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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Zur Kritik des Marxismus

gebraucht wird; mancher einzelne mag die Lage falsch beurteilen und durch
verfehlte Spekulation zu Grunde gehen, im ganzen wird richtig geurteilt, und
die Produktion ist daher keineswegs anarchisch zu nennen. Kommen einmal
falsche Urteile in größerm Umfange vor und entsteht also eine Krisis, so bildet
eben diese den Gesundnngsprozeß: die Produktion für den Markt regulirt sich
selbst nach dem Bedürfnis. Das alles ist bis zu einem gewissen Grade wahr.
Die planmäßige Produktion für den Bedarf in kleinen kommunistischen Gemein¬
wesen und auf den Großgütern der altgriechischen und der fränkischen Zeit
würde niemals eine solche Fülle verschiedenartiger Güter erzeugt und so ge¬
waltige technische Fortschritte gemacht haben, wie unsre kapitalistisch orgmiisirte
freie Tauschgesellschaft unter dem doppelten Stachel der Gewinnsucht und der
Konkurrenz. Damit hat diese Gesellschaft eben ihre historische Aufgabe gelöst,
oder vielmehr wird sie auch in Zukunft fortfahren, ihre Aufgabe zu lösen,
während Marx, der diese Aufgabe nicht bestreitet, sondern hervorhebt, aller¬
dings der Ansicht ist, daß sie damit so ziemlich fertig sei. Aber dadurch werden
zwei fatale Thatsachen nicht aus der Welt geschafft. Erstens die, daß bei der
Produktion für den Bedarf, die freilich bis jetzt immer nur innerhalb eines
kleinen Bereichs möglich gewesen ist, kein Bedarfsgegenstand unprvdnzirt bleibt,
der auf der erreichten Produktiousstufe hergestellt werden kann, während in
unsrer kapitalistischen Ordnung die Produktion von manchem notwendigen
unterbleiben muß, weil sie sich nicht rentirt. Nichts hindert deu Besitzer eines
von Hörigen bewirtschafteten Großgutcs, an Nahrungsmitteln, Kleidungsstücken
und Wohnstätten alles Herstellen zu lassen, was seine Leute brauchen, und
Dinge, die niemand braucht, läßt er natürlich nicht anfertigen. Dagegen kann
es in Berlin vorkommen, daß 30000 Wohnungen leerstehen, während es an
gesunden und wohlfeilen Wohnungen für die untern und mittlern Klassen fehlt.
Haarerzeuguugsmittel können angefertigt werden, weil sie von Narren gekauft
werden und sich darum rentiren; dagegen giebt es Hunderte, vielleicht tausende
von deutschen Dörfern, auf denen kein unserm Kulturgrad entsprechendes
Schulhaus gebaut werden kann, weil Schulhausbauten niemandem rentiren.
Ja wir hören heute von unsern Landwirten, sie könnten kein Getreide mehr
bauen, weil es sich nicht rentire, und schon vor Marxens Auftreten hat der
demokratcufeiudliche Absolutist Carlyle gefunden, es sei zum Tvllwerden, daß
die Leineweber keine Hemden kaufen könnten, weil ihre Brotherren zu viel un¬
verkäufliche Leinwand liegen haben. Die andre Thatsache ist, daß es gerade
die der Sozialdemokratie am meisten feindlichen Parteien sind, die über die
schleichende Krisis jammern. Der Bund der Landwirte, der sich so ziemlich
mit der konservativen Partei deckt, behauptet, wenn nicht gewisse große Mittel
angewendet würden, sei der Stand der Bauern und der Rittergutsbesitzer ver¬
loren. In Danzig hat unlängst Herr von Ploetz von den Nentengutsbauern
gesagt: "In dem Augenblicke, in welchem die Leute ihren Kontrakt unterzeichnen,


