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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Zur Kritik des Marxismus

den uns die mit Maschinen betriebne Großindustrie gebracht hat, besteht darin,
daß das Bedürfnis an gewöhnlichen Gegenständen des Massenverbrauchs leicht
und wohlfeil befriedigt werden kann, daß dem Verkehr, der Beleuchtung, der
Wasserversorgung die vollkommensten Hilfsmittel zur Verfügung stehen, daß
Maschinen dem Handwerker, dem Künstler die Rohstoffe vorbereiten, daß Bc-
wegungskräfte in den Dienst des Menschen gestellt werden, die auch in kleinen
Betrieben benutzt werden können. Diese kleinen Betriebe selbst bleiben dort,
wo sie einen feinern Geschmack befriedigen oder sich individuellen Bedürfnissen
vollkommner und leichter anschmiegen als große, durchaus daseinsberechtigt.
Der Vogel ist im Naturhaushalt dadurch nicht überflüssig geworden, daß das
Säugetier auftrat, und der Vogel ist in seiner Art ein ebenso vollkommnes
Wesen wie das Säugetier, er lebt neben diesem fort, wie das Moos neben
der Eiche. Daß die organischen und die Gesellschaftsformen nach einander
auftreten, ist richtig, ebenso, daß die eine oder die andre Form für eine ge¬
wisse Periode charakteristisch ist; ein Irrtum aber ist es, zu glauben, die neue
charakteristische Form müsse alle ältern Formen verdrängen; die Formen folgen
nicht nach dem Hegelschen Schema periodenweise ans einander, sondern treten
neben einander. Der Kapitalismus ist, in einer etwas andern Form, schon
i" der antiken Welt dagewesen. Weit ähnlicher der heutigen Zeit, weil nicht
mit Sklavenwirtschaft, sondern mit freier Lohnarbeit, in den mittelalterlichen
Städten, besonders in den italienischen. Italien ist in den letzten drei Jahr¬
hunderten beinahe auf die Stufe des Agrikulturstaats zurückgesunken, während
der Nordwesten Europas die modernsten Formen des Kapitalismus ausbildete,
und in jedem Staate der zivilistrten Welt finden wir eine andre Mischung
älterer und neuerer Wirtschaftsformen. Freilich kommt es hie und da vor,
daß ältere, an sich durchaus daseiusberechtigte Formen aussterben oder vertilgt
werden, in der Natur so gut wie in der Gesellschaft; so sind manche Cedern-
nrten vertilgt worden, so in England der Banernstnnd. Ein Fortschritt ist
das nicht, und notwendig ist es anch nicht. Auch bei uns in Deutschland
wird der Vauerustand verschwinden, wenn die Agrarier zur unbestrittnen
Herrschaft gelangen. Denn, wie ich oft gezeigt habe, die Überschuldung des
Grundbesitzes, die bei Übervölkerung notwendig eintritt und den kleinern Grund¬
besitz erdrückt, kann nur durch stetigen Abfluß des Überschusses des bäuerlichen
Nachwuchses in Ansiedlnngsgebiete abgewendet werden, wo dieser Nachwuchs
ohne Belastung der heimischen Stammgüter mit billigem Acker versorgt wird.
Die Agrarier wollen durch künstliche Verteuerung der Bodenerzeugnisse, also
^r Grundrente, also der Landgüter helfen, d. h. durch immerwährende gewalt¬
same Wiedererzeugung der Ursache, die den Grundbesitzer von seinem Hofe
treibt. Indem dabei zugleich die überschüssige Nachkommenschaft der Bauern
>w Lande bleibt, die Reihen der Handwerker, der Industriearbeiter und der
Anwärter auf Ämter verstärkt, denen das Leben erschwert, dadurch den auf


