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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Zur Kritik des Marxismus

den Durchschnitt ihrer Mitsklaven oder Mitbürger erheben." Es ist wahr,
daß Rom mit dem Grundsatz völliger Rechtsgleichheit groß geworden ist.
Aber dem römischen Volke war dieser Grundsatz angeboren, während die Ger¬
manen niemals die abstrakte Rechtsgleichheit und Freiheit, sondern immer uur
ständische Rechte und Freiheiten gekannt haben. Vor allem aber: die Rechts¬
gleichheit galt ja nur für die Bürger, nicht für die Plebejer, die Halbbllrger,
die sie sich erst erkämpfen mußten, nicht für Ausländer, nicht für die unter-
worfnen Provinzen, und alle Arbeiter waren völlig rechtlose Sklaven. Über¬
dies waren, wie u. a. Jhering zeigt, die römischen Juristen den unsrigen weit
überlegen in der Geschicklichkeit, den Buchstaben des Gesetzes den wechselnden
Anforderungen des Lebens anzupassen. Abgesehen von den Bedürfnissen des
Staats widersprechen anch Abhüngigkeitsverhältnisfe weder meinem persönlichen
Geschmack noch meinen sittlichen Anschauungen. Ich finde die Pietätsverhält-
nisfe, die sich zwischen Herren und Knechten entwickeln, weit schöner als das
Schächern und Feilschen um die Bedingungen des freien Arbeitsvertrags; ich
sehe, daß es viele tausend Menschen giebt, die zeitlebens unselbständig, große
Kinder bleiben, mit ihrer Freiheit nichts anzufangen wissen, und von denen
viele nur darum im Zuchthause oder auf der Landstraße umkommen, weil sie
keinen Herrn gehabt haben, der ihnen ihr Tagewerk vorgeschrieben und dafür
Wohnung, Kost und Kleidung gereicht hätte. Ich weiß endlich, daß das
klassische Altertum sowohl vou deu christlichen Apologeten wie von den auf
unsre moderne Bildung stolzen Liberalen und den Sozialdemokraten verleumdet
wird, und daß es dessen Sklaven durchschnittlich nicht schlechter und in mancher
Beziehung besser gehabt haben als unsre Lohnarbeiter. Da nnn die ständische
Gliederung, die den verschiednen Stünden verschiedne Rechte und Freiheiten in
ungleichen Graden maaß, dafür aber auch dem Angehörigen jedes Standes
sein Recht, seine Freiheit und dazu seine Ehre sicherte, da diese Gliederung so
gründlich zerstört ist, daß sie sich kaum wiederherstellen lassen wird, so würde
eine Wiederherstellung gesetzlicher Nechtsungleichheiten und Abhängigkeitsver¬
hältnisse wahrscheinlich nichts andres sein, als die gesetzliche Anerkennung des
thatsächlichen Zustands, wonach die heutige Gesellschaft, abgesehen vom Be¬
amtentum, in besitzende Freie und besitzlose Abhängige gespalten ist. Den Ab¬
hängigen für eine rechtlose Sache zu erklären, das wird freilich kein Gesetzgeber
mehr wagen, aber gegen die Wiederherstellung von Hörigkeitsverhältnissen Hütte
ich nichts einzuwenden, vorausgesetzt, daß die Herren mit den Herrenrechten
anch die Herrenpflichten wieder übernehmen, wozu u. ni. die gehört, dem Knecht
und seiner Familie den Unterhalt auch dann zu gewähren, wenn man keine
Arbeit für ihn hat, und daß unser Herrenstand entweder von jener Humanität
beseelt ist, die dem ionischen Zweige der Hellenen angeboren war, oder von
jener christlichen Gesinnung, die man in christlichen Zeiten hie und da bei
Herren gefunden hat und bei manchen, zu denen ich den Freiherrn von Stumm


