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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Erlebtes und Leobachteles ans Rußland

Messe gesungen wird, während der Zeit, wo in dem hintern Raum der
Kirche, wie die gläubige Gemeinde meint, die Verwandlung von Brot und
Wein in Fleisch und Blut Christi vor sich geht, kaun man wohl über¬
haupt nicht hören. In den großen Kirchen sind die Sänger in glänzende
Uniformen gehüllt und, wie das in Nußland nicht anders geht, mit Goldtressen
beladen.

Ich kaun nicht leugnen, diese Gottesdienste fesselten mich durch Glanz
und Geschmack. Und nun der Gegensatz bei der Taufe, die ich mit erlebte!
Hier gab sich die Kirche im Alltagsgcwand, sozusagen im Negligv. Die
Priester freilich waren in rotsammetnen Talaren, wenn auch offenbar "letzter
Garnitur," aber der Sänger, der zugleich Küsterdieuste verrichtete, trug einen
höchst unfeierlichen Straßenanzug, die schmutzige Tracht eines Mushiks. Monodon
leierteer seine Lieder ab; geschäftsmüßig ausdruckslos, als wollte er möglichst rasch
zu Ende komme", las der Priester die Gebete ab; keine Spur von Feierlichkeit.
Da wurde es doppelt klar, daß nur leerer Prunk das Wesen dieser Kirche
ausmacht: die innere Wärme, das lebendige Wort, durch die auch die einfachste
heilige Handlung in einem schmucklosen protestantischen Gotteshause ihre
Weihe erhält, sie fehlten völlig, und da hier anch jeglicher Prunk wegfiel,
so war das Ganze ein unsäglich dürftiges und -- häßliches Schauspiel. Denn
häßlich und grausam ist es, ein armes Kind vou wenigen Wochen, das zu
Hanse mit aller Sorgfalt gepflegt und gehütet wird, mit dem ganzen nackten
Leibchen dreimal in das Taufbecken zu tauchen -- der Priester hält ihm dabei
mit geschicktem Griff Augen, Ohren, Mund und Naschen zu --, dann das
Kind unabgetrockuet dreimal um das Becken herumzutragen, es ferner an
allen möglichen Körperteilen mit Öl zu betüpfelt, schließlich ihm ein paar
Härchen abzuschneiden (das erste, was von dem Leibe des Menschen abgenommen
wird, gehört Gott!) und erst nach all diesen durch Gebete und Gesang ver¬
längerten Prozeduren wieder in die Windeln zu stecken. Mir lief eine
Gänsehaut über den Rücken. Dabei waren alle Werkzeuge, die zur Verwendung
kamen, die Schere, die Feder mit dem heiligen Öl, das Ölfläschchen, der
kupferne Wasserkessel sür das warme Wasser, durchaus uicht von tadelloser
Sauberkeit. Höchst unangenehm berührte es, daß der Priester immer schon
wieder Gebete las, während er sich noch die Hände an einem groben Hand¬
tuch abtrocknete. Nachdem die Handlung vorüber war, wandte sich der Pope
geschäftsmäßig an den "Taufvater," und dieser steckte ihm ebenso geschäfts¬
mäßig een'Am xuvllvo ein paar Papierrubel in die dargebotene Rechte. Der
Priester zählte das Geld; dann erhielt auch der Küster und Sänger vom
"Taufvater" sein Trinkgeld. Vater und Mutter des Täuflings waren nicht
anwesend, da der Tag, nach dem die Mutter die Kirche wieder betreten darf,
noch nicht vorüber war. Der "Taufvater" ist im allgemeinen ein älterer
Verwandter der Familie, er trägt die Kosten der Taufe und hat ebenso wie


Erlebtes und Leobachteles ans Rußland

Messe gesungen wird, während der Zeit, wo in dem hintern Raum der
Kirche, wie die gläubige Gemeinde meint, die Verwandlung von Brot und
Wein in Fleisch und Blut Christi vor sich geht, kaun man wohl über¬
haupt nicht hören. In den großen Kirchen sind die Sänger in glänzende
Uniformen gehüllt und, wie das in Nußland nicht anders geht, mit Goldtressen
beladen.

