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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Zur Rritik des Marxismus

die Zukunft voraussehen, noch auch bestimmen, welche Produktionsformen und
Gesellschaftseinrichtungen möglich und welche unmöglich sind, aber die Not¬
wendigkeit bestreite ich ganz entschieden und weiche daher in der Auffassung
der Lage auch von Sombart ab.

Sombarts aus acht Vortrügen bestehende Schrift hat große Vorzüge.
Sie entwickelt überzeugend die Notwendigkeit und Unabwendbarkeit der sozialen
Bewegung, den Unterschied des utopischen und des wissenschaftlichen Sozia¬
lismus und das verschiedne Gepräge der Arbeiterbewegung bei den verschiednen
Nationen. Den Inhalt der Weltgeschichte, sagt er vollkommen richtig, bildet
der Kampf um den Futteranteil und der Kampf um den Futterplatz.") Kämpfe
der ersten Art werden sozial, Kämpfe der zweiten Art national genannt; es ist
der Fehler unsrer heutigen Sozialisten (und auch der Agrarier, Bodenbesitz¬
reformer, Zünftler, Antisemiten und Freihändler), daß sie sich auf das Soziale
versteifen und das Nationale übersehen, die Notwendigkeit des Kampfes um
die Futterplätze nicht zugeben. Bis dahin bin ich also mit Sombart einig.
Sein Endergebnis aber lehne ich wieder ab. Er erklärt nicht so unbedingt
wie Lorenz, daß die Zukunft dem Sozialismus gehöre, aber er läßt die An¬
sicht durchblicken, daß es eigentlich der Fall sein sollte. Das weltgeschichtliche
Recht jeder großen Bewegung bestehe darin, daß sie vollkommnere Daseins-
formen herbeiführe. Der Sozialismus sei deswegen berechtigt, weil er die
Arbeit des Kapitalismus weiterzuführen unternehme. Dieser hat die arbeits¬
teilige Produktion in Großbetrieben geschaffen, zugleich aber, durch den Privat¬
besitz der Produktionsmittel, durch das Proouziren für den Markt statt für
den Gebrauch und durch die Konkurrenz, seine eignen Schranken erzeugt, die
ihn an der vollen Entfaltung seiner Produktionskräfte hindern und die Arbeiter
zu unnötigen Leiden verurteilen. Der Marxismus lehrt nun, diese Schranken
könnten durch den Übergang der Produktionsmittel in den Gemeinbesitz auf¬
gehoben werden; die in der kapitalistischen Periode errungnen Vorteile, nament¬
lich die vervollkommnete Produktionsweise in Großbetrieben, sollten festgehalten,
die damit bisher verbundnen Nachteile aber durch eine vollkommnere Produk-
tionsordnuug beseitigt werden. Darum dürfe die Sozialdemokratie keinen Pakt
schließen mit den Vertretern überwundner Produktionsformen, namentlich, des
Handwerks. Wie nun aber, wirft sich Sombart selbst ein, wenn in manchen
Gebieten der Kleinbetrieb noch lebensfähig, wenn er sogar die vollkommnere
Wirtschaftsform wäre, wie von einigen in Beziehung auf die Landwirtschaft
behauptet wird? So sehe sich die Sozialdemokratie vor die Frage gestellt:
"Sollen wir nun demokratisch in dem Sinne sein, daß wir jene kleinbetrieb-



") "Das soll nur ein Vergleich sein," fügt er hinzu; aber es ist doch mehr als ein Ver¬
gleich, es trifft den Kern der Sache, und wenn der Reichsbote diese Ausfassung der Geschichte
eine satanische Irrlehre nennt, so beweist das zwar sein gutes Herz und seine ideale Gesinnung,
Zugleich aber seine unvollkommne Kenntnis der Weltgeschichte und der gegenwärtigen Wirklichkeit.
Grenzboten I 1897 43
Zur Rritik des Marxismus

die Zukunft voraussehen, noch auch bestimmen, welche Produktionsformen und
Gesellschaftseinrichtungen möglich und welche unmöglich sind, aber die Not¬
wendigkeit bestreite ich ganz entschieden und weiche daher in der Auffassung
der Lage auch von Sombart ab.

Sombarts aus acht Vortrügen bestehende Schrift hat große Vorzüge.
Sie entwickelt überzeugend die Notwendigkeit und Unabwendbarkeit der sozialen
Bewegung, den Unterschied des utopischen und des wissenschaftlichen Sozia¬
lismus und das verschiedne Gepräge der Arbeiterbewegung bei den verschiednen
Nationen. Den Inhalt der Weltgeschichte, sagt er vollkommen richtig, bildet
der Kampf um den Futteranteil und der Kampf um den Futterplatz.") Kämpfe
der ersten Art werden sozial, Kämpfe der zweiten Art national genannt; es ist
der Fehler unsrer heutigen Sozialisten (und auch der Agrarier, Bodenbesitz¬
reformer, Zünftler, Antisemiten und Freihändler), daß sie sich auf das Soziale
versteifen und das Nationale übersehen, die Notwendigkeit des Kampfes um
die Futterplätze nicht zugeben. Bis dahin bin ich also mit Sombart einig.
Sein Endergebnis aber lehne ich wieder ab. Er erklärt nicht so unbedingt
wie Lorenz, daß die Zukunft dem Sozialismus gehöre, aber er läßt die An¬
sicht durchblicken, daß es eigentlich der Fall sein sollte. Das weltgeschichtliche
Recht jeder großen Bewegung bestehe darin, daß sie vollkommnere Daseins-
formen herbeiführe. Der Sozialismus sei deswegen berechtigt, weil er die
Arbeit des Kapitalismus weiterzuführen unternehme. Dieser hat die arbeits¬
teilige Produktion in Großbetrieben geschaffen, zugleich aber, durch den Privat¬
besitz der Produktionsmittel, durch das Proouziren für den Markt statt für
den Gebrauch und durch die Konkurrenz, seine eignen Schranken erzeugt, die
ihn an der vollen Entfaltung seiner Produktionskräfte hindern und die Arbeiter
zu unnötigen Leiden verurteilen. Der Marxismus lehrt nun, diese Schranken
könnten durch den Übergang der Produktionsmittel in den Gemeinbesitz auf¬
gehoben werden; die in der kapitalistischen Periode errungnen Vorteile, nament¬
lich die vervollkommnete Produktionsweise in Großbetrieben, sollten festgehalten,
die damit bisher verbundnen Nachteile aber durch eine vollkommnere Produk-
tionsordnuug beseitigt werden. Darum dürfe die Sozialdemokratie keinen Pakt
schließen mit den Vertretern überwundner Produktionsformen, namentlich, des
Handwerks. Wie nun aber, wirft sich Sombart selbst ein, wenn in manchen
Gebieten der Kleinbetrieb noch lebensfähig, wenn er sogar die vollkommnere
Wirtschaftsform wäre, wie von einigen in Beziehung auf die Landwirtschaft
behauptet wird? So sehe sich die Sozialdemokratie vor die Frage gestellt:
„Sollen wir nun demokratisch in dem Sinne sein, daß wir jene kleinbetrieb-



