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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Zur Kritik des Marxismus

Bauer befiehlt Gott den ausgestreuten Samen, betet um gutes Wetter, dankt
für die gute Ernte und sieht den Mißwachs für eine Züchtigung Gottes an,
wegen deren er keinen Menschen anklagen kann. Und das Gebet und das Gott¬
vertrauen des Bauern steht niemals im Widerspruch zum Sittengesetz: was
ihm nützt, das nützt allen seinen Mitmenschen. Aber um was sollen der
Fabrikant, der Händler und der Geldverleiher beten? Daß Gott Kriege schicke,
die recht viel Kanonen, Panzerschiffe und Soldatenkleider vernichten? Daß
seine Konkurrenten der Teufel hole? Daß die vornehmen Damen recht viel
unsinnigen Luxus treiben? Das sind so einige von den Bestandteilen, in die
sich das Gebet dieser Herren um den Beistand Gottes zu ihren Unternehmungen
auflösen würde, wenn sie beteten. Es ist also unvermeidlich, daß in diesen
Kreisen die religiöse Empfindung schwindet und die sittliche abgestumpft wird.
Und der industrielle Lohnarbeiter hat gar kein Verhältnis mehr zur Natur,
daher auch meistens keins mehr zu Gott; er hängt, soweit er zu sehen vermag,
nur von Menschen ab und macht diese für sein Schicksal verantwortlich. Fühlt
er sich unbefriedigt oder unglücklich, so bilden der Haß gegen die Vertreter der
bestehenden Ordnung und die Hoffnung auf die zukünftige Herrschaft des
Proletariats seine Religion; daran wird alle Kirchenbcmerei und befohlne
Sonntagsheilignug nichts ändern. Ja sogar der Landwirt verliert schon den
Boden der Religion unter den Füßen, da er angehalten wird, sein Heil nicht
mehr vom guten Wetter, also von Gottes Segen, sondern von den Künsten
der Agrikulturchemie und -- von hohen Preisen zu erwarten; durch das zweite
wird er in den Interessengegensatz der kapitalistischen Gesellschaft hinein¬
gezogen: die Not seiner Mitmenschen kann ihm unter Umständen nützlicher sein
als allgemeiner Wohlstand. Nicht um Vermehrung der Gottesgaben zu beten
fühlt sich der heutige Produzent gedrungen, sondern um das Gegenteil, und
weit entfernt davon, sich darüber zu freuen, daß der technische Fortschritt die
Befriedigung der Bedürfnisse erleichtert, betrübt er sich vielmehr darüber. In
den letzten Tagen haben wir in den Zeitungen gefunden: Gejammer darüber,
daß nun auch schon in Sibirien viel Roggen gebaut wird, Gejammer über die
Dampfschiffahrt, die billige australische Wolle zu uus bringt, Gejammer über
Kanalbauten, die die Einfuhr des ungarischen Getreides erleichtert, Gejammer
darüber, daß die cubauischen Metzeleien bald zu Ende gehen werden und die
dortige Zuckerproduktion wieder beginnen wird.

Wenckstern leugnet nun rundweg die Gefahren der kapitalistischen Wirt¬
schaftsordnung, d. h. in diesem Falle einer Ordnung, die nicht Mittel der
Bedürfnisbefriedigung für den Gebrauch, sondern Waren für den Markt pro-
duzirt. Mancher einzelne, meint er, mag darunter leiden, die Gesamtheit florirt.
Gerade der Umstand, daß jeder, um Geld zu verdienen, für den Markt pro-
duzirt, erhält die Produktion im Gange; denn der Stand des Marktes offen¬
bart dem spähenden und berechnenden Produzenten, was gebraucht, was nicht


Zur Kritik des Marxismus

Bauer befiehlt Gott den ausgestreuten Samen, betet um gutes Wetter, dankt
für die gute Ernte und sieht den Mißwachs für eine Züchtigung Gottes an,
wegen deren er keinen Menschen anklagen kann. Und das Gebet und das Gott¬
vertrauen des Bauern steht niemals im Widerspruch zum Sittengesetz: was
ihm nützt, das nützt allen seinen Mitmenschen. Aber um was sollen der
Fabrikant, der Händler und der Geldverleiher beten? Daß Gott Kriege schicke,
die recht viel Kanonen, Panzerschiffe und Soldatenkleider vernichten? Daß
seine Konkurrenten der Teufel hole? Daß die vornehmen Damen recht viel
unsinnigen Luxus treiben? Das sind so einige von den Bestandteilen, in die
sich das Gebet dieser Herren um den Beistand Gottes zu ihren Unternehmungen
auflösen würde, wenn sie beteten. Es ist also unvermeidlich, daß in diesen
Kreisen die religiöse Empfindung schwindet und die sittliche abgestumpft wird.
Und der industrielle Lohnarbeiter hat gar kein Verhältnis mehr zur Natur,
daher auch meistens keins mehr zu Gott; er hängt, soweit er zu sehen vermag,
nur von Menschen ab und macht diese für sein Schicksal verantwortlich. Fühlt
er sich unbefriedigt oder unglücklich, so bilden der Haß gegen die Vertreter der
bestehenden Ordnung und die Hoffnung auf die zukünftige Herrschaft des
Proletariats seine Religion; daran wird alle Kirchenbcmerei und befohlne
Sonntagsheilignug nichts ändern. Ja sogar der Landwirt verliert schon den
Boden der Religion unter den Füßen, da er angehalten wird, sein Heil nicht
mehr vom guten Wetter, also von Gottes Segen, sondern von den Künsten
der Agrikulturchemie und — von hohen Preisen zu erwarten; durch das zweite
wird er in den Interessengegensatz der kapitalistischen Gesellschaft hinein¬
gezogen: die Not seiner Mitmenschen kann ihm unter Umständen nützlicher sein
als allgemeiner Wohlstand. Nicht um Vermehrung der Gottesgaben zu beten
fühlt sich der heutige Produzent gedrungen, sondern um das Gegenteil, und
weit entfernt davon, sich darüber zu freuen, daß der technische Fortschritt die
Befriedigung der Bedürfnisse erleichtert, betrübt er sich vielmehr darüber. In
den letzten Tagen haben wir in den Zeitungen gefunden: Gejammer darüber,
daß nun auch schon in Sibirien viel Roggen gebaut wird, Gejammer über die
Dampfschiffahrt, die billige australische Wolle zu uus bringt, Gejammer über
Kanalbauten, die die Einfuhr des ungarischen Getreides erleichtert, Gejammer
darüber, daß die cubauischen Metzeleien bald zu Ende gehen werden und die
dortige Zuckerproduktion wieder beginnen wird.

