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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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John Gabriel Borkman

das eigentlich alle durchströmen müsse, "die das Glück hatten, diese Werke aus
dem mächtigen Haupt ihres Dichters hervorgehen zu sehen."

Betrachten wir uns nun das "Glück," das uns Ibsen mit seinem "John
Gabriel Borkman" ohne unser Verdienst und Würdigkeit beschieden hat, etwas
näher. Daß dieser Borkman, der dem Schauspiel seinen Namen gegeben hat,
ein Held sein würde, hat wohl niemand vorausgesetzt. Denn Helden giebt es
in Ibsens Schauspielen aus der modernen Gesellschaft, die angeblich die Nor¬
wegens sein soll, niemals. Bisher hat er sich aber meist mit solchen Männern
oder vielmehr Jammergestalten begnügt, die durch eine fixe Idee von einer
ruhigen Lebensbahn abgedrängt worden sind und in ihren Wahnvorstellungen
allerlei kleines und großes Unheil in ihrer Familie stiften. Es sind Narren,
die im Irrenhause nach Szepter und Krouen aus Goldpapier verlangen, und selig
sind, wenn man ihnen die schuldige Ehrfurcht erweist. Bisweilen wird anch
das Geschlecht gewechselt, und aus den vom Größenwahn befallnen Männern
macht der Dichter unverstmidne, hysterische Weiber, wie die "Frau vom Meere,"
wie Nora, wie Hedda Gabler, die, wie die Männer, mit einer großen, empha¬
tischen Phrase, die kein Mensch versteht, Hausirer und Anhänger werben.

Bei John Gabriel Borkman hat der Dichter eine neue Mischung ver¬
sucht. Er hat von dem Italiener Lombroso gelernt, daß Verbrechen und
Wahnsinn in den Gehirnen der Menschen dicht bei einander wohnen, und aus
dieser äußerst bequemen, noch dazu medizinisch beglaubigten Lehre, die alles
verzeiht, weil sie alles begreift, mußte der Typus eines Menschen konstruirt
werden, dessen Genie jedes Verbrechen, jede Gewaltthat, jede Sünde, auch die
Sünde "wider den heiligen Geist" entschuldigt. Ibsen ist aber seiner ganzen
dichterischen Anlage nach zu sehr Realist und Alltagsmensch, um sich zu wirklich
genialen Bösewichtern im Stile eines Macbeth und Richard III. aufzuraffen.
Selbst für einen Franz Moor ist seine Kraft zu schwach, wenn es ihm auch
nicht an der Fähigkeit gebricht, seinen Egoisten, Idioten, Narren und Ver¬
brechern ein reichliches Maß von Dialektik mit auf den Weg zu geben. Solch
ein Dialektiker ist auch John Gabriel Borkman, einer von der Sippe, ans
der Ibsen früher den Photographen Ettal (in der "Wildente") und den Bau¬
meister Solneß herausgegriffen hat. Borkman ist der Direktor einer großen
Bank gewesen. Er hat als solcher Unterschlagungen verübt, ist dabei ertappt
worden, und das Gericht hat ihn, nach Recht und Gesetz, zu mehrjähriger
Zuchthausstrafe verurteilt. Das wäre ein einfacher, leider alltäglicher Kriminal¬
fall. Aber Borkman spricht sich selbst frei, weil ihn die blinde Justitia
nur nach seinen Thaten, nicht nach seinen Beweggründen beurteilt hat. Der
Mann, der sich nachts in die Keller der Bank schleicht, um die dort geborgnen
Depots vertrauensseliger Menschen, die Ersparnisse armer Leute zu stehlen, ist
ein großer Idealist, ein Beglücker der Menschheit. Man höre nur oder lese
in der Buchausgabe des Schauspiels nach, was er eigentlich gewollt hat. Er


John Gabriel Borkman

das eigentlich alle durchströmen müsse, „die das Glück hatten, diese Werke aus
dem mächtigen Haupt ihres Dichters hervorgehen zu sehen."

Betrachten wir uns nun das „Glück," das uns Ibsen mit seinem „John
Gabriel Borkman" ohne unser Verdienst und Würdigkeit beschieden hat, etwas
näher. Daß dieser Borkman, der dem Schauspiel seinen Namen gegeben hat,
ein Held sein würde, hat wohl niemand vorausgesetzt. Denn Helden giebt es
in Ibsens Schauspielen aus der modernen Gesellschaft, die angeblich die Nor¬
wegens sein soll, niemals. Bisher hat er sich aber meist mit solchen Männern
oder vielmehr Jammergestalten begnügt, die durch eine fixe Idee von einer
ruhigen Lebensbahn abgedrängt worden sind und in ihren Wahnvorstellungen
allerlei kleines und großes Unheil in ihrer Familie stiften. Es sind Narren,
die im Irrenhause nach Szepter und Krouen aus Goldpapier verlangen, und selig
sind, wenn man ihnen die schuldige Ehrfurcht erweist. Bisweilen wird anch
das Geschlecht gewechselt, und aus den vom Größenwahn befallnen Männern
macht der Dichter unverstmidne, hysterische Weiber, wie die „Frau vom Meere,"
wie Nora, wie Hedda Gabler, die, wie die Männer, mit einer großen, empha¬
tischen Phrase, die kein Mensch versteht, Hausirer und Anhänger werben.

