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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Zur Kritik des Marxismus

auch an solchen Hetzern niemals fehlen würde, selbst wenn man jährlich einigen
hundert die Köpfe abschlüge, daß es also eine mehr als kindliche Vorstellung
ist, man könne die Bewegung durch Polizcimnßrcgeln unterdrücken oder die
Unzufriednen mit religiösem Zuspruch und patriotischen Traktätlein bekehren.
Die Wahrheit ist den Herrschenden stets unangenehm und unbequem, deshalb
suchen sie sie zu verbergen, und wer ihnen dabei hilft, hat Belohnung zu er¬
warten. Unter der Überschrift "Neue Ziele, neue Wege" habe ich vor drei
Jahren die Mittel beschrieben, die ihnen dabei zur Verfügung stehen. Heut¬
zutage sind Hunderte von Soldschreibern jederzeit bereit, den Mächtigen Augen¬
binden und gefärbte Brillen zu liefern. Da ist es denn heilige Pflicht für den
unabhängigen Publizisten, den Herren diese Binden und Brillen abzunehmen;
o ^er" ^"^^/"g sagt Clemens Alexandrinus am Schlüsse
seines Pädagogus. Zweitens weise ich auf die gedrückten Glieder unsers Volkes
hin, weil ihr Zustand auf den Gesundheitszustand des ganzen Volkskörpers
schließen läßt; Krankheiten kommen immer an den Stellen zum Vorschein, deren
Widerstandskraft am geringsten ist. Es ist ein ganz thörichtes Gerede, daß es
immer Arme und Elende gegeben habe und immer geben werde. Wahr ist das
freilich, aber es gehört nicht zur Sache. Denn hier handelt es sich nicht um
noch so viele einzelne Arme und Elende, sondern um eine Gesellschaftsverfassung,
die einen zahlreichen Stand von Armen und Elenden zur Daseinsbedingnng
hat, darum, daß ein großer Teil des Volkes vou der Industrie lebt, die In¬
dustrie selbst aber nicht am Leben bleiben kann ohne niedrige Arbeitslöhne und
sonstige harte Arbeitsbedingungen. Es giebt Arbeitsarten von solcher Härte,
daß sie im alten Griechenland höchstens einem wegen Verbrechen verurteilten
Sklaven auferlegt worden wären -- der Dienst der Nudersklaveu war kaum
so hart, wie der der Kvhlcnzieher auf manchen großen Dampfern ist --, und wenn
sich dennoch auch für solche Dienste noch "Freiwillige" finden, vou denen dann
freilich sehr viele durch Selbstmord ihrer Pein entfliehen, so ist das ein Be¬
weis für einen allgemein verbreiteten Druck großer Not, der auch die mittlern
Schichten bedroht. Ich habe mich niemals der geschmacklosen Übertreibung
der Zünftler und der Agrarier schuldig gemacht, die uns täglich die gräßliche
Not aller Rittergutsbesitzer, Bauern und Handwerksmeister ausmalen, aber ich
habe allerdings zu beweisen gesucht, daß sich aus dein auf der untersten Schicht
lastenden Druck der Druck berechnen lasse, dem die mittlern unterworfen sind,
und daß ohne Grenzerweiterung die mittlern Schichten der produktiven Staude
allmählich dem Prvletarierelend verfallen müssen. Dieses Elend ist, wie
Sombart schreibt, der Schatten des Kapitalismus, und wie ich bewiesen zu
haben glaube, seine Lebensbedingung. Es gehört mit zu den Hauptverdiensten
Marxens -- das hebt keine der drei besprochnen Schriften hervor --, bewiesen
zu haben, daß die kapitalistische Großindustrie Englands nur durch die Trennung
der Arbeiter von dem notwendigsten aller Arbeitsmittel, vom Boden, begründet


