Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland die "Taufmutter" den Eltern des Tanfkindes und dem Kinde selbst genau Diese Taufe fand in einer angesehenen und verhältnismäßig großen Kirche Aber weil kein lebendiger Geist in dieser Kirche ist, weil sie nicht durch- In einem Punkte macht sich die Unduldsamkeit der orthodoxen Kirche be¬ Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland die „Taufmutter" den Eltern des Tanfkindes und dem Kinde selbst genau Diese Taufe fand in einer angesehenen und verhältnismäßig großen Kirche Aber weil kein lebendiger Geist in dieser Kirche ist, weil sie nicht durch- In einem Punkte macht sich die Unduldsamkeit der orthodoxen Kirche be¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0088" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223672"/> <fw type="header" place="top"> Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland</fw><lb/> <p xml:id="ID_250" prev="#ID_249"> die „Taufmutter" den Eltern des Tanfkindes und dem Kinde selbst genau<lb/> vorgeschrielme Geschenke zu machen. Innerhalb der Familie gilt es als<lb/> Auszeichnung, zum „Taufvater" oder zur „Taufmutter" gewählt zu werden.<lb/> Die Wahl anzunehmen bedeutet aber unter Umständen eine große Ausgabe.</p><lb/> <p xml:id="ID_251"> Diese Taufe fand in einer angesehenen und verhältnismäßig großen Kirche<lb/> Moskaus statt, die am Ikonostas usw. reich mit Goldblech verziert war<lb/> und überhaupt eiuen wohlhabenden Eindruck machte. Wie mag sich solch eine<lb/> „heilige" Handlung erst in einer ärmlichen Dorfkirche ausnehmen? Kann man<lb/> freilich mehr für ein paar Rubel verlangen? Ich sal> auch die Beerdigung<lb/> eines hohen Beamten, für die jedenfalls Hunderte von Rubeln „geopfert"<lb/> worden waren — da war genug Pomp und Pracht entfaltet. Auch in Pro¬<lb/> testantischen Kirchen werden ja in dieser Richtung Unterschiede gemacht, man kann<lb/> je nach seinem Geldbeutel eine Trauung erster, zweiter oder dritter .Klasse<lb/> haben. Aber hier gleicht doch der geistige Inhalt, das Wort des Predigers<lb/> die Unterschiede ans. Der russischen orthodoxen Kirche ist es nicht gegeben,<lb/> auf Geist und Gemüt zu wirken. Was sie bietet, ist nur der äußere Ritus;<lb/> ihre Lehre ist in einem starren Formalismus aufgegangen, von dem das Wort<lb/> gilt: der Buchstabe tötet. Sie kennt keinen Fortschritt und keine Entwicklung,<lb/> sie weiß nichts von dem Geist, der lebendig macht. Was grau vor Alter ist,<lb/> das ist ihr heilig. Sie spricht nicht russisch zu deu Russen, ihre Sprache ist<lb/> das Altslowenische. Dies und die Buchstaben der Kirchenschrift zu erlernen,<lb/> ist eine eigne Kunst.</p><lb/> <p xml:id="ID_252"> Aber weil kein lebendiger Geist in dieser Kirche ist, weil sie nicht durch-<lb/> glüht ist von dem Feuer der Begeisterung und nicht durchwärmt von einem<lb/> starken, heißen Gefühlsleben, darum geht ihr auch jeder Fanatismus ab.<lb/> Und das ist ein wahres Glück. Sie macht nicht Propaganda, sie geht nicht<lb/> angriffsweise vor. Das schließt ja nicht aus, daß sie sehr unduldsam ist.<lb/> Nur entspringt diese Unduldsamkeit ihrem Charakter als Staatskirche, weil<lb/> sie, in dem schon angedeuteten Sinn, ein hervorragendes Machtmittel des<lb/> Staates ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_253" next="#ID_254"> In einem Punkte macht sich die Unduldsamkeit der orthodoxen Kirche be¬<lb/> sonders auch den in Rußland lebenden Nichtrussen gegenüber geltend: in der un-<lb/> nachsichtiger Forderung, daß bei gemischten Ehen, gleichviel, ob der Mann<lb/> oder die Frau orthodox ist, die Kinder orthodox getauft und erzogen werden<lb/> müssen. Ausnahmen sind schlechterdings ausgeschlossen. Damit ist aber gesagt,<lb/> daß jeder Nichtrusse. der eine Russin heiratet, ohne weiteres eine russische<lb/> Familie gründet. Bleibt er seiner Religion treu, so hat er doch auf die Erziehung<lb/> seiner Kinder, auf die Sitten seines Hauses so gut wie keinen Einfluß, ja er<lb/> setzt sich, wenn er mit seinen Kindern über religiöse Dinge redet, unter Um¬<lb/> ständen der Gefahr aus, daß sich die orthodoxe Kirche in seine häuslichen<lb/> Angelegenheiten mischt, ihn eines Vergehens gegen ihre heiligen Gesetze be-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0088]
Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland
die „Taufmutter" den Eltern des Tanfkindes und dem Kinde selbst genau
vorgeschrielme Geschenke zu machen. Innerhalb der Familie gilt es als
Auszeichnung, zum „Taufvater" oder zur „Taufmutter" gewählt zu werden.