Zur Kritik des Marxismus

den uns die mit Maschinen betriebne Großindustrie gebracht hat, besteht darin,
daß das Bedürfnis an gewöhnlichen Gegenständen des Massenverbrauchs leicht
und wohlfeil befriedigt werden kann, daß dem Verkehr, der Beleuchtung, der
Wasserversorgung die vollkommensten Hilfsmittel zur Verfügung stehen, daß
Maschinen dem Handwerker, dem Künstler die Rohstoffe vorbereiten, daß Bc-
wegungskräfte in den Dienst des Menschen gestellt werden, die auch in kleinen
Betrieben benutzt werden können. Diese kleinen Betriebe selbst bleiben dort,
wo sie einen feinern Geschmack befriedigen oder sich individuellen Bedürfnissen
vollkommner und leichter anschmiegen als große, durchaus daseinsberechtigt.
Der Vogel ist im Naturhaushalt dadurch nicht überflüssig geworden, daß das
Säugetier auftrat, und der Vogel ist in seiner Art ein ebenso vollkommnes
Wesen wie das Säugetier, er lebt neben diesem fort, wie das Moos neben
der Eiche. Daß die organischen und die Gesellschaftsformen nach einander
auftreten, ist richtig, ebenso, daß die eine oder die andre Form für eine ge¬
wisse Periode charakteristisch ist; ein Irrtum aber ist es, zu glauben, die neue
charakteristische Form müsse alle ältern Formen verdrängen; die Formen folgen
nicht nach dem Hegelschen Schema periodenweise ans einander, sondern treten
neben einander. Der Kapitalismus ist, in einer etwas andern Form, schon
i» der antiken Welt dagewesen. Weit ähnlicher der heutigen Zeit, weil nicht
mit Sklavenwirtschaft, sondern mit freier Lohnarbeit, in den mittelalterlichen
Städten, besonders in den italienischen. Italien ist in den letzten drei Jahr¬
hunderten beinahe auf die Stufe des Agrikulturstaats zurückgesunken, während
der Nordwesten Europas die modernsten Formen des Kapitalismus ausbildete,
und in jedem Staate der zivilistrten Welt finden wir eine andre Mischung
älterer und neuerer Wirtschaftsformen. Freilich kommt es hie und da vor,
daß ältere, an sich durchaus daseiusberechtigte Formen aussterben oder vertilgt
werden, in der Natur so gut wie in der Gesellschaft; so sind manche Cedern-
nrten vertilgt worden, so in England der Banernstnnd. Ein Fortschritt ist
das nicht, und notwendig ist es anch nicht. Auch bei uns in Deutschland
wird der Vauerustand verschwinden, wenn die Agrarier zur unbestrittnen
Herrschaft gelangen. Denn, wie ich oft gezeigt habe, die Überschuldung des
Grundbesitzes, die bei Übervölkerung notwendig eintritt und den kleinern Grund¬
besitz erdrückt, kann nur durch stetigen Abfluß des Überschusses des bäuerlichen
Nachwuchses in Ansiedlnngsgebiete abgewendet werden, wo dieser Nachwuchs
ohne Belastung der heimischen Stammgüter mit billigem Acker versorgt wird.
Die Agrarier wollen durch künstliche Verteuerung der Bodenerzeugnisse, also
^r Grundrente, also der Landgüter helfen, d. h. durch immerwährende gewalt¬
same Wiedererzeugung der Ursache, die den Grundbesitzer von seinem Hofe
treibt. Indem dabei zugleich die überschüssige Nachkommenschaft der Bauern
>w Lande bleibt, die Reihen der Handwerker, der Industriearbeiter und der
Anwärter auf Ämter verstärkt, denen das Leben erschwert, dadurch den auf


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[0347] Zur Kritik des Marxismus den uns die mit Maschinen betriebne Großindustrie gebracht hat, besteht darin, daß das Bedürfnis an gewöhnlichen Gegenständen des Massenverbrauchs leicht und wohlfeil befriedigt werden kann, daß dem Verkehr, der Beleuchtung, der Wasserversorgung die vollkommensten Hilfsmittel zur Verfügung stehen, daß Maschinen dem Handwerker, dem Künstler die Rohstoffe vorbereiten, daß Bc- wegungskräfte in den Dienst des Menschen gestellt werden, die auch in kleinen Betrieben benutzt werden können. Diese kleinen Betriebe selbst bleiben dort, wo sie einen feinern Geschmack befriedigen oder sich individuellen Bedürfnissen vollkommner und leichter anschmiegen als große, durchaus daseinsberechtigt. Der Vogel ist im Naturhaushalt dadurch nicht überflüssig geworden, daß das Säugetier auftrat, und der Vogel ist in seiner Art ein ebenso vollkommnes Wesen wie das Säugetier, er lebt neben diesem fort, wie das Moos neben der Eiche. Daß die organischen und die Gesellschaftsformen nach einander auftreten, ist richtig, ebenso, daß die eine oder die andre Form für eine ge¬ wisse Periode charakteristisch ist; ein Irrtum aber ist es, zu glauben, die neue charakteristische Form müsse alle ältern Formen verdrängen; die Formen folgen nicht nach dem Hegelschen Schema periodenweise ans einander, sondern treten neben einander. Der Kapitalismus ist, in einer etwas andern Form, schon i» der antiken Welt dagewesen. Weit ähnlicher der heutigen Zeit, weil nicht mit Sklavenwirtschaft, sondern mit freier Lohnarbeit, in den mittelalterlichen Städten, besonders in den italienischen. Italien ist in den letzten drei Jahr¬ hunderten beinahe auf die Stufe des Agrikulturstaats zurückgesunken, während der Nordwesten Europas die modernsten Formen des Kapitalismus ausbildete, und in jedem Staate der zivilistrten Welt finden wir eine andre Mischung älterer und neuerer Wirtschaftsformen. Freilich kommt es hie und da vor, daß ältere, an sich durchaus daseiusberechtigte Formen aussterben oder vertilgt werden, in der Natur so gut wie in der Gesellschaft; so sind manche Cedern- nrten vertilgt worden, so in England der Banernstnnd. Ein Fortschritt ist das nicht, und notwendig ist es anch nicht. Auch bei uns in Deutschland wird der Vauerustand verschwinden, wenn die Agrarier zur unbestrittnen Herrschaft gelangen. Denn, wie ich oft gezeigt habe, die Überschuldung des Grundbesitzes, die bei Übervölkerung notwendig eintritt und den kleinern Grund¬ besitz erdrückt, kann nur durch stetigen Abfluß des Überschusses des bäuerlichen Nachwuchses in Ansiedlnngsgebiete abgewendet werden, wo dieser Nachwuchs ohne Belastung der heimischen Stammgüter mit billigem Acker versorgt wird. Die Agrarier wollen durch künstliche Verteuerung der Bodenerzeugnisse, also ^r Grundrente, also der Landgüter helfen, d. h. durch immerwährende gewalt¬ same Wiedererzeugung der Ursache, die den Grundbesitzer von seinem Hofe treibt. Indem dabei zugleich die überschüssige Nachkommenschaft der Bauern >w Lande bleibt, die Reihen der Handwerker, der Industriearbeiter und der Anwärter auf Ämter verstärkt, denen das Leben erschwert, dadurch den auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/347>, abgerufen am 26.06.2024.