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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Zur Kritik des Marxismus

werden konnte; wäre nicht der englische Bauern- und Pächterstand durch den
großen Landraub gewaltsam vernichtet worden, so hätte die Industrie die
billigen Arbeiter nicht gehabt, die es ihr möglich machten, die Industrien aller
andern Völker zu überflügeln.

Und wenn ich auf das zweierlei Recht hingewiesen habe, das bei uns
manchmal gesprochen wird, so ist es nicht geschehen, um gegen etwaige Un¬
gerechtigkeiten zu erbittern. Das Recht im juristischen Sinne ist nach Iherings
Definition das gesetzlich geschützte Interesse und hat mit der sittlichen Idee
der Gerechtigkeit sehr wenig zu schaffen. Der Widerspruch zwischen dem gel¬
tenden und dem ideellen Recht -- übrigens eine der Haupttriebfedern der histo¬
rischen Entwicklung -- zieht sich so beharrlich vom ersten Blatte der Welt¬
geschichte anzufangen durch sie hindurch, daß den Geschichtskundigen einzelne
Fälle der Gegenwart nicht mehr aufregen. Nicht den Widerspruch zwischen
dem geltenden und dem ideellen Recht habe ich zur Sprache gebracht, sondern
den Widerspruch zwischen dem geltenden Recht und seiner Anwendung, oder
Zwischen den Umwertungen dieses Rechts auf die Angehörigen verschiedner
Gesellschaftsklassen, um darau zu zeigen, wie unser Volksleben von zwei Strö¬
mungen beherrscht wird, die es nach entgegengesetzten Seiten hin auseinander¬
zerren. Die liberale Strömung entspricht der Verfassung, die die Rechts¬
gleichheit aller ungeflügelten Zwcifüßler ausspricht. Wenn mit dieser Rechts¬
gleichheit Ernst gemacht wird, dann dürfen die Behörden den Arbeiterkoalitionen
so wenig Schwierigkeiten bereiten wie den Unternehmerringen, und es ist klar,
daß sich dann bei der stetig anschwellenden Masse der Lohnarbeiter unsre Ge¬
sellschaft dem Kommunismus entgegen entwickelt. Indem nun die Gesetze den
Arbeitern gegenüber anders angewendet werden als den Besitzenden gegenüber,
so kommt darin die entgegengesetzte Strömung zum Vorschein, die auf Wieder-
herstellung der Standesunterschiede gerichtet ist. Das Verlangen nach einem
neuen Sozialisteugesetz beweist einen Mangel an Mut und Offenheit. Nicht
den politischen Umsturz fürchtet man, sondern die Unternehmer wollen, wie sie
das wieder beim Hamburger Aufstande so oft bekannt haben, Herren in ihrem
Hause oder vielmehr in ihren Werk- und Arbeitsstätten bleiben. Die Forderung,
daß das allgemeine gleiche Wahlrecht abgeschafft werde, klingt schon aufrichtiger,
aber was eigentlich angestrebt wird, das ist die Gesindeordnung für alle Lohn¬
arbeiter, die gesetzliche Wiederherstellung des Verhältnisses von Herr und Knecht
zwischen den Besitzenden und den Nichtbesitzenden.

Ich habe diese beiden Strömungen dargestellt, ohne Partei zu nehmen.
Ich schwärme nicht für jakobinische Freiheit und Gleichheit. Ich bin stets der
Ansicht Gibbons gewesen, daß ständische Gliederung die festeste Grundlage einer
verständig beschränkten Regierungsgewalt sei, und daß sich in der Forderung
völliger Gleichheit die Demokratie mit dem Despotismus berühre, "da es die
Majestät des Fürsten wie des Volkes beleidigt, wenn sich einige Häupter über


Zur Kritik des Marxismus

werden konnte; wäre nicht der englische Bauern- und Pächterstand durch den
großen Landraub gewaltsam vernichtet worden, so hätte die Industrie die
billigen Arbeiter nicht gehabt, die es ihr möglich machten, die Industrien aller
andern Völker zu überflügeln.

Und wenn ich auf das zweierlei Recht hingewiesen habe, das bei uns
manchmal gesprochen wird, so ist es nicht geschehen, um gegen etwaige Un¬
gerechtigkeiten zu erbittern. Das Recht im juristischen Sinne ist nach Iherings
Definition das gesetzlich geschützte Interesse und hat mit der sittlichen Idee
der Gerechtigkeit sehr wenig zu schaffen. Der Widerspruch zwischen dem gel¬
tenden und dem ideellen Recht — übrigens eine der Haupttriebfedern der histo¬
rischen Entwicklung — zieht sich so beharrlich vom ersten Blatte der Welt¬
geschichte anzufangen durch sie hindurch, daß den Geschichtskundigen einzelne
Fälle der Gegenwart nicht mehr aufregen. Nicht den Widerspruch zwischen
dem geltenden und dem ideellen Recht habe ich zur Sprache gebracht, sondern
den Widerspruch zwischen dem geltenden Recht und seiner Anwendung, oder
Zwischen den Umwertungen dieses Rechts auf die Angehörigen verschiedner
Gesellschaftsklassen, um darau zu zeigen, wie unser Volksleben von zwei Strö¬
mungen beherrscht wird, die es nach entgegengesetzten Seiten hin auseinander¬
zerren. Die liberale Strömung entspricht der Verfassung, die die Rechts¬
gleichheit aller ungeflügelten Zwcifüßler ausspricht. Wenn mit dieser Rechts¬
gleichheit Ernst gemacht wird, dann dürfen die Behörden den Arbeiterkoalitionen
so wenig Schwierigkeiten bereiten wie den Unternehmerringen, und es ist klar,
daß sich dann bei der stetig anschwellenden Masse der Lohnarbeiter unsre Ge¬
sellschaft dem Kommunismus entgegen entwickelt. Indem nun die Gesetze den
Arbeitern gegenüber anders angewendet werden als den Besitzenden gegenüber,
so kommt darin die entgegengesetzte Strömung zum Vorschein, die auf Wieder-
herstellung der Standesunterschiede gerichtet ist. Das Verlangen nach einem
neuen Sozialisteugesetz beweist einen Mangel an Mut und Offenheit. Nicht
den politischen Umsturz fürchtet man, sondern die Unternehmer wollen, wie sie
das wieder beim Hamburger Aufstande so oft bekannt haben, Herren in ihrem
Hause oder vielmehr in ihren Werk- und Arbeitsstätten bleiben. Die Forderung,
daß das allgemeine gleiche Wahlrecht abgeschafft werde, klingt schon aufrichtiger,
aber was eigentlich angestrebt wird, das ist die Gesindeordnung für alle Lohn¬
arbeiter, die gesetzliche Wiederherstellung des Verhältnisses von Herr und Knecht
zwischen den Besitzenden und den Nichtbesitzenden.