Die Wahl anzunehmen bedeutet aber unter Umständen eine große Ausgabe.
Diese Taufe fand in einer angesehenen und verhältnismäßig großen Kirche
Moskaus statt, die am Ikonostas usw. reich mit Goldblech verziert war
und überhaupt eiuen wohlhabenden Eindruck machte. Wie mag sich solch eine
„heilige" Handlung erst in einer ärmlichen Dorfkirche ausnehmen? Kann man
freilich mehr für ein paar Rubel verlangen? Ich sal> auch die Beerdigung
eines hohen Beamten, für die jedenfalls Hunderte von Rubeln „geopfert"
worden waren — da war genug Pomp und Pracht entfaltet. Auch in Pro¬
testantischen Kirchen werden ja in dieser Richtung Unterschiede gemacht, man kann
je nach seinem Geldbeutel eine Trauung erster, zweiter oder dritter .Klasse
haben. Aber hier gleicht doch der geistige Inhalt, das Wort des Predigers
die Unterschiede ans. Der russischen orthodoxen Kirche ist es nicht gegeben,
auf Geist und Gemüt zu wirken. Was sie bietet, ist nur der äußere Ritus;
ihre Lehre ist in einem starren Formalismus aufgegangen, von dem das Wort
gilt: der Buchstabe tötet. Sie kennt keinen Fortschritt und keine Entwicklung,
sie weiß nichts von dem Geist, der lebendig macht. Was grau vor Alter ist,
das ist ihr heilig. Sie spricht nicht russisch zu deu Russen, ihre Sprache ist
das Altslowenische. Dies und die Buchstaben der Kirchenschrift zu erlernen,
ist eine eigne Kunst.
Aber weil kein lebendiger Geist in dieser Kirche ist, weil sie nicht durch-
glüht ist von dem Feuer der Begeisterung und nicht durchwärmt von einem
starken, heißen Gefühlsleben, darum geht ihr auch jeder Fanatismus ab.
Und das ist ein wahres Glück. Sie macht nicht Propaganda, sie geht nicht
angriffsweise vor. Das schließt ja nicht aus, daß sie sehr unduldsam ist.
Nur entspringt diese Unduldsamkeit ihrem Charakter als Staatskirche, weil
sie, in dem schon angedeuteten Sinn, ein hervorragendes Machtmittel des
Staates ist.
In einem Punkte macht sich die Unduldsamkeit der orthodoxen Kirche be¬
sonders auch den in Rußland lebenden Nichtrussen gegenüber geltend: in der un-
nachsichtiger Forderung, daß bei gemischten Ehen, gleichviel, ob der Mann
oder die Frau orthodox ist, die Kinder orthodox getauft und erzogen werden
müssen. Ausnahmen sind schlechterdings ausgeschlossen. Damit ist aber gesagt,
daß jeder Nichtrusse. der eine Russin heiratet, ohne weiteres eine russische
Familie gründet. Bleibt er seiner Religion treu, so hat er doch auf die Erziehung
seiner Kinder, auf die Sitten seines Hauses so gut wie keinen Einfluß, ja er
setzt sich, wenn er mit seinen Kindern über religiöse Dinge redet, unter Um¬
ständen der Gefahr aus, daß sich die orthodoxe Kirche in seine häuslichen
Angelegenheiten mischt, ihn eines Vergehens gegen ihre heiligen Gesetze be-
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