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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Der Diktaturparagraph und das Sozialistengesetz

worden. Sie steigern sich von Jahr zu Jahr und gewinnen immer mehr an
Boden; auch unter uns Altdeutschen zählt er nur wenige überzeugte Anhänger.
Er müßte fallen, wenn das, was als "Volksstimme" laut wird, Gottesstimme
wäre. In Wirklichkeit handelt sichs jedoch um eine künstliche Strömung der
Geister, die durch lärmende Agitation aufgebauscht wird: die Bekämpfung ist
Modesache geworden, wer nicht anthut, wird verketzert und niedergeschrieen,
aber am sittlichen Ernst fehlt es ganz, und auch in die Tiefen des Volkslebens
dringt der Gegensatz nicht, abgesehen von den protestlerischen und sozial-
revolutionären Schichten. Andrerseits hat sich der Reichstag zweimal für Auf¬
hebung ausgesprochen; Antrüge ans Wiederholung dieser Beschlüsse werden nicht
ausbleiben. Dadurch wird der Diktaturparagraph wirklich gefährdet, es er¬
halten aber auch die Grüude und die Kampfweise seiner Gegner erhöhtes
Interesse. Außerdem greifen noch wichtige, wenn auch wenig bekannte oder
fast nur in falschem Licht dargestellte Verhältnisse unsers Landes ein. Endlich
fordern sowohl die Ähnlichkeiten mit der gegen das Sozialistcngesetz gerichteten
Bewegung als die Abweichungen davon zu ausführlicher Besprechung auf.

Am häufigsten sührt man an, der Diktaturpnragrciph sei gar nicht nötig,
denn die Fügsamkeit und die Nuheliebe unsrer Bevölkerung bürgten für die
Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Die genannte"
Eigenschaften sind in der That als Volkseigenschaften vorhanden und fallen
jedem auf, der in unser Land kommt. Mancher, der schon lange darin weilt,
dringt nicht tiefer ein, nicht unter die Oberfläche. Aber keine Regel schließt
Ausnahmen aus, diese Vvlkseigenschaften sind mehr leidender als thätiger Natur
und machen die Bevölkerung gegen Ausschreitende eher schwach als stark, und
an Anlaß zu Ausschreitungen fehlt es doch in keinem eroberten Lande. Wie
schon die schnelle Zunahme der Sozialdemokratie zeigt, sind auch die Fügsamkeit
und die Ruheliebe uicht im Wachsen; unsre ganze Art hilft weder in Worten
noch Werken dazu, den Grundstock zu vermehren. Zur französischen Zeit hat
das die Präfektenenergie gethan, und sie thut es in Frankreich bei dem größten
Teile der Bevölkerung noch jetzt, weil sich diese Energie unter allen Formen
des Regiments immer gleich bleibt und darum das Dnckdich in stets frischer
Übung erhält. Wir dagegen mit unsrer zagenden und zögernden Weise, die
für unsre Herrschaft über Elsaß-Lothringen fortwährend um Verzeihung zu
bitten scheint, wir ermutigen gerade zum Widerstand. Das zeigt sich im
kleinen wie im großen, man beobachte zum Beispiel, wie bei einem Straßen¬
unfug die Menge fast ausnahmslos gegen die Polizei eifert und Partei nimmt.
Dergleichen beruht ja noch auf andern Gründen, und die Polizei ist ja nicht
immer im Recht, aber uach dem Dnckdich sieht dieses Verhalten nicht ans,
auch nicht nach den bessern Formen von Fügsamkeit und Nuheliebe. Und
dann, selbst in ihren besten Formen siud die vielgerühmten Eigenschaften etwas
ganz andres als Gesetzesliebe, als wahre Gesetzesehrfurcht, denn diese rühren


Der Diktaturparagraph und das Sozialistengesetz

worden. Sie steigern sich von Jahr zu Jahr und gewinnen immer mehr an
Boden; auch unter uns Altdeutschen zählt er nur wenige überzeugte Anhänger.
Er müßte fallen, wenn das, was als „Volksstimme" laut wird, Gottesstimme
wäre. In Wirklichkeit handelt sichs jedoch um eine künstliche Strömung der
Geister, die durch lärmende Agitation aufgebauscht wird: die Bekämpfung ist
Modesache geworden, wer nicht anthut, wird verketzert und niedergeschrieen,
aber am sittlichen Ernst fehlt es ganz, und auch in die Tiefen des Volkslebens
dringt der Gegensatz nicht, abgesehen von den protestlerischen und sozial-
revolutionären Schichten. Andrerseits hat sich der Reichstag zweimal für Auf¬
hebung ausgesprochen; Antrüge ans Wiederholung dieser Beschlüsse werden nicht
ausbleiben. Dadurch wird der Diktaturparagraph wirklich gefährdet, es er¬
halten aber auch die Grüude und die Kampfweise seiner Gegner erhöhtes
Interesse. Außerdem greifen noch wichtige, wenn auch wenig bekannte oder
fast nur in falschem Licht dargestellte Verhältnisse unsers Landes ein. Endlich
fordern sowohl die Ähnlichkeiten mit der gegen das Sozialistcngesetz gerichteten
Bewegung als die Abweichungen davon zu ausführlicher Besprechung auf.

