Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Kritik des Marxismus

Verschmitzteste und der Gewissenloseste siege? Wer hat denn den Satz auf¬
gestellt, daß es unter den in der Gründerzeit reich gewordnen keinen gebe,
der nicht wenigstens mit dem Ärmel das Zuchthaus gestreift habe? Sind die
Männer der Wirtschaftspolitik, die seit 1878 bei uns befolgt wird, Marxisten?
Verabscheuen sie nicht die Sozialdemokratie? Oder sind sie allesamt blasirt
und impotent? Ich persönlich bin heute uoch aufrichtiger Manchestermann;
nur bin ich es ehrlich und gestehe allen dasselbe Recht auf freie Bewegung
zu, u. a. auch den Schwachen das Recht, sich zur Behauptung ihres Daseins
miteinander gegen die Starken zu verbünden. Andrerseits verkenne ich nicht,
daß der wirtschaftliche Liberalismus an sich schon, in uoch höherm Grade,
wenn er unehrlich gchandhcibt wird, Übel erzeugt, die einerseits die sozialdemo¬
kratische, andrerseits die konservative Reaktion gegen ihn erklärlich und ent¬
schuldbar macheu. Um ein Beispiel von untergeordneter Bedeutung anzuführen:
welche Zeitung ist denn die rentabelste in Deutschland? Der Berliner Lokal¬
anzeiger. Und nun vergleiche man die Fähigkeiten und die Arbeit, die seine
Leitung erfordert, mit dem, was zur Leitung einer Zeitung gehört, die Grund¬
sätze und Ideale hat, wie die Kreuzzeitung und der Reichsbote, oder zur
Leitung eiuer gediegnen Wochenschrift, die dem Herausgeber manchmal einen
kleinen und manchmal gar keinen Arbeitslohn abwirft. Ist ein solcher Heraus¬
geber impotent zu nennen?

Ein zweiter Punkt, an dem Wencksteru das Ziel verfehlt, ist die Kriscn-
theorie. Marxens Erklärung der Krisen, von der ich im 27. und 20. Heft
des Jahrgangs 1895 einen kurzen Abriß entworfen habe, ist ein Meisterwerk
und meiner Ansicht nach das Verdienstlichste an seiner Arbeit. Sie zeigt die
Gefahren unsers künstlichen kapitalistischen Gesellschaftsbaues, und daß er ganz
gewiß zusammenbrechen müßte, wenn er sich alle Teile des Volkskörpers ein¬
gliederte. Marx nimmt an, daß das geschehen werde; ich hoffe, daß es nicht
geschehen wird, und leite daraus die Verpflichtung für die Staatsmänner ab,
dafür zu sorgen, soweit es in ihrer Macht steht, daß die Mehrheit des Volks
auf einem Boden bleibe, der sie davor schützt, in das Getriebe der kapitalistischen
Maschinerie zu geraten, daß die meisten wenigstens nicht mit ihrem ganzen
Dasein, sondern höchstens mit einem Teil ihres Vermögens oder Einkommens,
ion den Zufällen der Konjunktur abhängig werden. Mein soziales Ideal
^ ein sehr "rückständiges"! -- deckt sich also so ziemlich mit dem der Mittel¬
standsparteiler, nur daß ich die Mittel zur Verwirklichung, die von den Zünft¬
lern, den Antisemiten, den Bodenbesitzreformern und dem Bunde der Landwirte
vorgeschlagen und zum Teil schon angewandt werden, für ungeeignet halte.
Man bedenke doch auch, was der heutige Zustand für das sittlich-religiöse
Leben bedeutet! Der Landmann ist bei naturalwirtschaftlichen oder halb
l'aturalwirtschaftlichem Betrieb von der Nntnr und nicht von Menschen ab¬
hängig. Die Abhängigkeit von der Natur ist die Quelle der Religion. Der'


