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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Zur Kritik des Marxismus

lichen Existenzen mit umfassen und dann unser Programm dahin abändern,
daß wir von dem gemeinwirtschaftlichen Ziele Abstand nehmen, oder aber sollen
wir proletarisch bleiben, dieses gemeinwirtschaftliche Ideal und Ziel im Auge
behalten und dann jene Elemente von unsrer Bewegung ausschließen? In
diesem Falle ^nämlich wenn in der Landwirtschaft der Großbetrieb nicht die
höchste Vetriebsform wärej würde der demokratische Entscheid kein reaktionärer
sein, weil man trotz Aufnahme jener kleinwirtschaftlichen Elemente in den
Nahmen der Bewegung doch nicht von dem Niveau der Produktionstechnik,
wie es im vergesellschafteten Industriebetriebe erreicht ist, herabzusteigen
brauchte." Vor der Hand lasse sich das noch nicht mit Gewißheit feststellen.
"Soviel ich aber sehe, versagt hier im wesentlichen das Marxsche System;
soviel ich sehe, sind die Deduktionen von Marx auf das Agrargebiet nicht ohne
weiteres übertragbar. Er hat bedeutendes auch über die Agrarsachen gesagt,
aber seine Theorie der Entwicklung ist klar uur für die Jndustrieentwicklung.
Sie ist es sür die agrarische Entwicklung nicht, und mir scheint, daß nur die
wissenschaftliche Forschung die Lücke auszufüllen vermögen wird, die jedenfalls
besteht."

Wer meine Ansicht von den Dingen kennt, die ich in den fünf Leitsätzen
kurz zusammengefaßt habe, der weiß im voraus, daß ich hier weder eine von
der Forschung auszufüllende Lücke, noch eine Schwierigkeit sehen, sondern nur
eine erwünschte Bestätigung meiner Gesamtansicht finden werde. Selbstverständ¬
lich halte ich den Bauernstand für lebensfähig; selbstverständlich halte ich den
landwirtschaftlichen Kleinbetrieb nicht für eine niedre Betriebsform, die der
höhern zu weichen habe. Auch fehlt sehr viel daran, daß das von Marx auf¬
gestellte Schema der Entwicklung für die ganze Industrie Geltung hätte. Mit
dem Spinnrade zu spinnen wäre nach Einführung der Spinnmaschinen Unsinn,
und glatte Gewebe können jetzt vernünftigerweise nicht mehr auf dem Hand¬
webstuhle hergestellt werden, aber der Kuustweber ist heute noch daseins¬
berechtigt und wird es immer sein, und daß die indische Mnsselinweberei von
der englischen Kattunfabrikation vernichtet worden ist, darin liegt gar kein
Kulturfortschritt. Kein vernünftiger Mensch wird heute noch Eisenbarren und
Schienen vom Schmiede zurechthämmern lassen wollen, aber der Kunstschlosser, der
solche Barren in seiner Werkstatt verwendet, ist dadurch nicht überflüssig geworden.
Der heutige Bildhauer ist bekanntlich manchmal gar kein Bildhauer mehr,
denn er formt nur ein Modell und läßt darnach das Marmorbild auf mecha¬
nischem Wege herstellen; Gips- und Thonsiguren aber werden nach plastischen
Vorbildern in den Fabriken zu laufenden gebacken. Ist das ein Fortschritt
gegen Michel Angelo, der seine Gestalten aus dem rohen Block mit freier
Hand heraushieb? Ein Fortschritt insofern freilich, als heute auch der Wenig¬
bemittelte einen wohlfeilen Garten- oder Zimmerschmuck erwerben kann; in
künstlerischer Beziehung aber ganz und gar nicht. Der wirkliche Fortschritt,


Zur Kritik des Marxismus

lichen Existenzen mit umfassen und dann unser Programm dahin abändern,
daß wir von dem gemeinwirtschaftlichen Ziele Abstand nehmen, oder aber sollen
wir proletarisch bleiben, dieses gemeinwirtschaftliche Ideal und Ziel im Auge
behalten und dann jene Elemente von unsrer Bewegung ausschließen? In
diesem Falle ^nämlich wenn in der Landwirtschaft der Großbetrieb nicht die
höchste Vetriebsform wärej würde der demokratische Entscheid kein reaktionärer
sein, weil man trotz Aufnahme jener kleinwirtschaftlichen Elemente in den
Nahmen der Bewegung doch nicht von dem Niveau der Produktionstechnik,
wie es im vergesellschafteten Industriebetriebe erreicht ist, herabzusteigen
brauchte." Vor der Hand lasse sich das noch nicht mit Gewißheit feststellen.
„Soviel ich aber sehe, versagt hier im wesentlichen das Marxsche System;
soviel ich sehe, sind die Deduktionen von Marx auf das Agrargebiet nicht ohne
weiteres übertragbar. Er hat bedeutendes auch über die Agrarsachen gesagt,
aber seine Theorie der Entwicklung ist klar uur für die Jndustrieentwicklung.
Sie ist es sür die agrarische Entwicklung nicht, und mir scheint, daß nur die
wissenschaftliche Forschung die Lücke auszufüllen vermögen wird, die jedenfalls
besteht."