Ich habe diese beiden Strömungen dargestellt, ohne Partei zu nehmen.
Ich schwärme nicht für jakobinische Freiheit und Gleichheit. Ich bin stets der
Ansicht Gibbons gewesen, daß ständische Gliederung die festeste Grundlage einer
verständig beschränkten Regierungsgewalt sei, und daß sich in der Forderung
völliger Gleichheit die Demokratie mit dem Despotismus berühre, „da es die
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[0351] Zur Kritik des Marxismus werden konnte; wäre nicht der englische Bauern- und Pächterstand durch den großen Landraub gewaltsam vernichtet worden, so hätte die Industrie die billigen Arbeiter nicht gehabt, die es ihr möglich machten, die Industrien aller andern Völker zu überflügeln. Und wenn ich auf das zweierlei Recht hingewiesen habe, das bei uns manchmal gesprochen wird, so ist es nicht geschehen, um gegen etwaige Un¬ gerechtigkeiten zu erbittern. Das Recht im juristischen Sinne ist nach Iherings Definition das gesetzlich geschützte Interesse und hat mit der sittlichen Idee der Gerechtigkeit sehr wenig zu schaffen. Der Widerspruch zwischen dem gel¬ tenden und dem ideellen Recht — übrigens eine der Haupttriebfedern der histo¬ rischen Entwicklung — zieht sich so beharrlich vom ersten Blatte der Welt¬ geschichte anzufangen durch sie hindurch, daß den Geschichtskundigen einzelne Fälle der Gegenwart nicht mehr aufregen. Nicht den Widerspruch zwischen dem geltenden und dem ideellen Recht habe ich zur Sprache gebracht, sondern den Widerspruch zwischen dem geltenden Recht und seiner Anwendung, oder Zwischen den Umwertungen dieses Rechts auf die Angehörigen verschiedner Gesellschaftsklassen, um darau zu zeigen, wie unser Volksleben von zwei Strö¬ mungen beherrscht wird, die es nach entgegengesetzten Seiten hin auseinander¬ zerren. Die liberale Strömung entspricht der Verfassung, die die Rechts¬ gleichheit aller ungeflügelten Zwcifüßler ausspricht. Wenn mit dieser Rechts¬ gleichheit Ernst gemacht wird, dann dürfen die Behörden den Arbeiterkoalitionen so wenig Schwierigkeiten bereiten wie den Unternehmerringen, und es ist klar, daß sich dann bei der stetig anschwellenden Masse der Lohnarbeiter unsre Ge¬ sellschaft dem Kommunismus entgegen entwickelt. Indem nun die Gesetze den Arbeitern gegenüber anders angewendet werden als den Besitzenden gegenüber, so kommt darin die entgegengesetzte Strömung zum Vorschein, die auf Wieder- herstellung der Standesunterschiede gerichtet ist. Das Verlangen nach einem neuen Sozialisteugesetz beweist einen Mangel an Mut und Offenheit. Nicht den politischen Umsturz fürchtet man, sondern die Unternehmer wollen, wie sie das wieder beim Hamburger Aufstande so oft bekannt haben, Herren in ihrem Hause oder vielmehr in ihren Werk- und Arbeitsstätten bleiben. Die Forderung, daß das allgemeine gleiche Wahlrecht abgeschafft werde, klingt schon aufrichtiger, aber was eigentlich angestrebt wird, das ist die Gesindeordnung für alle Lohn¬ arbeiter, die gesetzliche Wiederherstellung des Verhältnisses von Herr und Knecht zwischen den Besitzenden und den Nichtbesitzenden. Ich habe diese beiden Strömungen dargestellt, ohne Partei zu nehmen. Ich schwärme nicht für jakobinische Freiheit und Gleichheit. Ich bin stets der Ansicht Gibbons gewesen, daß ständische Gliederung die festeste Grundlage einer verständig beschränkten Regierungsgewalt sei, und daß sich in der Forderung völliger Gleichheit die Demokratie mit dem Despotismus berühre, „da es die Majestät des Fürsten wie des Volkes beleidigt, wenn sich einige Häupter über

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/351>, abgerufen am 26.06.2024.