Zur Kritik des Marxismus

Verschmitzteste und der Gewissenloseste siege? Wer hat denn den Satz auf¬
gestellt, daß es unter den in der Gründerzeit reich gewordnen keinen gebe,
der nicht wenigstens mit dem Ärmel das Zuchthaus gestreift habe? Sind die
Männer der Wirtschaftspolitik, die seit 1878 bei uns befolgt wird, Marxisten?
Verabscheuen sie nicht die Sozialdemokratie? Oder sind sie allesamt blasirt
und impotent? Ich persönlich bin heute uoch aufrichtiger Manchestermann;
nur bin ich es ehrlich und gestehe allen dasselbe Recht auf freie Bewegung
zu, u. a. auch den Schwachen das Recht, sich zur Behauptung ihres Daseins
miteinander gegen die Starken zu verbünden. Andrerseits verkenne ich nicht,
daß der wirtschaftliche Liberalismus an sich schon, in uoch höherm Grade,
wenn er unehrlich gchandhcibt wird, Übel erzeugt, die einerseits die sozialdemo¬
kratische, andrerseits die konservative Reaktion gegen ihn erklärlich und ent¬
schuldbar macheu. Um ein Beispiel von untergeordneter Bedeutung anzuführen:
welche Zeitung ist denn die rentabelste in Deutschland? Der Berliner Lokal¬
anzeiger. Und nun vergleiche man die Fähigkeiten und die Arbeit, die seine
Leitung erfordert, mit dem, was zur Leitung einer Zeitung gehört, die Grund¬
sätze und Ideale hat, wie die Kreuzzeitung und der Reichsbote, oder zur
Leitung eiuer gediegnen Wochenschrift, die dem Herausgeber manchmal einen
kleinen und manchmal gar keinen Arbeitslohn abwirft. Ist ein solcher Heraus¬
geber impotent zu nennen?

Ein zweiter Punkt, an dem Wencksteru das Ziel verfehlt, ist die Kriscn-
theorie. Marxens Erklärung der Krisen, von der ich im 27. und 20. Heft
des Jahrgangs 1895 einen kurzen Abriß entworfen habe, ist ein Meisterwerk
und meiner Ansicht nach das Verdienstlichste an seiner Arbeit. Sie zeigt die
Gefahren unsers künstlichen kapitalistischen Gesellschaftsbaues, und daß er ganz
gewiß zusammenbrechen müßte, wenn er sich alle Teile des Volkskörpers ein¬
gliederte. Marx nimmt an, daß das geschehen werde; ich hoffe, daß es nicht
geschehen wird, und leite daraus die Verpflichtung für die Staatsmänner ab,
dafür zu sorgen, soweit es in ihrer Macht steht, daß die Mehrheit des Volks
auf einem Boden bleibe, der sie davor schützt, in das Getriebe der kapitalistischen
Maschinerie zu geraten, daß die meisten wenigstens nicht mit ihrem ganzen
Dasein, sondern höchstens mit einem Teil ihres Vermögens oder Einkommens,
ion den Zufällen der Konjunktur abhängig werden. Mein soziales Ideal
^ ein sehr „rückständiges"! — deckt sich also so ziemlich mit dem der Mittel¬
standsparteiler, nur daß ich die Mittel zur Verwirklichung, die von den Zünft¬
lern, den Antisemiten, den Bodenbesitzreformern und dem Bunde der Landwirte
vorgeschlagen und zum Teil schon angewandt werden, für ungeeignet halte.
Man bedenke doch auch, was der heutige Zustand für das sittlich-religiöse
Leben bedeutet! Der Landmann ist bei naturalwirtschaftlichen oder halb
l'aturalwirtschaftlichem Betrieb von der Nntnr und nicht von Menschen ab¬
hängig. Die Abhängigkeit von der Natur ist die Quelle der Religion. Der'