Wer meine Ansicht von den Dingen kennt, die ich in den fünf Leitsätzen
kurz zusammengefaßt habe, der weiß im voraus, daß ich hier weder eine von
der Forschung auszufüllende Lücke, noch eine Schwierigkeit sehen, sondern nur
eine erwünschte Bestätigung meiner Gesamtansicht finden werde. Selbstverständ¬
lich halte ich den Bauernstand für lebensfähig; selbstverständlich halte ich den
landwirtschaftlichen Kleinbetrieb nicht für eine niedre Betriebsform, die der
höhern zu weichen habe. Auch fehlt sehr viel daran, daß das von Marx auf¬
gestellte Schema der Entwicklung für die ganze Industrie Geltung hätte. Mit
dem Spinnrade zu spinnen wäre nach Einführung der Spinnmaschinen Unsinn,
und glatte Gewebe können jetzt vernünftigerweise nicht mehr auf dem Hand¬
webstuhle hergestellt werden, aber der Kuustweber ist heute noch daseins¬
berechtigt und wird es immer sein, und daß die indische Mnsselinweberei von
der englischen Kattunfabrikation vernichtet worden ist, darin liegt gar kein
Kulturfortschritt. Kein vernünftiger Mensch wird heute noch Eisenbarren und
Schienen vom Schmiede zurechthämmern lassen wollen, aber der Kunstschlosser, der
solche Barren in seiner Werkstatt verwendet, ist dadurch nicht überflüssig geworden.
Der heutige Bildhauer ist bekanntlich manchmal gar kein Bildhauer mehr,
denn er formt nur ein Modell und läßt darnach das Marmorbild auf mecha¬
nischem Wege herstellen; Gips- und Thonsiguren aber werden nach plastischen
Vorbildern in den Fabriken zu laufenden gebacken. Ist das ein Fortschritt
gegen Michel Angelo, der seine Gestalten aus dem rohen Block mit freier
Hand heraushieb? Ein Fortschritt insofern freilich, als heute auch der Wenig¬
bemittelte einen wohlfeilen Garten- oder Zimmerschmuck erwerben kann; in
künstlerischer Beziehung aber ganz und gar nicht. Der wirkliche Fortschritt,


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[0346] Zur Kritik des Marxismus lichen Existenzen mit umfassen und dann unser Programm dahin abändern, daß wir von dem gemeinwirtschaftlichen Ziele Abstand nehmen, oder aber sollen wir proletarisch bleiben, dieses gemeinwirtschaftliche Ideal und Ziel im Auge behalten und dann jene Elemente von unsrer Bewegung ausschließen? In diesem Falle ^nämlich wenn in der Landwirtschaft der Großbetrieb nicht die höchste Vetriebsform wärej würde der demokratische Entscheid kein reaktionärer sein, weil man trotz Aufnahme jener kleinwirtschaftlichen Elemente in den Nahmen der Bewegung doch nicht von dem Niveau der Produktionstechnik, wie es im vergesellschafteten Industriebetriebe erreicht ist, herabzusteigen brauchte." Vor der Hand lasse sich das noch nicht mit Gewißheit feststellen. „Soviel ich aber sehe, versagt hier im wesentlichen das Marxsche System; soviel ich sehe, sind die Deduktionen von Marx auf das Agrargebiet nicht ohne weiteres übertragbar. Er hat bedeutendes auch über die Agrarsachen gesagt, aber seine Theorie der Entwicklung ist klar uur für die Jndustrieentwicklung. Sie ist es sür die agrarische Entwicklung nicht, und mir scheint, daß nur die wissenschaftliche Forschung die Lücke auszufüllen vermögen wird, die jedenfalls besteht." Wer meine Ansicht von den Dingen kennt, die ich in den fünf Leitsätzen kurz zusammengefaßt habe, der weiß im voraus, daß ich hier weder eine von der Forschung auszufüllende Lücke, noch eine Schwierigkeit sehen, sondern nur eine erwünschte Bestätigung meiner Gesamtansicht finden werde. Selbstverständ¬ lich halte ich den Bauernstand für lebensfähig; selbstverständlich halte ich den landwirtschaftlichen Kleinbetrieb nicht für eine niedre Betriebsform, die der höhern zu weichen habe. Auch fehlt sehr viel daran, daß das von Marx auf¬ gestellte Schema der Entwicklung für die ganze Industrie Geltung hätte. Mit dem Spinnrade zu spinnen wäre nach Einführung der Spinnmaschinen Unsinn, und glatte Gewebe können jetzt vernünftigerweise nicht mehr auf dem Hand¬ webstuhle hergestellt werden, aber der Kuustweber ist heute noch daseins¬ berechtigt und wird es immer sein, und daß die indische Mnsselinweberei von der englischen Kattunfabrikation vernichtet worden ist, darin liegt gar kein Kulturfortschritt. Kein vernünftiger Mensch wird heute noch Eisenbarren und Schienen vom Schmiede zurechthämmern lassen wollen, aber der Kunstschlosser, der solche Barren in seiner Werkstatt verwendet, ist dadurch nicht überflüssig geworden. Der heutige Bildhauer ist bekanntlich manchmal gar kein Bildhauer mehr, denn er formt nur ein Modell und läßt darnach das Marmorbild auf mecha¬ nischem Wege herstellen; Gips- und Thonsiguren aber werden nach plastischen Vorbildern in den Fabriken zu laufenden gebacken. Ist das ein Fortschritt gegen Michel Angelo, der seine Gestalten aus dem rohen Block mit freier Hand heraushieb? Ein Fortschritt insofern freilich, als heute auch der Wenig¬ bemittelte einen wohlfeilen Garten- oder Zimmerschmuck erwerben kann; in künstlerischer Beziehung aber ganz und gar nicht. Der wirkliche Fortschritt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/346>, abgerufen am 26.06.2024.