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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Zur Kritik des Marxismus

zeigt er, wie die Sache in Wirklichkeit verläuft, daß nämlich der Wert, d. h.
der Preis, ja erst beim Verkauf der Ware gebildet wird, daß sich der Markt
gar nicht um Kosten und Mehrwert kümmert, sondern den Preis nur nach
Angebot und Nachfrage bestimmt, und daß dabei sehr häufig ein weit ge¬
ringerer "Mehrwert" herauskommt als der von Marx angenommne, manchmal
auch gar keiner. Es scheint nun einen Verdacht gegen die Ehrlichkeit des
Forschers zu begründen, daß er diese beiden Mehrwerte, den bloß vorgestellten,
der im Produktionsprozeß entstehen soll, und den, der beim Verkauf der
Ware wirklich entsteht oder auch nicht entsteht, abwechselnd gebraucht, je nach¬
dem es für seinen augenblicklichen Zweck paßt. Will er beschreibe", wie durch
Herausschlagen von Mehrwert Kapital angehäuft wird,*) so bedient er sich
des bloß vorgestellten Mehrwerth, der als bereits verwirklicht hingestellt wird;
will er aber beweisen, daß die kapitalistische Wirtschaftsordnung an ihren innern
Widersprüchen zu Grunde gehen müsse, dann spricht er nur von dem Werte,
der durch den Verkauf verwirklicht und der je länger desto mehr von der
Konkurrenz herabgedrückt wird, sodaß zuletzt gar kein Mehrwert mehr übrig
bleibt und alle kleinern und mittlern Kapitalisten zu Grunde gehen. Ich möchte
bei Marx an Unehrlichkeit und bewußte Taschenspielerei nicht glauben. Der
Widerspruch läßt sich chronologisch erklären, chronologisch in einem doppelten
Sinne. Der im Produktionsprozeß gewonnene Mehrwert wird vorzugsweise
im ersten Buche des Werkes verwendet. Das geschichtliche Material zu diesem
Buche aber wurde in derselben Zeit gesammelt, wo Engels sein "Elend der
arbeitenden Klassen" schrieb, und in der den da beschriebnen Zuständen ent¬
sprechenden Weltansicht und Gemütsverfassung. Nun steht es wohl fest, daß damals
die Fabrikanten durch ihre Aufseher aus den Fabrikkindern im körperlichsten Sinne
des Worts mindestens das doppelte von dem herausschlagen ließen, was der
Unterhalt dieser Kinder kostete, und daß bei der Monopolstellung, deren sich
die englischen Fabrikanten damals erfreuten, die Verwirklichung des Mehrwerth
nicht im mindesten zweifelhaft war. Das dritte Buch dagegen, das die innern
Schranken des Kapitalismus behandelt, ist in der Zeit der wütendsten Kon¬
kurrenz und der Krisen geschrieben, und es war natürlich, daß da der Blick
des Verfassers auf der schließlichen Verwirklichung oder NichtVerwirklichung
des Mehrwerth hasten blieb, und daß er darüber seine ursprüngliche Wertlehre



*) Wenckstern unterläßt es zu erwähnen, daß Marx das Kapital keineswegs bloß aus dein
in der Produktion gewonnenen Mehrwert entstehen läßt. In dem Abschnitt über die "ursprüng¬
liche Akkumulation" zeigt er, wie die Niederländer und die Engländer ihr Stammkapital in einer
räuberischen Kolonial- und Handclsthntigkeit gewonnen und wie dann die Engländer daheim
durch den großen Landraub die Bedingungen für das industrielle Unternehmertum geschaffen
haben. Die Blicke der Historiker und Nationnlökonomen auf diese Thatsachen gelenkt zu haben,
ist ein Verdienst Marxens, neben dein seine künstliche, mit so vieler Mühe auSgeoistelte Wert-
Und Mehrwertlehre verschwindet.
Zur Kritik des Marxismus

zeigt er, wie die Sache in Wirklichkeit verläuft, daß nämlich der Wert, d. h.
der Preis, ja erst beim Verkauf der Ware gebildet wird, daß sich der Markt
gar nicht um Kosten und Mehrwert kümmert, sondern den Preis nur nach
Angebot und Nachfrage bestimmt, und daß dabei sehr häufig ein weit ge¬
ringerer „Mehrwert" herauskommt als der von Marx angenommne, manchmal
auch gar keiner. Es scheint nun einen Verdacht gegen die Ehrlichkeit des
Forschers zu begründen, daß er diese beiden Mehrwerte, den bloß vorgestellten,
der im Produktionsprozeß entstehen soll, und den, der beim Verkauf der
Ware wirklich entsteht oder auch nicht entsteht, abwechselnd gebraucht, je nach¬
dem es für seinen augenblicklichen Zweck paßt. Will er beschreibe», wie durch
Herausschlagen von Mehrwert Kapital angehäuft wird,*) so bedient er sich
des bloß vorgestellten Mehrwerth, der als bereits verwirklicht hingestellt wird;
will er aber beweisen, daß die kapitalistische Wirtschaftsordnung an ihren innern
Widersprüchen zu Grunde gehen müsse, dann spricht er nur von dem Werte,
der durch den Verkauf verwirklicht und der je länger desto mehr von der
Konkurrenz herabgedrückt wird, sodaß zuletzt gar kein Mehrwert mehr übrig
bleibt und alle kleinern und mittlern Kapitalisten zu Grunde gehen. Ich möchte
bei Marx an Unehrlichkeit und bewußte Taschenspielerei nicht glauben. Der
Widerspruch läßt sich chronologisch erklären, chronologisch in einem doppelten
Sinne. Der im Produktionsprozeß gewonnene Mehrwert wird vorzugsweise
im ersten Buche des Werkes verwendet. Das geschichtliche Material zu diesem
Buche aber wurde in derselben Zeit gesammelt, wo Engels sein „Elend der
arbeitenden Klassen" schrieb, und in der den da beschriebnen Zuständen ent¬
sprechenden Weltansicht und Gemütsverfassung. Nun steht es wohl fest, daß damals
die Fabrikanten durch ihre Aufseher aus den Fabrikkindern im körperlichsten Sinne
des Worts mindestens das doppelte von dem herausschlagen ließen, was der
Unterhalt dieser Kinder kostete, und daß bei der Monopolstellung, deren sich
die englischen Fabrikanten damals erfreuten, die Verwirklichung des Mehrwerth
nicht im mindesten zweifelhaft war. Das dritte Buch dagegen, das die innern
Schranken des Kapitalismus behandelt, ist in der Zeit der wütendsten Kon¬
kurrenz und der Krisen geschrieben, und es war natürlich, daß da der Blick
des Verfassers auf der schließlichen Verwirklichung oder NichtVerwirklichung
des Mehrwerth hasten blieb, und daß er darüber seine ursprüngliche Wertlehre



