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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Zur Kritik des Marxismus

aus den Augen verlor. Die Zeitfolge sowohl der Ereignisse als auch der
Gegenstände, mit denen sich der Verfasser unter geänderten Umständen be¬
schäftigte, erklärt also den Wechsel der beiden Mehrwertbegriffe und entschuldigt
ihn einigermaßen. Um so berechtigter ist dieser Wechsel, weil er sich in der
industriellen Entwicklung beständig wiederholt. Ist ein neues Geheimmittel,
eine neue Modeware, ein neues Beleuchtuugsmittel erfunden worden, so kann
der erste Fabrikant innerhalb gewisser Schranken den Preis willkürlich machen,
seinen Arbeitern braucht er aber nicht mehr zu zahlen, als andre Fabrikanten
ähnlicher Gegenstünde. Sind nun seine Rohstoffe und Maschinen sehr billig
-- darin besteht ja meistens das Gewinnbringende neuer Erfindungen --, so
ist der Mehrwert, den er im Produktionsprozeß anschlägt, der Verwirklichung
sicher. Natürlich dauert diese schöne Zeit nicht lange; Konkurrenten kommen
und unterwerfen die Preisbildung den Gesetzen des Marktes; nach einiger Zeit
verschwindet der Mehrwert vielleicht gänzlich.

So verhält es sich mit Wencksterns scharfsinniger Kritik überhaupt; im
einzelnen ist sie an jeder Stelle unwiderleglich, im ganzen aber verfehlt sie
manchmal das Ziel oder schießt darüber hinaus. Dies besonders an drei
Punkten. S. 82 schreibt er, die Lehre vom Ausbeutertum sei in das Bewußt¬
sein der Massen eingedrungen und "in das Bewußtsein aller hungrigen, stelle¬
suchenden, unreifen, denkfaulen und arbeitsscheuen Individuen, aller unbefrie¬
digten Existenzen der bürgerlichen Klassen, in das Bewußtsein des blasirten
Teiles der reichen, schwerttragcnden und gelehrten Jugend.....Lange nicht
die Hunderttausende sozialdemokratischer Arbeiter: die tausende Unbefriedigter,
weil Impotenter, der bürgerlichen Klassen sind die wahre, die furchtbare Gefahr
für Deutschland, für die europäische Zivilisation." Das heißt also doch wohl,
es ist eine leere und für den Bestand der Gesellschaft sehr gefährliche Ein¬
bildung, daß Ausbeutung vorkomme; in der kapitalistischen Ordnung, so wie
sie jetzt ist, kommt jeder Tüchtige zu seiner Sache und zu seinem Recht; wenn
es einer zu nichts bringt, so beweist er dadurch eben seine Unfähigkeit, während
der Mann, der reich wird, seinen Reichtum allemal verdient hat. Wenckstern
möge sich nun einmal die Frage vorlegen: Wer ist es denn gewesen, der die
Lehre vom freien Spiel der Kräfte für eine verwerfliche Irrlehre erklärt und
das Wort Manchestertum zu einem Brand- und Schandmal gemacht hat?
Wer schreit denn unaufhörlich nach Staatshilfe und nach Eingriffen des
Staats in das Erwerbsleben? Wer behauptet denn, daß die prodnzirenden
Stände zu Grunde gingen, und daß die beschnittenen und die unbeschnittenen
Inhaber des beweglichen Kapitals dem Volke das Mark aussaugten? Wer
fordert denn, daß der Landwirt vor dem internationalen Börscnkapital, der
Handwerker vor dem Kapital des Großindustriellen, der Krämer vor dem
Versandgeschüft, dem Konsumverein und dem Hausirer geschützt werde? Wer
klagt denn, daß beim freien Spiel der Kräfte nicht der Tüchtigste, sondern der


Zur Kritik des Marxismus

aus den Augen verlor. Die Zeitfolge sowohl der Ereignisse als auch der
Gegenstände, mit denen sich der Verfasser unter geänderten Umständen be¬
schäftigte, erklärt also den Wechsel der beiden Mehrwertbegriffe und entschuldigt
ihn einigermaßen. Um so berechtigter ist dieser Wechsel, weil er sich in der
industriellen Entwicklung beständig wiederholt. Ist ein neues Geheimmittel,
eine neue Modeware, ein neues Beleuchtuugsmittel erfunden worden, so kann
der erste Fabrikant innerhalb gewisser Schranken den Preis willkürlich machen,
seinen Arbeitern braucht er aber nicht mehr zu zahlen, als andre Fabrikanten
ähnlicher Gegenstünde. Sind nun seine Rohstoffe und Maschinen sehr billig
— darin besteht ja meistens das Gewinnbringende neuer Erfindungen —, so
ist der Mehrwert, den er im Produktionsprozeß anschlägt, der Verwirklichung
sicher. Natürlich dauert diese schöne Zeit nicht lange; Konkurrenten kommen
und unterwerfen die Preisbildung den Gesetzen des Marktes; nach einiger Zeit
verschwindet der Mehrwert vielleicht gänzlich.