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0295" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224541"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Kritik des Marxismus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_801" prev="#ID_800"> Verschmitzteste und der Gewissenloseste siege? Wer hat denn den Satz auf¬<lb/>
gestellt, daß es unter den in der Gründerzeit reich gewordnen keinen gebe,<lb/>
der nicht wenigstens mit dem Ärmel das Zuchthaus gestreift habe? Sind die<lb/>
Männer der Wirtschaftspolitik, die seit 1878 bei uns befolgt wird, Marxisten?<lb/>
Verabscheuen sie nicht die Sozialdemokratie? Oder sind sie allesamt blasirt<lb/>
und impotent? Ich persönlich bin heute uoch aufrichtiger Manchestermann;<lb/>
nur bin ich es ehrlich und gestehe allen dasselbe Recht auf freie Bewegung<lb/>
zu, u. a. auch den Schwachen das Recht, sich zur Behauptung ihres Daseins<lb/>
miteinander gegen die Starken zu verbünden. Andrerseits verkenne ich nicht,<lb/>
daß der wirtschaftliche Liberalismus an sich schon, in uoch höherm Grade,<lb/>
wenn er unehrlich gchandhcibt wird, Übel erzeugt, die einerseits die sozialdemo¬<lb/>
kratische, andrerseits die konservative Reaktion gegen ihn erklärlich und ent¬<lb/>
schuldbar macheu. Um ein Beispiel von untergeordneter Bedeutung anzuführen:<lb/>
welche Zeitung ist denn die rentabelste in Deutschland? Der Berliner Lokal¬<lb/>
anzeiger. Und nun vergleiche man die Fähigkeiten und die Arbeit, die seine<lb/>
Leitung erfordert, mit dem, was zur Leitung einer Zeitung gehört, die Grund¬<lb/>
sätze und Ideale hat, wie die Kreuzzeitung und der Reichsbote, oder zur<lb/>
Leitung eiuer gediegnen Wochenschrift, die dem Herausgeber manchmal einen<lb/>
kleinen und manchmal gar keinen Arbeitslohn abwirft. Ist ein solcher Heraus¬<lb/>
geber impotent zu nennen?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_802" next="#ID_803"> Ein zweiter Punkt, an dem Wencksteru das Ziel verfehlt, ist die Kriscn-<lb/>
theorie. Marxens Erklärung der Krisen, von der ich im 27. und 20. Heft<lb/>
des Jahrgangs 1895 einen kurzen Abriß entworfen habe, ist ein Meisterwerk<lb/>
und meiner Ansicht nach das Verdienstlichste an seiner Arbeit. Sie zeigt die<lb/>
Gefahren unsers künstlichen kapitalistischen Gesellschaftsbaues, und daß er ganz<lb/>
gewiß zusammenbrechen müßte, wenn er sich alle Teile des Volkskörpers ein¬<lb/>
gliederte. Marx nimmt an, daß das geschehen werde; ich hoffe, daß es nicht<lb/>
geschehen wird, und leite daraus die Verpflichtung für die Staatsmänner ab,<lb/>
dafür zu sorgen, soweit es in ihrer Macht steht, daß die Mehrheit des Volks<lb/>
auf einem Boden bleibe, der sie davor schützt, in das Getriebe der kapitalistischen<lb/>
Maschinerie zu geraten, daß die meisten wenigstens nicht mit ihrem ganzen<lb/>
Dasein, sondern höchstens mit einem Teil ihres Vermögens oder Einkommens,<lb/>
ion den Zufällen der Konjunktur abhängig werden. Mein soziales Ideal<lb/>
^ ein sehr &#x201E;rückständiges"! &#x2014; deckt sich also so ziemlich mit dem der Mittel¬<lb/>
standsparteiler, nur daß ich die Mittel zur Verwirklichung, die von den Zünft¬<lb/>
lern, den Antisemiten, den Bodenbesitzreformern und dem Bunde der Landwirte<lb/>
vorgeschlagen und zum Teil schon angewandt werden, für ungeeignet halte.<lb/>
Man bedenke doch auch, was der heutige Zustand für das sittlich-religiöse<lb/>
Leben bedeutet! Der Landmann ist bei naturalwirtschaftlichen oder halb<lb/>