Zur Kritik des Marxismus

den Durchschnitt ihrer Mitsklaven oder Mitbürger erheben." Es ist wahr,
daß Rom mit dem Grundsatz völliger Rechtsgleichheit groß geworden ist.
Aber dem römischen Volke war dieser Grundsatz angeboren, während die Ger¬
manen niemals die abstrakte Rechtsgleichheit und Freiheit, sondern immer uur
ständische Rechte und Freiheiten gekannt haben. Vor allem aber: die Rechts¬
gleichheit galt ja nur für die Bürger, nicht für die Plebejer, die Halbbllrger,
die sie sich erst erkämpfen mußten, nicht für Ausländer, nicht für die unter-
worfnen Provinzen, und alle Arbeiter waren völlig rechtlose Sklaven. Über¬
dies waren, wie u. a. Jhering zeigt, die römischen Juristen den unsrigen weit
überlegen in der Geschicklichkeit, den Buchstaben des Gesetzes den wechselnden
Anforderungen des Lebens anzupassen. Abgesehen von den Bedürfnissen des
Staats widersprechen anch Abhüngigkeitsverhältnisfe weder meinem persönlichen
Geschmack noch meinen sittlichen Anschauungen. Ich finde die Pietätsverhält-
nisfe, die sich zwischen Herren und Knechten entwickeln, weit schöner als das
Schächern und Feilschen um die Bedingungen des freien Arbeitsvertrags; ich
sehe, daß es viele tausend Menschen giebt, die zeitlebens unselbständig, große
Kinder bleiben, mit ihrer Freiheit nichts anzufangen wissen, und von denen
viele nur darum im Zuchthause oder auf der Landstraße umkommen, weil sie
keinen Herrn gehabt haben, der ihnen ihr Tagewerk vorgeschrieben und dafür
Wohnung, Kost und Kleidung gereicht hätte. Ich weiß endlich, daß das
klassische Altertum sowohl vou deu christlichen Apologeten wie von den auf
unsre moderne Bildung stolzen Liberalen und den Sozialdemokraten verleumdet
wird, und daß es dessen Sklaven durchschnittlich nicht schlechter und in mancher
Beziehung besser gehabt haben als unsre Lohnarbeiter. Da nnn die ständische
Gliederung, die den verschiednen Stünden verschiedne Rechte und Freiheiten in
ungleichen Graden maaß, dafür aber auch dem Angehörigen jedes Standes
sein Recht, seine Freiheit und dazu seine Ehre sicherte, da diese Gliederung so
gründlich zerstört ist, daß sie sich kaum wiederherstellen lassen wird, so würde
eine Wiederherstellung gesetzlicher Nechtsungleichheiten und Abhängigkeitsver¬
hältnisse wahrscheinlich nichts andres sein, als die gesetzliche Anerkennung des
thatsächlichen Zustands, wonach die heutige Gesellschaft, abgesehen vom Be¬
amtentum, in besitzende Freie und besitzlose Abhängige gespalten ist. Den Ab¬
hängigen für eine rechtlose Sache zu erklären, das wird freilich kein Gesetzgeber
mehr wagen, aber gegen die Wiederherstellung von Hörigkeitsverhältnissen Hütte
ich nichts einzuwenden, vorausgesetzt, daß die Herren mit den Herrenrechten
anch die Herrenpflichten wieder übernehmen, wozu u. ni. die gehört, dem Knecht
und seiner Familie den Unterhalt auch dann zu gewähren, wenn man keine
Arbeit für ihn hat, und daß unser Herrenstand entweder von jener Humanität
beseelt ist, die dem ionischen Zweige der Hellenen angeboren war, oder von
jener christlichen Gesinnung, die man in christlichen Zeiten hie und da bei
Herren gefunden hat und bei manchen, zu denen ich den Freiherrn von Stumm


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[0352] Zur Kritik des Marxismus den Durchschnitt ihrer Mitsklaven oder Mitbürger erheben." Es ist wahr, daß Rom mit dem Grundsatz völliger Rechtsgleichheit groß geworden ist. Aber dem römischen Volke war dieser Grundsatz angeboren, während die Ger¬ manen niemals die abstrakte Rechtsgleichheit und Freiheit, sondern immer uur ständische Rechte und Freiheiten gekannt haben. Vor allem aber: die Rechts¬ gleichheit galt ja nur für die Bürger, nicht für die Plebejer, die Halbbllrger, die sie sich erst erkämpfen mußten, nicht für Ausländer, nicht für die unter- worfnen Provinzen, und alle Arbeiter waren völlig rechtlose Sklaven. Über¬ dies waren, wie u. a. Jhering zeigt, die römischen Juristen den unsrigen weit überlegen in der Geschicklichkeit, den Buchstaben des Gesetzes den wechselnden Anforderungen des Lebens anzupassen. Abgesehen von den Bedürfnissen des Staats widersprechen anch Abhüngigkeitsverhältnisfe weder meinem persönlichen Geschmack noch meinen sittlichen Anschauungen. Ich finde die Pietätsverhält- nisfe, die sich zwischen Herren und Knechten entwickeln, weit schöner als das Schächern und Feilschen um die Bedingungen des freien Arbeitsvertrags; ich sehe, daß es viele tausend Menschen giebt, die zeitlebens unselbständig, große Kinder bleiben, mit ihrer Freiheit nichts anzufangen wissen, und von denen viele nur darum im Zuchthause oder auf der Landstraße umkommen, weil sie keinen Herrn gehabt haben, der ihnen ihr Tagewerk vorgeschrieben und dafür Wohnung, Kost und Kleidung gereicht hätte. Ich weiß endlich, daß das klassische Altertum sowohl vou deu christlichen Apologeten wie von den auf unsre moderne Bildung stolzen Liberalen und den Sozialdemokraten verleumdet wird, und daß es dessen Sklaven durchschnittlich nicht schlechter und in mancher Beziehung besser gehabt haben als unsre Lohnarbeiter. Da nnn die ständische Gliederung, die den verschiednen Stünden verschiedne Rechte und Freiheiten in ungleichen Graden maaß, dafür aber auch dem Angehörigen jedes Standes sein Recht, seine Freiheit und dazu seine Ehre sicherte, da diese Gliederung so gründlich zerstört ist, daß sie sich kaum wiederherstellen lassen wird, so würde eine Wiederherstellung gesetzlicher Nechtsungleichheiten und Abhängigkeitsver¬ hältnisse wahrscheinlich nichts andres sein, als die gesetzliche Anerkennung des thatsächlichen Zustands, wonach die heutige Gesellschaft, abgesehen vom Be¬ amtentum, in besitzende Freie und besitzlose Abhängige gespalten ist. Den Ab¬ hängigen für eine rechtlose Sache zu erklären, das wird freilich kein Gesetzgeber mehr wagen, aber gegen die Wiederherstellung von Hörigkeitsverhältnissen Hütte ich nichts einzuwenden, vorausgesetzt, daß die Herren mit den Herrenrechten anch die Herrenpflichten wieder übernehmen, wozu u. ni. die gehört, dem Knecht und seiner Familie den Unterhalt auch dann zu gewähren, wenn man keine Arbeit für ihn hat, und daß unser Herrenstand entweder von jener Humanität beseelt ist, die dem ionischen Zweige der Hellenen angeboren war, oder von jener christlichen Gesinnung, die man in christlichen Zeiten hie und da bei Herren gefunden hat und bei manchen, zu denen ich den Freiherrn von Stumm

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/352>, abgerufen am 26.06.2024.