Am häufigsten sührt man an, der Diktaturpnragrciph sei gar nicht nötig,
denn die Fügsamkeit und die Nuheliebe unsrer Bevölkerung bürgten für die
Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Die genannte»
Eigenschaften sind in der That als Volkseigenschaften vorhanden und fallen
jedem auf, der in unser Land kommt. Mancher, der schon lange darin weilt,
dringt nicht tiefer ein, nicht unter die Oberfläche. Aber keine Regel schließt
Ausnahmen aus, diese Vvlkseigenschaften sind mehr leidender als thätiger Natur
und machen die Bevölkerung gegen Ausschreitende eher schwach als stark, und
an Anlaß zu Ausschreitungen fehlt es doch in keinem eroberten Lande. Wie
schon die schnelle Zunahme der Sozialdemokratie zeigt, sind auch die Fügsamkeit
und die Ruheliebe uicht im Wachsen; unsre ganze Art hilft weder in Worten
noch Werken dazu, den Grundstock zu vermehren. Zur französischen Zeit hat
das die Präfektenenergie gethan, und sie thut es in Frankreich bei dem größten
Teile der Bevölkerung noch jetzt, weil sich diese Energie unter allen Formen
des Regiments immer gleich bleibt und darum das Dnckdich in stets frischer
Übung erhält. Wir dagegen mit unsrer zagenden und zögernden Weise, die
für unsre Herrschaft über Elsaß-Lothringen fortwährend um Verzeihung zu
bitten scheint, wir ermutigen gerade zum Widerstand. Das zeigt sich im
kleinen wie im großen, man beobachte zum Beispiel, wie bei einem Straßen¬
unfug die Menge fast ausnahmslos gegen die Polizei eifert und Partei nimmt.
Dergleichen beruht ja noch auf andern Gründen, und die Polizei ist ja nicht
immer im Recht, aber uach dem Dnckdich sieht dieses Verhalten nicht ans,
auch nicht nach den bessern Formen von Fügsamkeit und Nuheliebe. Und
dann, selbst in ihren besten Formen siud die vielgerühmten Eigenschaften etwas
ganz andres als Gesetzesliebe, als wahre Gesetzesehrfurcht, denn diese rühren


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[0386] Der Diktaturparagraph und das Sozialistengesetz worden. Sie steigern sich von Jahr zu Jahr und gewinnen immer mehr an Boden; auch unter uns Altdeutschen zählt er nur wenige überzeugte Anhänger. Er müßte fallen, wenn das, was als „Volksstimme" laut wird, Gottesstimme wäre. In Wirklichkeit handelt sichs jedoch um eine künstliche Strömung der Geister, die durch lärmende Agitation aufgebauscht wird: die Bekämpfung ist Modesache geworden, wer nicht anthut, wird verketzert und niedergeschrieen, aber am sittlichen Ernst fehlt es ganz, und auch in die Tiefen des Volkslebens dringt der Gegensatz nicht, abgesehen von den protestlerischen und sozial- revolutionären Schichten. Andrerseits hat sich der Reichstag zweimal für Auf¬ hebung ausgesprochen; Antrüge ans Wiederholung dieser Beschlüsse werden nicht ausbleiben. Dadurch wird der Diktaturparagraph wirklich gefährdet, es er¬ halten aber auch die Grüude und die Kampfweise seiner Gegner erhöhtes Interesse. Außerdem greifen noch wichtige, wenn auch wenig bekannte oder fast nur in falschem Licht dargestellte Verhältnisse unsers Landes ein. Endlich fordern sowohl die Ähnlichkeiten mit der gegen das Sozialistcngesetz gerichteten Bewegung als die Abweichungen davon zu ausführlicher Besprechung auf. Am häufigsten sührt man an, der Diktaturpnragrciph sei gar nicht nötig, denn die Fügsamkeit und die Nuheliebe unsrer Bevölkerung bürgten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Die genannte» Eigenschaften sind in der That als Volkseigenschaften vorhanden und fallen jedem auf, der in unser Land kommt. Mancher, der schon lange darin weilt, dringt nicht tiefer ein, nicht unter die Oberfläche. Aber keine Regel schließt Ausnahmen aus, diese Vvlkseigenschaften sind mehr leidender als thätiger Natur und machen die Bevölkerung gegen Ausschreitende eher schwach als stark, und an Anlaß zu Ausschreitungen fehlt es doch in keinem eroberten Lande. Wie schon die schnelle Zunahme der Sozialdemokratie zeigt, sind auch die Fügsamkeit und die Ruheliebe uicht im Wachsen; unsre ganze Art hilft weder in Worten noch Werken dazu, den Grundstock zu vermehren. Zur französischen Zeit hat das die Präfektenenergie gethan, und sie thut es in Frankreich bei dem größten Teile der Bevölkerung noch jetzt, weil sich diese Energie unter allen Formen des Regiments immer gleich bleibt und darum das Dnckdich in stets frischer Übung erhält. Wir dagegen mit unsrer zagenden und zögernden Weise, die für unsre Herrschaft über Elsaß-Lothringen fortwährend um Verzeihung zu bitten scheint, wir ermutigen gerade zum Widerstand. Das zeigt sich im kleinen wie im großen, man beobachte zum Beispiel, wie bei einem Straßen¬ unfug die Menge fast ausnahmslos gegen die Polizei eifert und Partei nimmt. Dergleichen beruht ja noch auf andern Gründen, und die Polizei ist ja nicht immer im Recht, aber uach dem Dnckdich sieht dieses Verhalten nicht ans, auch nicht nach den bessern Formen von Fügsamkeit und Nuheliebe. Und dann, selbst in ihren besten Formen siud die vielgerühmten Eigenschaften etwas ganz andres als Gesetzesliebe, als wahre Gesetzesehrfurcht, denn diese rühren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/386>, abgerufen am 26.06.2024.