Zur Kritik des Marxismus

auch an solchen Hetzern niemals fehlen würde, selbst wenn man jährlich einigen
hundert die Köpfe abschlüge, daß es also eine mehr als kindliche Vorstellung
ist, man könne die Bewegung durch Polizcimnßrcgeln unterdrücken oder die
Unzufriednen mit religiösem Zuspruch und patriotischen Traktätlein bekehren.
Die Wahrheit ist den Herrschenden stets unangenehm und unbequem, deshalb
suchen sie sie zu verbergen, und wer ihnen dabei hilft, hat Belohnung zu er¬
warten. Unter der Überschrift „Neue Ziele, neue Wege" habe ich vor drei
Jahren die Mittel beschrieben, die ihnen dabei zur Verfügung stehen. Heut¬
zutage sind Hunderte von Soldschreibern jederzeit bereit, den Mächtigen Augen¬
binden und gefärbte Brillen zu liefern. Da ist es denn heilige Pflicht für den
unabhängigen Publizisten, den Herren diese Binden und Brillen abzunehmen;
o ^er« ^«^^/«g sagt Clemens Alexandrinus am Schlüsse
seines Pädagogus. Zweitens weise ich auf die gedrückten Glieder unsers Volkes
hin, weil ihr Zustand auf den Gesundheitszustand des ganzen Volkskörpers
schließen läßt; Krankheiten kommen immer an den Stellen zum Vorschein, deren
Widerstandskraft am geringsten ist. Es ist ein ganz thörichtes Gerede, daß es
immer Arme und Elende gegeben habe und immer geben werde. Wahr ist das
freilich, aber es gehört nicht zur Sache. Denn hier handelt es sich nicht um
noch so viele einzelne Arme und Elende, sondern um eine Gesellschaftsverfassung,
die einen zahlreichen Stand von Armen und Elenden zur Daseinsbedingnng
hat, darum, daß ein großer Teil des Volkes vou der Industrie lebt, die In¬
dustrie selbst aber nicht am Leben bleiben kann ohne niedrige Arbeitslöhne und
sonstige harte Arbeitsbedingungen. Es giebt Arbeitsarten von solcher Härte,
daß sie im alten Griechenland höchstens einem wegen Verbrechen verurteilten
Sklaven auferlegt worden wären — der Dienst der Nudersklaveu war kaum
so hart, wie der der Kvhlcnzieher auf manchen großen Dampfern ist —, und wenn
sich dennoch auch für solche Dienste noch „Freiwillige" finden, vou denen dann
freilich sehr viele durch Selbstmord ihrer Pein entfliehen, so ist das ein Be¬
weis für einen allgemein verbreiteten Druck großer Not, der auch die mittlern
Schichten bedroht. Ich habe mich niemals der geschmacklosen Übertreibung
der Zünftler und der Agrarier schuldig gemacht, die uns täglich die gräßliche
Not aller Rittergutsbesitzer, Bauern und Handwerksmeister ausmalen, aber ich
habe allerdings zu beweisen gesucht, daß sich aus dein auf der untersten Schicht
lastenden Druck der Druck berechnen lasse, dem die mittlern unterworfen sind,
und daß ohne Grenzerweiterung die mittlern Schichten der produktiven Staude
allmählich dem Prvletarierelend verfallen müssen. Dieses Elend ist, wie
Sombart schreibt, der Schatten des Kapitalismus, und wie ich bewiesen zu
haben glaube, seine Lebensbedingung. Es gehört mit zu den Hauptverdiensten
Marxens — das hebt keine der drei besprochnen Schriften hervor —, bewiesen
zu haben, daß die kapitalistische Großindustrie Englands nur durch die Trennung
der Arbeiter von dem notwendigsten aller Arbeitsmittel, vom Boden, begründet


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[0350] Zur Kritik des Marxismus auch an solchen Hetzern niemals fehlen würde, selbst wenn man jährlich einigen hundert die Köpfe abschlüge, daß es also eine mehr als kindliche Vorstellung ist, man könne die Bewegung durch Polizcimnßrcgeln unterdrücken oder die Unzufriednen mit religiösem Zuspruch und patriotischen Traktätlein bekehren. Die Wahrheit ist den Herrschenden stets unangenehm und unbequem, deshalb suchen sie sie zu verbergen, und wer ihnen dabei hilft, hat Belohnung zu er¬ warten. Unter der Überschrift „Neue Ziele, neue Wege" habe ich vor drei Jahren die Mittel beschrieben, die ihnen dabei zur Verfügung stehen. Heut¬ zutage sind Hunderte von Soldschreibern jederzeit bereit, den Mächtigen Augen¬ binden und gefärbte Brillen zu liefern. Da ist es denn heilige Pflicht für den unabhängigen Publizisten, den Herren diese Binden und Brillen abzunehmen; o ^er« ^«^^/«g sagt Clemens Alexandrinus am Schlüsse seines Pädagogus. Zweitens weise ich auf die gedrückten Glieder unsers Volkes hin, weil ihr Zustand auf den Gesundheitszustand des ganzen Volkskörpers schließen läßt; Krankheiten kommen immer an den Stellen zum Vorschein, deren Widerstandskraft am geringsten ist. Es ist ein ganz thörichtes Gerede, daß es immer Arme und Elende gegeben habe und immer geben werde. Wahr ist das freilich, aber es gehört nicht zur Sache. Denn hier handelt es sich nicht um noch so viele einzelne Arme und Elende, sondern um eine Gesellschaftsverfassung, die einen zahlreichen Stand von Armen und Elenden zur Daseinsbedingnng hat, darum, daß ein großer Teil des Volkes vou der Industrie lebt, die In¬ dustrie selbst aber nicht am Leben bleiben kann ohne niedrige Arbeitslöhne und sonstige harte Arbeitsbedingungen. Es giebt Arbeitsarten von solcher Härte, daß sie im alten Griechenland höchstens einem wegen Verbrechen verurteilten Sklaven auferlegt worden wären — der Dienst der Nudersklaveu war kaum so hart, wie der der Kvhlcnzieher auf manchen großen Dampfern ist —, und wenn sich dennoch auch für solche Dienste noch „Freiwillige" finden, vou denen dann freilich sehr viele durch Selbstmord ihrer Pein entfliehen, so ist das ein Be¬ weis für einen allgemein verbreiteten Druck großer Not, der auch die mittlern Schichten bedroht. Ich habe mich niemals der geschmacklosen Übertreibung der Zünftler und der Agrarier schuldig gemacht, die uns täglich die gräßliche Not aller Rittergutsbesitzer, Bauern und Handwerksmeister ausmalen, aber ich habe allerdings zu beweisen gesucht, daß sich aus dein auf der untersten Schicht lastenden Druck der Druck berechnen lasse, dem die mittlern unterworfen sind, und daß ohne Grenzerweiterung die mittlern Schichten der produktiven Staude allmählich dem Prvletarierelend verfallen müssen. Dieses Elend ist, wie Sombart schreibt, der Schatten des Kapitalismus, und wie ich bewiesen zu haben glaube, seine Lebensbedingung. Es gehört mit zu den Hauptverdiensten Marxens — das hebt keine der drei besprochnen Schriften hervor —, bewiesen zu haben, daß die kapitalistische Großindustrie Englands nur durch die Trennung der Arbeiter von dem notwendigsten aller Arbeitsmittel, vom Boden, begründet

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/350>, abgerufen am 26.06.2024.