") „Das soll nur ein Vergleich sein," fügt er hinzu; aber es ist doch mehr als ein Ver¬
gleich, es trifft den Kern der Sache, und wenn der Reichsbote diese Ausfassung der Geschichte
eine satanische Irrlehre nennt, so beweist das zwar sein gutes Herz und seine ideale Gesinnung,
Zugleich aber seine unvollkommne Kenntnis der Weltgeschichte und der gegenwärtigen Wirklichkeit.
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[0345] Zur Rritik des Marxismus die Zukunft voraussehen, noch auch bestimmen, welche Produktionsformen und Gesellschaftseinrichtungen möglich und welche unmöglich sind, aber die Not¬ wendigkeit bestreite ich ganz entschieden und weiche daher in der Auffassung der Lage auch von Sombart ab. Sombarts aus acht Vortrügen bestehende Schrift hat große Vorzüge. Sie entwickelt überzeugend die Notwendigkeit und Unabwendbarkeit der sozialen Bewegung, den Unterschied des utopischen und des wissenschaftlichen Sozia¬ lismus und das verschiedne Gepräge der Arbeiterbewegung bei den verschiednen Nationen. Den Inhalt der Weltgeschichte, sagt er vollkommen richtig, bildet der Kampf um den Futteranteil und der Kampf um den Futterplatz.") Kämpfe der ersten Art werden sozial, Kämpfe der zweiten Art national genannt; es ist der Fehler unsrer heutigen Sozialisten (und auch der Agrarier, Bodenbesitz¬ reformer, Zünftler, Antisemiten und Freihändler), daß sie sich auf das Soziale versteifen und das Nationale übersehen, die Notwendigkeit des Kampfes um die Futterplätze nicht zugeben. Bis dahin bin ich also mit Sombart einig. Sein Endergebnis aber lehne ich wieder ab. Er erklärt nicht so unbedingt wie Lorenz, daß die Zukunft dem Sozialismus gehöre, aber er läßt die An¬ sicht durchblicken, daß es eigentlich der Fall sein sollte. Das weltgeschichtliche Recht jeder großen Bewegung bestehe darin, daß sie vollkommnere Daseins- formen herbeiführe. Der Sozialismus sei deswegen berechtigt, weil er die Arbeit des Kapitalismus weiterzuführen unternehme. Dieser hat die arbeits¬ teilige Produktion in Großbetrieben geschaffen, zugleich aber, durch den Privat¬ besitz der Produktionsmittel, durch das Proouziren für den Markt statt für den Gebrauch und durch die Konkurrenz, seine eignen Schranken erzeugt, die ihn an der vollen Entfaltung seiner Produktionskräfte hindern und die Arbeiter zu unnötigen Leiden verurteilen. Der Marxismus lehrt nun, diese Schranken könnten durch den Übergang der Produktionsmittel in den Gemeinbesitz auf¬ gehoben werden; die in der kapitalistischen Periode errungnen Vorteile, nament¬ lich die vervollkommnete Produktionsweise in Großbetrieben, sollten festgehalten, die damit bisher verbundnen Nachteile aber durch eine vollkommnere Produk- tionsordnuug beseitigt werden. Darum dürfe die Sozialdemokratie keinen Pakt schließen mit den Vertretern überwundner Produktionsformen, namentlich, des Handwerks. Wie nun aber, wirft sich Sombart selbst ein, wenn in manchen Gebieten der Kleinbetrieb noch lebensfähig, wenn er sogar die vollkommnere Wirtschaftsform wäre, wie von einigen in Beziehung auf die Landwirtschaft behauptet wird? So sehe sich die Sozialdemokratie vor die Frage gestellt: „Sollen wir nun demokratisch in dem Sinne sein, daß wir jene kleinbetrieb- ") „Das soll nur ein Vergleich sein," fügt er hinzu; aber es ist doch mehr als ein Ver¬ gleich, es trifft den Kern der Sache, und wenn der Reichsbote diese Ausfassung der Geschichte eine satanische Irrlehre nennt, so beweist das zwar sein gutes Herz und seine ideale Gesinnung, Zugleich aber seine unvollkommne Kenntnis der Weltgeschichte und der gegenwärtigen Wirklichkeit. Grenzboten I 1897 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/345>, abgerufen am 26.06.2024.