Grünen Heinrich" hat ihm Keller zur Freude der Mutter ein Denkmal gesetzt, wem, auch seiue Schilderung mehr auf ihren Erzählungen als auf eigner Wahrnehmung beruht. Deal schon in dem sechsten Lebensjahre Kellers starb sein Vater, dreiunddreißig Jahre alt, an der Auszehrung, nachdem er vier Kiuder zuvor begraben hatte. So war Gott¬ fried Keller mit seinem zarten Mütterlein und der zweijährigen Schwester Regula allein. Die Mutter schildert Baechtold als eine verständige, brave Frau, nach außen etwas ängstlich und verschüchtert. „Dem Sohne gewährte sie in liebe¬ voller Nachgiebigkeit ein größeres Maß von Freiheit, als ihm in früher Jugend zuträglich war. Dabei hielt sie ihn weniger zur Arbeit als zur Sparsamkeit an. Das war in ihren Augen die höchste Tugend für Leute von ihrer Lage. Der Sohn hat sich wenig davon angeeignet. Mit dem Gelde haushälterisch umzugehen war uicht seiue Sache. Wer bei knappen Mitteln nie dazu kommt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/453>, abgerufen am 27.09.2024.