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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Der viktaturparagraph und das Sozialistengesetz

der Behauptung verstiegen hat, in Elsaß-Lothringen könne sich niemand ohne
Furcht davor zu Bett legen. Im Reichsland dagegen wird dergleichen von
der "öffentlichen Meinung" sehr ernst genommen und in allen Tonarten aus¬
gesponnen; der Wortlaut ist ja so gut wie unbekannt und wird von den Gegnern
ebenso sorgfältig verschwiegen wie die Garantie, daß nur der Statthalter zur
Handhabung berufen ist, und wie der unbequeme Umstand, daß zur französischen
Zeit in den Mssures ä<z lig-no xolioo etwas ebenso beunruhigendes in der
Regierungsgewalt lag.

Sehr schwächlich ist die Haltung unsrer Regierung. Sie hat, um Aus¬
drücke einer frühern Erörterung zu wiederholen, das Lied vom ungemeinen
Gesetzessinn so lange mitgesungen, im Lande und in Berlin, daß es ihr jetzt
schwer fällt, die Falschheit der Melodie geltend zu machen. Die Einmischung
von Ehre und Würde des Landes in eine Frage, die damit gar nichts zu thun
hat, zurückzuweisen, ist sie auch dadurch verhindert, daß diese volltönenden
Worte jetzt vornehmlich von den Anhängern der Negierung gegen den Diktatnr-
parcigrciphen ins Feld geführt werden. Diesen gar ans dem Staatsnotrecht
zu rechtfertigen, würde in den Verdacht schlimmster Reaktion bringen. So
beschränkt sich denn die Regierung auf eine matte Defensive und ist froh, wenn
sie auf das leidige Thema nicht einzugehen braucht. Fügt es sich so, daß sie
nicht ausweichen kann, wie z. B. am Schluß der vorjährigen Tagung, so
erntet sie zwar oratorische Lorbeeren, aber nicht durch wirkliche und darum
nachwirkende Wärme für die Sache, sondern durch ihre Überlegenheit in der
parlamentarischen Debattirkunst. Das sind schnell verrauschende Erfolge, denn
nicht auf der Parlamcntsbühne selbst, sondern hinter den Kulissen spielen sich
die entscheidenden Vorgänge ab, in Elsaß-Lothringen noch mehr als anderwärts.
Da nun steht alles so, daß die Einflüsse gegen den Diktaturparagraphen stetig
fortwirken und an Kraft gewinnen. Auch im Reichstage, möchte ich meinen,
hat der Eindruck, daß es sich für die Negierung nur um eine mit halbem
Herzen behauptete Stellung handle, zur Annahme der dagegen gerichteten An¬
träge beigetragen, und durch diese Halbheit wächst fortwährend die Gefahr,
daß der Diktaturparagraph zur politischen Ware werde. Darin und in der
Übermacht der Phrase zeigt der Verlauf des Kampfes große Ähnlichkeit mit
dem, der zu dem Fall des Sozialistengesetzes geführt hat. Es ist doch auch
nichts zufälliges, daß die Anträge auf Aufhebung im Reichstage nicht bloß
von den elsaß-lothringischen Separatisten, sondern auch von den Sozialdemokraten
gestellt worden sind.

Eine Wendung in dieser Entwicklung ist nur davon zu erwarten, daß die
Offensive ergriffen wird. Im Lande selbst wird das nicht leicht sein: nachdem
wir die ganze Zeit heraus den Leuten zu viel und aus uns zu wenig gemacht
haben, kann nur mit weitern Zugeständnissen gearbeitet oder es muß hingenommen
werden, daß der bisher nur selten gelüstete Schleier, der den wahren Stand


Der viktaturparagraph und das Sozialistengesetz

der Behauptung verstiegen hat, in Elsaß-Lothringen könne sich niemand ohne
Furcht davor zu Bett legen. Im Reichsland dagegen wird dergleichen von
der „öffentlichen Meinung" sehr ernst genommen und in allen Tonarten aus¬
gesponnen; der Wortlaut ist ja so gut wie unbekannt und wird von den Gegnern
ebenso sorgfältig verschwiegen wie die Garantie, daß nur der Statthalter zur
Handhabung berufen ist, und wie der unbequeme Umstand, daß zur französischen
Zeit in den Mssures ä<z lig-no xolioo etwas ebenso beunruhigendes in der
Regierungsgewalt lag.

