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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Zur Kritik des Marxismus

Verteuerung gerichteten Bestrebungen der landwirtschaftlichen Bevölkerung ein
starkes Gegengewicht in der die Verbilligung anstrebenden städtischen Bevölkerung
erzeugt, beschleunigt sie den verhängnisvollen Gang der Dinge: die Verschul¬
dung steigt mit jedem Prozent der Volksvermehrung, gegen das Steigen der
Nahrungsmittelpreise aber wehrt sich der in die Städte zusammengedrängte
Volksüberschuß mit steigendem Erfolg.

Es dürfte sogar den Hamburger Nachrichten einigermaßen schwer werden,
die im vorstehenden entwickelten Ansichten sozialdemokratisch zu nennen. Nicht
etwa, daß ich es für eine Schande halten würde, Sozialdemokrat zu sein, aber
ick) bin nun einmal keiner. Ich würde es für keine Schande halten, mit roten
Harren auf die Welt gekommen zu sein, aber ich habe nun einmal braune
Haare, und wenn mir einer sagt: du hast rote Haare, so kann ich doch nichts
erwidern als: du bist verrückt, mein Kind, oder du bist farbenblind. Darauf
werden unsre guten Freunde an der Wasserkante sagen: was kümmern uns
deine Theorien! Die Lehren eines Mannes wie Marx, den die Sozialdemo-
kraten als ihren Meister verehren, dürfen nicht teilweise für richtig befunden,
dürfen nicht diskutirt werden; so einen Kerl darf man in anständiger Gesell¬
schaft gar nicht nennen! Es ist schwierig, für solche Grundsätze eine parla¬
mentarische Bezeichnung zu finden- Der Größenwahn, mit dem die Sozialisten¬
führer, weil sie el" Stück volkswirtschaftlicher Wahrheit erkannt haben, die
"bürgerlichen" Ökonomen als Schwachköpfe hinstellen, ist gewiß lächerlich und
widerwärtig; aber durch diese Haltung einer Presse, die die Spitzen der Gesell¬
schaft vertreten will, wird jene lächerliche Anmaßung verständlich und ent¬
schuldbar. Verlangen, daß die Nationnlökonvmen den Marxismus ignoriren
sollen, das ist ungefähr dasselbe, wie wenn man forderte, die Physiker, die
Chemiker und die Ärzte sollten die mechanische Wärmetheorie, die Lehre von
den Äquivalenten und die Bakteriologie ignoriren! Röscher und Wagner über¬
treffen Marx an Universalität des Wissens und sind frei von seiner Einseitigkeit,
aber neue Entdeckungen haben sie nicht gemacht. Die Männer, die die Wissen¬
schaft vorwärts gebracht und das aufgefunden haben, was gerade unsre Zeit
zu wissen nötig hat, sind List, Thüren, Rodbertus und Marx. Indem die
großen politischen Blätter (nicht die Professoren, diese erkennen trotz vielfacher
Gegnerschaft alle vier genannten Forscher an) die letzten drei von diesen vier
Männern abweisen, versperren sie sich und ihrem Leserkreise die Einsicht in den
Zusammenhang der wirtschaftlichen Vorgänge. Die natürliche Wirkung und
zugleich gerechte Strafe dieser freiwilligen Unwissenheit ist, daß ein großer Teil
des gebildeten Bürgertums dem Hanswurst Ahlwardt, ein noch größerer Teil
des gebildeten Gutsbcsitzerstands dem Phantasten Rusland nachläuft, daß sich
die Freisinnigen in unfruchtbarem Gejammer über die wirtschaftliche Reaktion
ergehen, daß die Negierung auf planloses Fortwursteln angewiesen bleibt, und
daß unser jetziger Landwirtschaftsminister, der als ein verständiger Prccktikns


Zur Kritik des Marxismus

Verteuerung gerichteten Bestrebungen der landwirtschaftlichen Bevölkerung ein
starkes Gegengewicht in der die Verbilligung anstrebenden städtischen Bevölkerung
erzeugt, beschleunigt sie den verhängnisvollen Gang der Dinge: die Verschul¬
dung steigt mit jedem Prozent der Volksvermehrung, gegen das Steigen der
Nahrungsmittelpreise aber wehrt sich der in die Städte zusammengedrängte
Volksüberschuß mit steigendem Erfolg.

