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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland

zichtigt, sogar ihm die Erziehung seiner Kinder abnimmt. Ich sage: unter
Umständen. Denn obgleich die Kirche das gute Recht hat, in dieser Weise
vorzugehen, so muß sie doch dazu durch irgend ein "Ärgernis" veranlaßt
werden. Ist jemand auch sonst aus irgend einem Grunde "verdächtig," so ist
natürlich bald ein solches "Ärgernis" gefunden. Auch hier gehen Polizei und
Kirche Hand in Hand; will man einem Manne, der politisch unbequem
ist oder zu werden droht, etwas am Zeuge flicken, so ist die Geistlichkeit bald
zur Stelle.

Aber ist auch solch ein offnes Eingreifen der kirchlichen Gewalten in das
Familienleben uicht häufig, so ist doch in Mischehen das innige, vertraute
Familienleben unausgesetzt in Gefahr; deun wenn es beiden Teilen halbwegs
ernst ist um ihre religiöse Überzeugung, oder wenn einer der beiden Teile sie
mit besonders starkem Eifer pflegt, dann sind Zerwürfnisse unausbleiblich,
mögen sie nun zu offnen Auseinandersetzungen führen, oder mögen sie, was
häufiger sein wird, als geheimes Gift wirken. Kommt es zur offnen Aus¬
sprache, dann hat der orthodoxe Teil von vornherein gesiegt. Denn hinter
ihm steht drohend der Priester, die Kirche, also die Macht.

Alljährlich werden während der großen Fasten Gebete in den russischen
Gottesdiensten gehalten, nach denen jeder Andersgläubige verflucht ist. Die
russische Gattin des Protestanten hört so das Anathema über ihren eignen
Gatten, die Kiuder hören es über den eignen Vater nussprcchen. Diese eine
Thatsache genügt, eine Verbindung zwischen einem Protestanten und einer
Orthodoxen eigentlich als eine Unmöglichkeit erscheinen zu lassen. Man male
sich ferner aus, wie den Kindern in der Schule planmäßig der Haß gegen die
Andersgläubigen, die Verachtung der Ungläubigen -- und das sind alle, die
nicht "rechtgläubig" sind -- eingeprägt wird. Man sollte denken, daß in
einem Hause, wo der Vater oder die Mutter den Kindern als ungläubig gilt,
alle Zucht, aller Gehorsam schwinden müßte. Und doch werde" täglich solche
gemischte Ehen geschlossen; selbst in den Fremdenkolonicn, wo manche Familien
Geschlechter hindurch sich von dem echten Nusseutum abseits gehalten haben,
sind sie keine Seltenheit mehr, sie rufen kein Erstaunen mehr hervor wie früher,
höchstens noch ein bedauerndes Achselzucken. Und solche Ehen werden im all¬
gemeinen ganz glücklich. Dazu hilft erstens die Thatsache, daß sich die Mehr¬
zahl der "gebildeten" Russen und Russinnen -- und diese kommen ja hier
vorwiegend in Betracht -- mit der äußerlichen Befolgung der kirchlichen Vor¬
schriften begnügt, eine religiöse Überzeugung, Klarheit über das, was die Lehre
verlangt, kaum besitzt. Die Kinder, namentlich in großen Städten, gewöhnen
sich auch früh genug an diese bequemere Auffassung; ja, so wie bei uns, ist
es auch dort eine häufige Erscheinung, daß ihnen die Religion, da sie eine
"Lektion" ist wie die andern mehr oder minder lustigen Fächer und lustiger
als die andern, gründlich verleidet wird. Auf der andern Seite aber steht die


Grenzboten IV 1896 11
Erlebtes und Beobachtetes aus Rußland

zichtigt, sogar ihm die Erziehung seiner Kinder abnimmt. Ich sage: unter
Umständen. Denn obgleich die Kirche das gute Recht hat, in dieser Weise
vorzugehen, so muß sie doch dazu durch irgend ein „Ärgernis" veranlaßt
werden. Ist jemand auch sonst aus irgend einem Grunde „verdächtig," so ist
natürlich bald ein solches „Ärgernis" gefunden. Auch hier gehen Polizei und
Kirche Hand in Hand; will man einem Manne, der politisch unbequem
ist oder zu werden droht, etwas am Zeuge flicken, so ist die Geistlichkeit bald
zur Stelle.

Aber ist auch solch ein offnes Eingreifen der kirchlichen Gewalten in das
Familienleben uicht häufig, so ist doch in Mischehen das innige, vertraute
Familienleben unausgesetzt in Gefahr; deun wenn es beiden Teilen halbwegs
ernst ist um ihre religiöse Überzeugung, oder wenn einer der beiden Teile sie
mit besonders starkem Eifer pflegt, dann sind Zerwürfnisse unausbleiblich,
mögen sie nun zu offnen Auseinandersetzungen führen, oder mögen sie, was
häufiger sein wird, als geheimes Gift wirken. Kommt es zur offnen Aus¬
sprache, dann hat der orthodoxe Teil von vornherein gesiegt. Denn hinter
ihm steht drohend der Priester, die Kirche, also die Macht.

Alljährlich werden während der großen Fasten Gebete in den russischen
Gottesdiensten gehalten, nach denen jeder Andersgläubige verflucht ist. Die
russische Gattin des Protestanten hört so das Anathema über ihren eignen
Gatten, die Kiuder hören es über den eignen Vater nussprcchen. Diese eine
Thatsache genügt, eine Verbindung zwischen einem Protestanten und einer
Orthodoxen eigentlich als eine Unmöglichkeit erscheinen zu lassen. Man male
sich ferner aus, wie den Kindern in der Schule planmäßig der Haß gegen die
Andersgläubigen, die Verachtung der Ungläubigen — und das sind alle, die
nicht „rechtgläubig" sind — eingeprägt wird. Man sollte denken, daß in
einem Hause, wo der Vater oder die Mutter den Kindern als ungläubig gilt,
alle Zucht, aller Gehorsam schwinden müßte. Und doch werde» täglich solche
gemischte Ehen geschlossen; selbst in den Fremdenkolonicn, wo manche Familien
Geschlechter hindurch sich von dem echten Nusseutum abseits gehalten haben,
sind sie keine Seltenheit mehr, sie rufen kein Erstaunen mehr hervor wie früher,
höchstens noch ein bedauerndes Achselzucken. Und solche Ehen werden im all¬
gemeinen ganz glücklich. Dazu hilft erstens die Thatsache, daß sich die Mehr¬
zahl der „gebildeten" Russen und Russinnen — und diese kommen ja hier
vorwiegend in Betracht — mit der äußerlichen Befolgung der kirchlichen Vor¬
schriften begnügt, eine religiöse Überzeugung, Klarheit über das, was die Lehre
verlangt, kaum besitzt. Die Kinder, namentlich in großen Städten, gewöhnen
sich auch früh genug an diese bequemere Auffassung; ja, so wie bei uns, ist
es auch dort eine häufige Erscheinung, daß ihnen die Religion, da sie eine
„Lektion" ist wie die andern mehr oder minder lustigen Fächer und lustiger
als die andern, gründlich verleidet wird. Auf der andern Seite aber steht die


Grenzboten IV 1896 11
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/89>, abgerufen am 06.01.2025.