l'aturalwirtschaftlichem Betrieb von der Nntnr und nicht von Menschen ab¬<lb/>
hängig.  Die Abhängigkeit von der Natur ist die Quelle der Religion. Der'</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0295] Zur Kritik des Marxismus Verschmitzteste und der Gewissenloseste siege? Wer hat denn den Satz auf¬ gestellt, daß es unter den in der Gründerzeit reich gewordnen keinen gebe, der nicht wenigstens mit dem Ärmel das Zuchthaus gestreift habe? Sind die Männer der Wirtschaftspolitik, die seit 1878 bei uns befolgt wird, Marxisten? Verabscheuen sie nicht die Sozialdemokratie? Oder sind sie allesamt blasirt und impotent? Ich persönlich bin heute uoch aufrichtiger Manchestermann; nur bin ich es ehrlich und gestehe allen dasselbe Recht auf freie Bewegung zu, u. a. auch den Schwachen das Recht, sich zur Behauptung ihres Daseins miteinander gegen die Starken zu verbünden. Andrerseits verkenne ich nicht, daß der wirtschaftliche Liberalismus an sich schon, in uoch höherm Grade, wenn er unehrlich gchandhcibt wird, Übel erzeugt, die einerseits die sozialdemo¬ kratische, andrerseits die konservative Reaktion gegen ihn erklärlich und ent¬ schuldbar macheu. Um ein Beispiel von untergeordneter Bedeutung anzuführen: welche Zeitung ist denn die rentabelste in Deutschland? Der Berliner Lokal¬ anzeiger. Und nun vergleiche man die Fähigkeiten und die Arbeit, die seine Leitung erfordert, mit dem, was zur Leitung einer Zeitung gehört, die Grund¬ sätze und Ideale hat, wie die Kreuzzeitung und der Reichsbote, oder zur Leitung eiuer gediegnen Wochenschrift, die dem Herausgeber manchmal einen kleinen und manchmal gar keinen Arbeitslohn abwirft. Ist ein solcher Heraus¬ geber impotent zu nennen? Ein zweiter Punkt, an dem Wencksteru das Ziel verfehlt, ist die Kriscn- theorie. Marxens Erklärung der Krisen, von der ich im 27. und 20. Heft des Jahrgangs 1895 einen kurzen Abriß entworfen habe, ist ein Meisterwerk und meiner Ansicht nach das Verdienstlichste an seiner Arbeit. Sie zeigt die Gefahren unsers künstlichen kapitalistischen Gesellschaftsbaues, und daß er ganz gewiß zusammenbrechen müßte, wenn er sich alle Teile des Volkskörpers ein¬ gliederte. Marx nimmt an, daß das geschehen werde; ich hoffe, daß es nicht geschehen wird, und leite daraus die Verpflichtung für die Staatsmänner ab, dafür zu sorgen, soweit es in ihrer Macht steht, daß die Mehrheit des Volks auf einem Boden bleibe, der sie davor schützt, in das Getriebe der kapitalistischen Maschinerie zu geraten, daß die meisten wenigstens nicht mit ihrem ganzen Dasein, sondern höchstens mit einem Teil ihres Vermögens oder Einkommens, ion den Zufällen der Konjunktur abhängig werden. Mein soziales Ideal ^ ein sehr „rückständiges"! — deckt sich also so ziemlich mit dem der Mittel¬ standsparteiler, nur daß ich die Mittel zur Verwirklichung, die von den Zünft¬ lern, den Antisemiten, den Bodenbesitzreformern und dem Bunde der Landwirte vorgeschlagen und zum Teil schon angewandt werden, für ungeeignet halte. Man bedenke doch auch, was der heutige Zustand für das sittlich-religiöse Leben bedeutet! Der Landmann ist bei naturalwirtschaftlichen oder halb l'aturalwirtschaftlichem Betrieb von der Nntnr und nicht von Menschen ab¬ hängig. Die Abhängigkeit von der Natur ist die Quelle der Religion. Der'

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/295
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/295>, abgerufen am 18.06.2024.