Es dürfte sogar den Hamburger Nachrichten einigermaßen schwer werden,
die im vorstehenden entwickelten Ansichten sozialdemokratisch zu nennen. Nicht
etwa, daß ich es für eine Schande halten würde, Sozialdemokrat zu sein, aber
ick) bin nun einmal keiner. Ich würde es für keine Schande halten, mit roten
Harren auf die Welt gekommen zu sein, aber ich habe nun einmal braune
Haare, und wenn mir einer sagt: du hast rote Haare, so kann ich doch nichts
erwidern als: du bist verrückt, mein Kind, oder du bist farbenblind. Darauf
werden unsre guten Freunde an der Wasserkante sagen: was kümmern uns
deine Theorien! Die Lehren eines Mannes wie Marx, den die Sozialdemo-
kraten als ihren Meister verehren, dürfen nicht teilweise für richtig befunden,
dürfen nicht diskutirt werden; so einen Kerl darf man in anständiger Gesell¬
schaft gar nicht nennen! Es ist schwierig, für solche Grundsätze eine parla¬
mentarische Bezeichnung zu finden- Der Größenwahn, mit dem die Sozialisten¬
führer, weil sie el» Stück volkswirtschaftlicher Wahrheit erkannt haben, die
„bürgerlichen" Ökonomen als Schwachköpfe hinstellen, ist gewiß lächerlich und
widerwärtig; aber durch diese Haltung einer Presse, die die Spitzen der Gesell¬
schaft vertreten will, wird jene lächerliche Anmaßung verständlich und ent¬
schuldbar. Verlangen, daß die Nationnlökonvmen den Marxismus ignoriren
sollen, das ist ungefähr dasselbe, wie wenn man forderte, die Physiker, die
Chemiker und die Ärzte sollten die mechanische Wärmetheorie, die Lehre von
den Äquivalenten und die Bakteriologie ignoriren! Röscher und Wagner über¬
treffen Marx an Universalität des Wissens und sind frei von seiner Einseitigkeit,
aber neue Entdeckungen haben sie nicht gemacht. Die Männer, die die Wissen¬
schaft vorwärts gebracht und das aufgefunden haben, was gerade unsre Zeit
zu wissen nötig hat, sind List, Thüren, Rodbertus und Marx. Indem die
großen politischen Blätter (nicht die Professoren, diese erkennen trotz vielfacher
Gegnerschaft alle vier genannten Forscher an) die letzten drei von diesen vier
Männern abweisen, versperren sie sich und ihrem Leserkreise die Einsicht in den
Zusammenhang der wirtschaftlichen Vorgänge. Die natürliche Wirkung und
zugleich gerechte Strafe dieser freiwilligen Unwissenheit ist, daß ein großer Teil
des gebildeten Bürgertums dem Hanswurst Ahlwardt, ein noch größerer Teil
des gebildeten Gutsbcsitzerstands dem Phantasten Rusland nachläuft, daß sich
die Freisinnigen in unfruchtbarem Gejammer über die wirtschaftliche Reaktion
ergehen, daß die Negierung auf planloses Fortwursteln angewiesen bleibt, und
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[0348] Zur Kritik des Marxismus Verteuerung gerichteten Bestrebungen der landwirtschaftlichen Bevölkerung ein starkes Gegengewicht in der die Verbilligung anstrebenden städtischen Bevölkerung erzeugt, beschleunigt sie den verhängnisvollen Gang der Dinge: die Verschul¬ dung steigt mit jedem Prozent der Volksvermehrung, gegen das Steigen der Nahrungsmittelpreise aber wehrt sich der in die Städte zusammengedrängte Volksüberschuß mit steigendem Erfolg. Es dürfte sogar den Hamburger Nachrichten einigermaßen schwer werden, die im vorstehenden entwickelten Ansichten sozialdemokratisch zu nennen. Nicht etwa, daß ich es für eine Schande halten würde, Sozialdemokrat zu sein, aber ick) bin nun einmal keiner. Ich würde es für keine Schande halten, mit roten Harren auf die Welt gekommen zu sein, aber ich habe nun einmal braune Haare, und wenn mir einer sagt: du hast rote Haare, so kann ich doch nichts erwidern als: du bist verrückt, mein Kind, oder du bist farbenblind. Darauf werden unsre guten Freunde an der Wasserkante sagen: was kümmern uns deine Theorien! Die Lehren eines Mannes wie Marx, den die Sozialdemo- kraten als ihren Meister verehren, dürfen nicht teilweise für richtig befunden, dürfen nicht diskutirt werden; so einen Kerl darf man in anständiger Gesell¬ schaft gar nicht nennen! Es ist schwierig, für solche Grundsätze eine parla¬ mentarische Bezeichnung zu finden- Der Größenwahn, mit dem die Sozialisten¬ führer, weil sie el» Stück volkswirtschaftlicher Wahrheit erkannt haben, die „bürgerlichen" Ökonomen als Schwachköpfe hinstellen, ist gewiß lächerlich und widerwärtig; aber durch diese Haltung einer Presse, die die Spitzen der Gesell¬ schaft vertreten will, wird jene lächerliche Anmaßung verständlich und ent¬ schuldbar. Verlangen, daß die Nationnlökonvmen den Marxismus ignoriren sollen, das ist ungefähr dasselbe, wie wenn man forderte, die Physiker, die Chemiker und die Ärzte sollten die mechanische Wärmetheorie, die Lehre von den Äquivalenten und die Bakteriologie ignoriren! Röscher und Wagner über¬ treffen Marx an Universalität des Wissens und sind frei von seiner Einseitigkeit, aber neue Entdeckungen haben sie nicht gemacht. Die Männer, die die Wissen¬ schaft vorwärts gebracht und das aufgefunden haben, was gerade unsre Zeit zu wissen nötig hat, sind List, Thüren, Rodbertus und Marx. Indem die großen politischen Blätter (nicht die Professoren, diese erkennen trotz vielfacher Gegnerschaft alle vier genannten Forscher an) die letzten drei von diesen vier Männern abweisen, versperren sie sich und ihrem Leserkreise die Einsicht in den Zusammenhang der wirtschaftlichen Vorgänge. Die natürliche Wirkung und zugleich gerechte Strafe dieser freiwilligen Unwissenheit ist, daß ein großer Teil des gebildeten Bürgertums dem Hanswurst Ahlwardt, ein noch größerer Teil des gebildeten Gutsbcsitzerstands dem Phantasten Rusland nachläuft, daß sich die Freisinnigen in unfruchtbarem Gejammer über die wirtschaftliche Reaktion ergehen, daß die Negierung auf planloses Fortwursteln angewiesen bleibt, und daß unser jetziger Landwirtschaftsminister, der als ein verständiger Prccktikns

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/348>, abgerufen am 27.09.2024.