Sehr schwächlich ist die Haltung unsrer Regierung. Sie hat, um Aus¬
drücke einer frühern Erörterung zu wiederholen, das Lied vom ungemeinen
Gesetzessinn so lange mitgesungen, im Lande und in Berlin, daß es ihr jetzt
schwer fällt, die Falschheit der Melodie geltend zu machen. Die Einmischung
von Ehre und Würde des Landes in eine Frage, die damit gar nichts zu thun
hat, zurückzuweisen, ist sie auch dadurch verhindert, daß diese volltönenden
Worte jetzt vornehmlich von den Anhängern der Negierung gegen den Diktatnr-
parcigrciphen ins Feld geführt werden. Diesen gar ans dem Staatsnotrecht
zu rechtfertigen, würde in den Verdacht schlimmster Reaktion bringen. So
beschränkt sich denn die Regierung auf eine matte Defensive und ist froh, wenn
sie auf das leidige Thema nicht einzugehen braucht. Fügt es sich so, daß sie
nicht ausweichen kann, wie z. B. am Schluß der vorjährigen Tagung, so
erntet sie zwar oratorische Lorbeeren, aber nicht durch wirkliche und darum
nachwirkende Wärme für die Sache, sondern durch ihre Überlegenheit in der
parlamentarischen Debattirkunst. Das sind schnell verrauschende Erfolge, denn
nicht auf der Parlamcntsbühne selbst, sondern hinter den Kulissen spielen sich
die entscheidenden Vorgänge ab, in Elsaß-Lothringen noch mehr als anderwärts.
Da nun steht alles so, daß die Einflüsse gegen den Diktaturparagraphen stetig
fortwirken und an Kraft gewinnen. Auch im Reichstage, möchte ich meinen,
hat der Eindruck, daß es sich für die Negierung nur um eine mit halbem
Herzen behauptete Stellung handle, zur Annahme der dagegen gerichteten An¬
träge beigetragen, und durch diese Halbheit wächst fortwährend die Gefahr,
daß der Diktaturparagraph zur politischen Ware werde. Darin und in der
Übermacht der Phrase zeigt der Verlauf des Kampfes große Ähnlichkeit mit
dem, der zu dem Fall des Sozialistengesetzes geführt hat. Es ist doch auch
nichts zufälliges, daß die Anträge auf Aufhebung im Reichstage nicht bloß
von den elsaß-lothringischen Separatisten, sondern auch von den Sozialdemokraten
gestellt worden sind.

Eine Wendung in dieser Entwicklung ist nur davon zu erwarten, daß die
Offensive ergriffen wird. Im Lande selbst wird das nicht leicht sein: nachdem
wir die ganze Zeit heraus den Leuten zu viel und aus uns zu wenig gemacht
haben, kann nur mit weitern Zugeständnissen gearbeitet oder es muß hingenommen
werden, daß der bisher nur selten gelüstete Schleier, der den wahren Stand


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[0390] Der viktaturparagraph und das Sozialistengesetz der Behauptung verstiegen hat, in Elsaß-Lothringen könne sich niemand ohne Furcht davor zu Bett legen. Im Reichsland dagegen wird dergleichen von der „öffentlichen Meinung" sehr ernst genommen und in allen Tonarten aus¬ gesponnen; der Wortlaut ist ja so gut wie unbekannt und wird von den Gegnern ebenso sorgfältig verschwiegen wie die Garantie, daß nur der Statthalter zur Handhabung berufen ist, und wie der unbequeme Umstand, daß zur französischen Zeit in den Mssures ä<z lig-no xolioo etwas ebenso beunruhigendes in der Regierungsgewalt lag. Sehr schwächlich ist die Haltung unsrer Regierung. Sie hat, um Aus¬ drücke einer frühern Erörterung zu wiederholen, das Lied vom ungemeinen Gesetzessinn so lange mitgesungen, im Lande und in Berlin, daß es ihr jetzt schwer fällt, die Falschheit der Melodie geltend zu machen. Die Einmischung von Ehre und Würde des Landes in eine Frage, die damit gar nichts zu thun hat, zurückzuweisen, ist sie auch dadurch verhindert, daß diese volltönenden Worte jetzt vornehmlich von den Anhängern der Negierung gegen den Diktatnr- parcigrciphen ins Feld geführt werden. Diesen gar ans dem Staatsnotrecht zu rechtfertigen, würde in den Verdacht schlimmster Reaktion bringen. So beschränkt sich denn die Regierung auf eine matte Defensive und ist froh, wenn sie auf das leidige Thema nicht einzugehen braucht. Fügt es sich so, daß sie nicht ausweichen kann, wie z. B. am Schluß der vorjährigen Tagung, so erntet sie zwar oratorische Lorbeeren, aber nicht durch wirkliche und darum nachwirkende Wärme für die Sache, sondern durch ihre Überlegenheit in der parlamentarischen Debattirkunst. Das sind schnell verrauschende Erfolge, denn nicht auf der Parlamcntsbühne selbst, sondern hinter den Kulissen spielen sich die entscheidenden Vorgänge ab, in Elsaß-Lothringen noch mehr als anderwärts. Da nun steht alles so, daß die Einflüsse gegen den Diktaturparagraphen stetig fortwirken und an Kraft gewinnen. Auch im Reichstage, möchte ich meinen, hat der Eindruck, daß es sich für die Negierung nur um eine mit halbem Herzen behauptete Stellung handle, zur Annahme der dagegen gerichteten An¬ träge beigetragen, und durch diese Halbheit wächst fortwährend die Gefahr, daß der Diktaturparagraph zur politischen Ware werde. Darin und in der Übermacht der Phrase zeigt der Verlauf des Kampfes große Ähnlichkeit mit dem, der zu dem Fall des Sozialistengesetzes geführt hat. Es ist doch auch nichts zufälliges, daß die Anträge auf Aufhebung im Reichstage nicht bloß von den elsaß-lothringischen Separatisten, sondern auch von den Sozialdemokraten gestellt worden sind. Eine Wendung in dieser Entwicklung ist nur davon zu erwarten, daß die Offensive ergriffen wird. Im Lande selbst wird das nicht leicht sein: nachdem wir die ganze Zeit heraus den Leuten zu viel und aus uns zu wenig gemacht haben, kann nur mit weitern Zugeständnissen gearbeitet oder es muß hingenommen werden, daß der bisher nur selten gelüstete Schleier, der den wahren Stand

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/390>, abgerufen am 27.09.2024.