Wenckstern leugnet nun rundweg die Gefahren der kapitalistischen Wirt¬
schaftsordnung, d. h. in diesem Falle einer Ordnung, die nicht Mittel der
Bedürfnisbefriedigung für den Gebrauch, sondern Waren für den Markt pro-
duzirt. Mancher einzelne, meint er, mag darunter leiden, die Gesamtheit florirt.
Gerade der Umstand, daß jeder, um Geld zu verdienen, für den Markt pro-
duzirt, erhält die Produktion im Gange; denn der Stand des Marktes offen¬
bart dem spähenden und berechnenden Produzenten, was gebraucht, was nicht


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[0296] Zur Kritik des Marxismus Bauer befiehlt Gott den ausgestreuten Samen, betet um gutes Wetter, dankt für die gute Ernte und sieht den Mißwachs für eine Züchtigung Gottes an, wegen deren er keinen Menschen anklagen kann. Und das Gebet und das Gott¬ vertrauen des Bauern steht niemals im Widerspruch zum Sittengesetz: was ihm nützt, das nützt allen seinen Mitmenschen. Aber um was sollen der Fabrikant, der Händler und der Geldverleiher beten? Daß Gott Kriege schicke, die recht viel Kanonen, Panzerschiffe und Soldatenkleider vernichten? Daß seine Konkurrenten der Teufel hole? Daß die vornehmen Damen recht viel unsinnigen Luxus treiben? Das sind so einige von den Bestandteilen, in die sich das Gebet dieser Herren um den Beistand Gottes zu ihren Unternehmungen auflösen würde, wenn sie beteten. Es ist also unvermeidlich, daß in diesen Kreisen die religiöse Empfindung schwindet und die sittliche abgestumpft wird. Und der industrielle Lohnarbeiter hat gar kein Verhältnis mehr zur Natur, daher auch meistens keins mehr zu Gott; er hängt, soweit er zu sehen vermag, nur von Menschen ab und macht diese für sein Schicksal verantwortlich. Fühlt er sich unbefriedigt oder unglücklich, so bilden der Haß gegen die Vertreter der bestehenden Ordnung und die Hoffnung auf die zukünftige Herrschaft des Proletariats seine Religion; daran wird alle Kirchenbcmerei und befohlne Sonntagsheilignug nichts ändern. Ja sogar der Landwirt verliert schon den Boden der Religion unter den Füßen, da er angehalten wird, sein Heil nicht mehr vom guten Wetter, also von Gottes Segen, sondern von den Künsten der Agrikulturchemie und — von hohen Preisen zu erwarten; durch das zweite wird er in den Interessengegensatz der kapitalistischen Gesellschaft hinein¬ gezogen: die Not seiner Mitmenschen kann ihm unter Umständen nützlicher sein als allgemeiner Wohlstand. Nicht um Vermehrung der Gottesgaben zu beten fühlt sich der heutige Produzent gedrungen, sondern um das Gegenteil, und weit entfernt davon, sich darüber zu freuen, daß der technische Fortschritt die Befriedigung der Bedürfnisse erleichtert, betrübt er sich vielmehr darüber. In den letzten Tagen haben wir in den Zeitungen gefunden: Gejammer darüber, daß nun auch schon in Sibirien viel Roggen gebaut wird, Gejammer über die Dampfschiffahrt, die billige australische Wolle zu uus bringt, Gejammer über Kanalbauten, die die Einfuhr des ungarischen Getreides erleichtert, Gejammer darüber, daß die cubauischen Metzeleien bald zu Ende gehen werden und die dortige Zuckerproduktion wieder beginnen wird. Wenckstern leugnet nun rundweg die Gefahren der kapitalistischen Wirt¬ schaftsordnung, d. h. in diesem Falle einer Ordnung, die nicht Mittel der Bedürfnisbefriedigung für den Gebrauch, sondern Waren für den Markt pro- duzirt. Mancher einzelne, meint er, mag darunter leiden, die Gesamtheit florirt. Gerade der Umstand, daß jeder, um Geld zu verdienen, für den Markt pro- duzirt, erhält die Produktion im Gange; denn der Stand des Marktes offen¬ bart dem spähenden und berechnenden Produzenten, was gebraucht, was nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/296>, abgerufen am 18.06.2024.