So verhält es sich mit Wencksterns scharfsinniger Kritik überhaupt; im
einzelnen ist sie an jeder Stelle unwiderleglich, im ganzen aber verfehlt sie
manchmal das Ziel oder schießt darüber hinaus. Dies besonders an drei
Punkten. S. 82 schreibt er, die Lehre vom Ausbeutertum sei in das Bewußt¬
sein der Massen eingedrungen und „in das Bewußtsein aller hungrigen, stelle¬
suchenden, unreifen, denkfaulen und arbeitsscheuen Individuen, aller unbefrie¬
digten Existenzen der bürgerlichen Klassen, in das Bewußtsein des blasirten
Teiles der reichen, schwerttragcnden und gelehrten Jugend.....Lange nicht
die Hunderttausende sozialdemokratischer Arbeiter: die tausende Unbefriedigter,
weil Impotenter, der bürgerlichen Klassen sind die wahre, die furchtbare Gefahr
für Deutschland, für die europäische Zivilisation." Das heißt also doch wohl,
es ist eine leere und für den Bestand der Gesellschaft sehr gefährliche Ein¬
bildung, daß Ausbeutung vorkomme; in der kapitalistischen Ordnung, so wie
sie jetzt ist, kommt jeder Tüchtige zu seiner Sache und zu seinem Recht; wenn
es einer zu nichts bringt, so beweist er dadurch eben seine Unfähigkeit, während
der Mann, der reich wird, seinen Reichtum allemal verdient hat. Wenckstern
möge sich nun einmal die Frage vorlegen: Wer ist es denn gewesen, der die
Lehre vom freien Spiel der Kräfte für eine verwerfliche Irrlehre erklärt und
das Wort Manchestertum zu einem Brand- und Schandmal gemacht hat?
Wer schreit denn unaufhörlich nach Staatshilfe und nach Eingriffen des
Staats in das Erwerbsleben? Wer behauptet denn, daß die prodnzirenden
Stände zu Grunde gingen, und daß die beschnittenen und die unbeschnittenen
Inhaber des beweglichen Kapitals dem Volke das Mark aussaugten? Wer
fordert denn, daß der Landwirt vor dem internationalen Börscnkapital, der
Handwerker vor dem Kapital des Großindustriellen, der Krämer vor dem
Versandgeschüft, dem Konsumverein und dem Hausirer geschützt werde? Wer
klagt denn, daß beim freien Spiel der Kräfte nicht der Tüchtigste, sondern der


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[0294] Zur Kritik des Marxismus aus den Augen verlor. Die Zeitfolge sowohl der Ereignisse als auch der Gegenstände, mit denen sich der Verfasser unter geänderten Umständen be¬ schäftigte, erklärt also den Wechsel der beiden Mehrwertbegriffe und entschuldigt ihn einigermaßen. Um so berechtigter ist dieser Wechsel, weil er sich in der industriellen Entwicklung beständig wiederholt. Ist ein neues Geheimmittel, eine neue Modeware, ein neues Beleuchtuugsmittel erfunden worden, so kann der erste Fabrikant innerhalb gewisser Schranken den Preis willkürlich machen, seinen Arbeitern braucht er aber nicht mehr zu zahlen, als andre Fabrikanten ähnlicher Gegenstünde. Sind nun seine Rohstoffe und Maschinen sehr billig — darin besteht ja meistens das Gewinnbringende neuer Erfindungen —, so ist der Mehrwert, den er im Produktionsprozeß anschlägt, der Verwirklichung sicher. Natürlich dauert diese schöne Zeit nicht lange; Konkurrenten kommen und unterwerfen die Preisbildung den Gesetzen des Marktes; nach einiger Zeit verschwindet der Mehrwert vielleicht gänzlich. So verhält es sich mit Wencksterns scharfsinniger Kritik überhaupt; im einzelnen ist sie an jeder Stelle unwiderleglich, im ganzen aber verfehlt sie manchmal das Ziel oder schießt darüber hinaus. Dies besonders an drei Punkten. S. 82 schreibt er, die Lehre vom Ausbeutertum sei in das Bewußt¬ sein der Massen eingedrungen und „in das Bewußtsein aller hungrigen, stelle¬ suchenden, unreifen, denkfaulen und arbeitsscheuen Individuen, aller unbefrie¬ digten Existenzen der bürgerlichen Klassen, in das Bewußtsein des blasirten Teiles der reichen, schwerttragcnden und gelehrten Jugend.....Lange nicht die Hunderttausende sozialdemokratischer Arbeiter: die tausende Unbefriedigter, weil Impotenter, der bürgerlichen Klassen sind die wahre, die furchtbare Gefahr für Deutschland, für die europäische Zivilisation." Das heißt also doch wohl, es ist eine leere und für den Bestand der Gesellschaft sehr gefährliche Ein¬ bildung, daß Ausbeutung vorkomme; in der kapitalistischen Ordnung, so wie sie jetzt ist, kommt jeder Tüchtige zu seiner Sache und zu seinem Recht; wenn es einer zu nichts bringt, so beweist er dadurch eben seine Unfähigkeit, während der Mann, der reich wird, seinen Reichtum allemal verdient hat. Wenckstern möge sich nun einmal die Frage vorlegen: Wer ist es denn gewesen, der die Lehre vom freien Spiel der Kräfte für eine verwerfliche Irrlehre erklärt und das Wort Manchestertum zu einem Brand- und Schandmal gemacht hat? Wer schreit denn unaufhörlich nach Staatshilfe und nach Eingriffen des Staats in das Erwerbsleben? Wer behauptet denn, daß die prodnzirenden Stände zu Grunde gingen, und daß die beschnittenen und die unbeschnittenen Inhaber des beweglichen Kapitals dem Volke das Mark aussaugten? Wer fordert denn, daß der Landwirt vor dem internationalen Börscnkapital, der Handwerker vor dem Kapital des Großindustriellen, der Krämer vor dem Versandgeschüft, dem Konsumverein und dem Hausirer geschützt werde? Wer klagt denn, daß beim freien Spiel der Kräfte nicht der Tüchtigste, sondern der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/294>, abgerufen am 18.06.2024.