Grenzboten I 1897 37
Zur Kritik des Marxismus

gebraucht wird; mancher einzelne mag die Lage falsch beurteilen und durch
verfehlte Spekulation zu Grunde gehen, im ganzen wird richtig geurteilt, und
die Produktion ist daher keineswegs anarchisch zu nennen. Kommen einmal
falsche Urteile in größerm Umfange vor und entsteht also eine Krisis, so bildet
eben diese den Gesundnngsprozeß: die Produktion für den Markt regulirt sich
selbst nach dem Bedürfnis. Das alles ist bis zu einem gewissen Grade wahr.
Die planmäßige Produktion für den Bedarf in kleinen kommunistischen Gemein¬
wesen und auf den Großgütern der altgriechischen und der fränkischen Zeit
würde niemals eine solche Fülle verschiedenartiger Güter erzeugt und so ge¬
waltige technische Fortschritte gemacht haben, wie unsre kapitalistisch orgmiisirte
freie Tauschgesellschaft unter dem doppelten Stachel der Gewinnsucht und der
Konkurrenz. Damit hat diese Gesellschaft eben ihre historische Aufgabe gelöst,
oder vielmehr wird sie auch in Zukunft fortfahren, ihre Aufgabe zu lösen,
während Marx, der diese Aufgabe nicht bestreitet, sondern hervorhebt, aller¬
dings der Ansicht ist, daß sie damit so ziemlich fertig sei. Aber dadurch werden
zwei fatale Thatsachen nicht aus der Welt geschafft. Erstens die, daß bei der
Produktion für den Bedarf, die freilich bis jetzt immer nur innerhalb eines
kleinen Bereichs möglich gewesen ist, kein Bedarfsgegenstand unprvdnzirt bleibt,
der auf der erreichten Produktiousstufe hergestellt werden kann, während in
unsrer kapitalistischen Ordnung die Produktion von manchem notwendigen
unterbleiben muß, weil sie sich nicht rentirt. Nichts hindert deu Besitzer eines
von Hörigen bewirtschafteten Großgutcs, an Nahrungsmitteln, Kleidungsstücken
und Wohnstätten alles Herstellen zu lassen, was seine Leute brauchen, und
Dinge, die niemand braucht, läßt er natürlich nicht anfertigen. Dagegen kann
es in Berlin vorkommen, daß 30000 Wohnungen leerstehen, während es an
gesunden und wohlfeilen Wohnungen für die untern und mittlern Klassen fehlt.
Haarerzeuguugsmittel können angefertigt werden, weil sie von Narren gekauft
werden und sich darum rentiren; dagegen giebt es Hunderte, vielleicht tausende
von deutschen Dörfern, auf denen kein unserm Kulturgrad entsprechendes
Schulhaus gebaut werden kann, weil Schulhausbauten niemandem rentiren.
Ja wir hören heute von unsern Landwirten, sie könnten kein Getreide mehr
bauen, weil es sich nicht rentire, und schon vor Marxens Auftreten hat der
demokratcufeiudliche Absolutist Carlyle gefunden, es sei zum Tvllwerden, daß
die Leineweber keine Hemden kaufen könnten, weil ihre Brotherren zu viel un¬
verkäufliche Leinwand liegen haben. Die andre Thatsache ist, daß es gerade
die der Sozialdemokratie am meisten feindlichen Parteien sind, die über die
schleichende Krisis jammern. Der Bund der Landwirte, der sich so ziemlich
mit der konservativen Partei deckt, behauptet, wenn nicht gewisse große Mittel
angewendet würden, sei der Stand der Bauern und der Rittergutsbesitzer ver¬
loren. In Danzig hat unlängst Herr von Ploetz von den Nentengutsbauern
gesagt: „In dem Augenblicke, in welchem die Leute ihren Kontrakt unterzeichnen,


Grenzboten I 1897 37
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[0297] Zur Kritik des Marxismus gebraucht wird; mancher einzelne mag die Lage falsch beurteilen und durch verfehlte Spekulation zu Grunde gehen, im ganzen wird richtig geurteilt, und die Produktion ist daher keineswegs anarchisch zu nennen. Kommen einmal falsche Urteile in größerm Umfange vor und entsteht also eine Krisis, so bildet eben diese den Gesundnngsprozeß: die Produktion für den Markt regulirt sich selbst nach dem Bedürfnis. Das alles ist bis zu einem gewissen Grade wahr. Die planmäßige Produktion für den Bedarf in kleinen kommunistischen Gemein¬ wesen und auf den Großgütern der altgriechischen und der fränkischen Zeit würde niemals eine solche Fülle verschiedenartiger Güter erzeugt und so ge¬ waltige technische Fortschritte gemacht haben, wie unsre kapitalistisch orgmiisirte freie Tauschgesellschaft unter dem doppelten Stachel der Gewinnsucht und der Konkurrenz. Damit hat diese Gesellschaft eben ihre historische Aufgabe gelöst, oder vielmehr wird sie auch in Zukunft fortfahren, ihre Aufgabe zu lösen, während Marx, der diese Aufgabe nicht bestreitet, sondern hervorhebt, aller¬ dings der Ansicht ist, daß sie damit so ziemlich fertig sei. Aber dadurch werden zwei fatale Thatsachen nicht aus der Welt geschafft. Erstens die, daß bei der Produktion für den Bedarf, die freilich bis jetzt immer nur innerhalb eines kleinen Bereichs möglich gewesen ist, kein Bedarfsgegenstand unprvdnzirt bleibt, der auf der erreichten Produktiousstufe hergestellt werden kann, während in unsrer kapitalistischen Ordnung die Produktion von manchem notwendigen unterbleiben muß, weil sie sich nicht rentirt. Nichts hindert deu Besitzer eines von Hörigen bewirtschafteten Großgutcs, an Nahrungsmitteln, Kleidungsstücken und Wohnstätten alles Herstellen zu lassen, was seine Leute brauchen, und Dinge, die niemand braucht, läßt er natürlich nicht anfertigen. Dagegen kann es in Berlin vorkommen, daß 30000 Wohnungen leerstehen, während es an gesunden und wohlfeilen Wohnungen für die untern und mittlern Klassen fehlt. Haarerzeuguugsmittel können angefertigt werden, weil sie von Narren gekauft werden und sich darum rentiren; dagegen giebt es Hunderte, vielleicht tausende von deutschen Dörfern, auf denen kein unserm Kulturgrad entsprechendes Schulhaus gebaut werden kann, weil Schulhausbauten niemandem rentiren. Ja wir hören heute von unsern Landwirten, sie könnten kein Getreide mehr bauen, weil es sich nicht rentire, und schon vor Marxens Auftreten hat der demokratcufeiudliche Absolutist Carlyle gefunden, es sei zum Tvllwerden, daß die Leineweber keine Hemden kaufen könnten, weil ihre Brotherren zu viel un¬ verkäufliche Leinwand liegen haben. Die andre Thatsache ist, daß es gerade die der Sozialdemokratie am meisten feindlichen Parteien sind, die über die schleichende Krisis jammern. Der Bund der Landwirte, der sich so ziemlich mit der konservativen Partei deckt, behauptet, wenn nicht gewisse große Mittel angewendet würden, sei der Stand der Bauern und der Rittergutsbesitzer ver¬ loren. In Danzig hat unlängst Herr von Ploetz von den Nentengutsbauern gesagt: „In dem Augenblicke, in welchem die Leute ihren Kontrakt unterzeichnen, Grenzboten I 1897 37

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/297>, abgerufen am 27.09.2024.