*) Wenckstern unterläßt es zu erwähnen, daß Marx das Kapital keineswegs bloß aus dein
in der Produktion gewonnenen Mehrwert entstehen läßt. In dem Abschnitt über die „ursprüng¬
liche Akkumulation" zeigt er, wie die Niederländer und die Engländer ihr Stammkapital in einer
räuberischen Kolonial- und Handclsthntigkeit gewonnen und wie dann die Engländer daheim
durch den großen Landraub die Bedingungen für das industrielle Unternehmertum geschaffen
haben. Die Blicke der Historiker und Nationnlökonomen auf diese Thatsachen gelenkt zu haben,
ist ein Verdienst Marxens, neben dein seine künstliche, mit so vieler Mühe auSgeoistelte Wert-
Und Mehrwertlehre verschwindet.
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[0293] Zur Kritik des Marxismus zeigt er, wie die Sache in Wirklichkeit verläuft, daß nämlich der Wert, d. h. der Preis, ja erst beim Verkauf der Ware gebildet wird, daß sich der Markt gar nicht um Kosten und Mehrwert kümmert, sondern den Preis nur nach Angebot und Nachfrage bestimmt, und daß dabei sehr häufig ein weit ge¬ ringerer „Mehrwert" herauskommt als der von Marx angenommne, manchmal auch gar keiner. Es scheint nun einen Verdacht gegen die Ehrlichkeit des Forschers zu begründen, daß er diese beiden Mehrwerte, den bloß vorgestellten, der im Produktionsprozeß entstehen soll, und den, der beim Verkauf der Ware wirklich entsteht oder auch nicht entsteht, abwechselnd gebraucht, je nach¬ dem es für seinen augenblicklichen Zweck paßt. Will er beschreibe», wie durch Herausschlagen von Mehrwert Kapital angehäuft wird,*) so bedient er sich des bloß vorgestellten Mehrwerth, der als bereits verwirklicht hingestellt wird; will er aber beweisen, daß die kapitalistische Wirtschaftsordnung an ihren innern Widersprüchen zu Grunde gehen müsse, dann spricht er nur von dem Werte, der durch den Verkauf verwirklicht und der je länger desto mehr von der Konkurrenz herabgedrückt wird, sodaß zuletzt gar kein Mehrwert mehr übrig bleibt und alle kleinern und mittlern Kapitalisten zu Grunde gehen. Ich möchte bei Marx an Unehrlichkeit und bewußte Taschenspielerei nicht glauben. Der Widerspruch läßt sich chronologisch erklären, chronologisch in einem doppelten Sinne. Der im Produktionsprozeß gewonnene Mehrwert wird vorzugsweise im ersten Buche des Werkes verwendet. Das geschichtliche Material zu diesem Buche aber wurde in derselben Zeit gesammelt, wo Engels sein „Elend der arbeitenden Klassen" schrieb, und in der den da beschriebnen Zuständen ent¬ sprechenden Weltansicht und Gemütsverfassung. Nun steht es wohl fest, daß damals die Fabrikanten durch ihre Aufseher aus den Fabrikkindern im körperlichsten Sinne des Worts mindestens das doppelte von dem herausschlagen ließen, was der Unterhalt dieser Kinder kostete, und daß bei der Monopolstellung, deren sich die englischen Fabrikanten damals erfreuten, die Verwirklichung des Mehrwerth nicht im mindesten zweifelhaft war. Das dritte Buch dagegen, das die innern Schranken des Kapitalismus behandelt, ist in der Zeit der wütendsten Kon¬ kurrenz und der Krisen geschrieben, und es war natürlich, daß da der Blick des Verfassers auf der schließlichen Verwirklichung oder NichtVerwirklichung des Mehrwerth hasten blieb, und daß er darüber seine ursprüngliche Wertlehre *) Wenckstern unterläßt es zu erwähnen, daß Marx das Kapital keineswegs bloß aus dein in der Produktion gewonnenen Mehrwert entstehen läßt. In dem Abschnitt über die „ursprüng¬ liche Akkumulation" zeigt er, wie die Niederländer und die Engländer ihr Stammkapital in einer räuberischen Kolonial- und Handclsthntigkeit gewonnen und wie dann die Engländer daheim durch den großen Landraub die Bedingungen für das industrielle Unternehmertum geschaffen haben. Die Blicke der Historiker und Nationnlökonomen auf diese Thatsachen gelenkt zu haben, ist ein Verdienst Marxens, neben dein seine künstliche, mit so vieler Mühe auSgeoistelte Wert- Und Mehrwertlehre verschwindet.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/293>, abgerufen am 18.06.2024.