Bei John Gabriel Borkman hat der Dichter eine neue Mischung ver¬
sucht. Er hat von dem Italiener Lombroso gelernt, daß Verbrechen und
Wahnsinn in den Gehirnen der Menschen dicht bei einander wohnen, und aus
dieser äußerst bequemen, noch dazu medizinisch beglaubigten Lehre, die alles
verzeiht, weil sie alles begreift, mußte der Typus eines Menschen konstruirt
werden, dessen Genie jedes Verbrechen, jede Gewaltthat, jede Sünde, auch die
Sünde „wider den heiligen Geist" entschuldigt. Ibsen ist aber seiner ganzen
dichterischen Anlage nach zu sehr Realist und Alltagsmensch, um sich zu wirklich
genialen Bösewichtern im Stile eines Macbeth und Richard III. aufzuraffen.
Selbst für einen Franz Moor ist seine Kraft zu schwach, wenn es ihm auch
nicht an der Fähigkeit gebricht, seinen Egoisten, Idioten, Narren und Ver¬
brechern ein reichliches Maß von Dialektik mit auf den Weg zu geben. Solch
ein Dialektiker ist auch John Gabriel Borkman, einer von der Sippe, ans
der Ibsen früher den Photographen Ettal (in der „Wildente") und den Bau¬
meister Solneß herausgegriffen hat. Borkman ist der Direktor einer großen
Bank gewesen. Er hat als solcher Unterschlagungen verübt, ist dabei ertappt
worden, und das Gericht hat ihn, nach Recht und Gesetz, zu mehrjähriger
Zuchthausstrafe verurteilt. Das wäre ein einfacher, leider alltäglicher Kriminal¬
fall. Aber Borkman spricht sich selbst frei, weil ihn die blinde Justitia
nur nach seinen Thaten, nicht nach seinen Beweggründen beurteilt hat. Der
Mann, der sich nachts in die Keller der Bank schleicht, um die dort geborgnen
Depots vertrauensseliger Menschen, die Ersparnisse armer Leute zu stehlen, ist
ein großer Idealist, ein Beglücker der Menschheit. Man höre nur oder lese
in der Buchausgabe des Schauspiels nach, was er eigentlich gewollt hat. Er


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[0358] John Gabriel Borkman das eigentlich alle durchströmen müsse, „die das Glück hatten, diese Werke aus dem mächtigen Haupt ihres Dichters hervorgehen zu sehen." Betrachten wir uns nun das „Glück," das uns Ibsen mit seinem „John Gabriel Borkman" ohne unser Verdienst und Würdigkeit beschieden hat, etwas näher. Daß dieser Borkman, der dem Schauspiel seinen Namen gegeben hat, ein Held sein würde, hat wohl niemand vorausgesetzt. Denn Helden giebt es in Ibsens Schauspielen aus der modernen Gesellschaft, die angeblich die Nor¬ wegens sein soll, niemals. Bisher hat er sich aber meist mit solchen Männern oder vielmehr Jammergestalten begnügt, die durch eine fixe Idee von einer ruhigen Lebensbahn abgedrängt worden sind und in ihren Wahnvorstellungen allerlei kleines und großes Unheil in ihrer Familie stiften. Es sind Narren, die im Irrenhause nach Szepter und Krouen aus Goldpapier verlangen, und selig sind, wenn man ihnen die schuldige Ehrfurcht erweist. Bisweilen wird anch das Geschlecht gewechselt, und aus den vom Größenwahn befallnen Männern macht der Dichter unverstmidne, hysterische Weiber, wie die „Frau vom Meere," wie Nora, wie Hedda Gabler, die, wie die Männer, mit einer großen, empha¬ tischen Phrase, die kein Mensch versteht, Hausirer und Anhänger werben. Bei John Gabriel Borkman hat der Dichter eine neue Mischung ver¬ sucht. Er hat von dem Italiener Lombroso gelernt, daß Verbrechen und Wahnsinn in den Gehirnen der Menschen dicht bei einander wohnen, und aus dieser äußerst bequemen, noch dazu medizinisch beglaubigten Lehre, die alles verzeiht, weil sie alles begreift, mußte der Typus eines Menschen konstruirt werden, dessen Genie jedes Verbrechen, jede Gewaltthat, jede Sünde, auch die Sünde „wider den heiligen Geist" entschuldigt. Ibsen ist aber seiner ganzen dichterischen Anlage nach zu sehr Realist und Alltagsmensch, um sich zu wirklich genialen Bösewichtern im Stile eines Macbeth und Richard III. aufzuraffen. Selbst für einen Franz Moor ist seine Kraft zu schwach, wenn es ihm auch nicht an der Fähigkeit gebricht, seinen Egoisten, Idioten, Narren und Ver¬ brechern ein reichliches Maß von Dialektik mit auf den Weg zu geben. Solch ein Dialektiker ist auch John Gabriel Borkman, einer von der Sippe, ans der Ibsen früher den Photographen Ettal (in der „Wildente") und den Bau¬ meister Solneß herausgegriffen hat. Borkman ist der Direktor einer großen Bank gewesen. Er hat als solcher Unterschlagungen verübt, ist dabei ertappt worden, und das Gericht hat ihn, nach Recht und Gesetz, zu mehrjähriger Zuchthausstrafe verurteilt. Das wäre ein einfacher, leider alltäglicher Kriminal¬ fall. Aber Borkman spricht sich selbst frei, weil ihn die blinde Justitia nur nach seinen Thaten, nicht nach seinen Beweggründen beurteilt hat. Der Mann, der sich nachts in die Keller der Bank schleicht, um die dort geborgnen Depots vertrauensseliger Menschen, die Ersparnisse armer Leute zu stehlen, ist ein großer Idealist, ein Beglücker der Menschheit. Man höre nur oder lese in der Buchausgabe des Schauspiels nach, was er eigentlich gewollt hat. Er

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/358>, abgerufen am 26.06.2024.