Ich kaun nicht leugnen, diese Gottesdienste fesselten mich durch Glanz
und Geschmack. Und nun der Gegensatz bei der Taufe, die ich mit erlebte!
Hier gab sich die Kirche im Alltagsgcwand, sozusagen im Negligv. Die
Priester freilich waren in rotsammetnen Talaren, wenn auch offenbar „letzter
Garnitur," aber der Sänger, der zugleich Küsterdieuste verrichtete, trug einen
höchst unfeierlichen Straßenanzug, die schmutzige Tracht eines Mushiks. Monodon
leierteer seine Lieder ab; geschäftsmüßig ausdruckslos, als wollte er möglichst rasch
zu Ende komme», las der Priester die Gebete ab; keine Spur von Feierlichkeit.
Da wurde es doppelt klar, daß nur leerer Prunk das Wesen dieser Kirche
ausmacht: die innere Wärme, das lebendige Wort, durch die auch die einfachste
heilige Handlung in einem schmucklosen protestantischen Gotteshause ihre
Weihe erhält, sie fehlten völlig, und da hier anch jeglicher Prunk wegfiel,
so war das Ganze ein unsäglich dürftiges und — häßliches Schauspiel. Denn
häßlich und grausam ist es, ein armes Kind vou wenigen Wochen, das zu
Hanse mit aller Sorgfalt gepflegt und gehütet wird, mit dem ganzen nackten
Leibchen dreimal in das Taufbecken zu tauchen — der Priester hält ihm dabei
mit geschicktem Griff Augen, Ohren, Mund und Naschen zu —, dann das
Kind unabgetrockuet dreimal um das Becken herumzutragen, es ferner an
allen möglichen Körperteilen mit Öl zu betüpfelt, schließlich ihm ein paar
Härchen abzuschneiden (das erste, was von dem Leibe des Menschen abgenommen
wird, gehört Gott!) und erst nach all diesen durch Gebete und Gesang ver¬
längerten Prozeduren wieder in die Windeln zu stecken. Mir lief eine
Gänsehaut über den Rücken. Dabei waren alle Werkzeuge, die zur Verwendung
kamen, die Schere, die Feder mit dem heiligen Öl, das Ölfläschchen, der
kupferne Wasserkessel sür das warme Wasser, durchaus uicht von tadelloser
Sauberkeit. Höchst unangenehm berührte es, daß der Priester immer schon
wieder Gebete las, während er sich noch die Hände an einem groben Hand¬
tuch abtrocknete. Nachdem die Handlung vorüber war, wandte sich der Pope
geschäftsmäßig an den „Taufvater," und dieser steckte ihm ebenso geschäfts¬
mäßig een'Am xuvllvo ein paar Papierrubel in die dargebotene Rechte. Der
Priester zählte das Geld; dann erhielt auch der Küster und Sänger vom
„Taufvater" sein Trinkgeld. Vater und Mutter des Täuflings waren nicht
anwesend, da der Tag, nach dem die Mutter die Kirche wieder betreten darf,
noch nicht vorüber war. Der „Taufvater" ist im allgemeinen ein älterer
Verwandter der Familie, er trägt die Kosten der Taufe und hat ebenso wie


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[0087] Erlebtes und Leobachteles ans Rußland Messe gesungen wird, während der Zeit, wo in dem hintern Raum der Kirche, wie die gläubige Gemeinde meint, die Verwandlung von Brot und Wein in Fleisch und Blut Christi vor sich geht, kaun man wohl über¬ haupt nicht hören. In den großen Kirchen sind die Sänger in glänzende Uniformen gehüllt und, wie das in Nußland nicht anders geht, mit Goldtressen beladen. Ich kaun nicht leugnen, diese Gottesdienste fesselten mich durch Glanz und Geschmack. Und nun der Gegensatz bei der Taufe, die ich mit erlebte! Hier gab sich die Kirche im Alltagsgcwand, sozusagen im Negligv. Die Priester freilich waren in rotsammetnen Talaren, wenn auch offenbar „letzter Garnitur," aber der Sänger, der zugleich Küsterdieuste verrichtete, trug einen höchst unfeierlichen Straßenanzug, die schmutzige Tracht eines Mushiks. Monodon leierteer seine Lieder ab; geschäftsmüßig ausdruckslos, als wollte er möglichst rasch zu Ende komme», las der Priester die Gebete ab; keine Spur von Feierlichkeit. Da wurde es doppelt klar, daß nur leerer Prunk das Wesen dieser Kirche ausmacht: die innere Wärme, das lebendige Wort, durch die auch die einfachste heilige Handlung in einem schmucklosen protestantischen Gotteshause ihre Weihe erhält, sie fehlten völlig, und da hier anch jeglicher Prunk wegfiel, so war das Ganze ein unsäglich dürftiges und — häßliches Schauspiel. Denn häßlich und grausam ist es, ein armes Kind vou wenigen Wochen, das zu Hanse mit aller Sorgfalt gepflegt und gehütet wird, mit dem ganzen nackten Leibchen dreimal in das Taufbecken zu tauchen — der Priester hält ihm dabei mit geschicktem Griff Augen, Ohren, Mund und Naschen zu —, dann das Kind unabgetrockuet dreimal um das Becken herumzutragen, es ferner an allen möglichen Körperteilen mit Öl zu betüpfelt, schließlich ihm ein paar Härchen abzuschneiden (das erste, was von dem Leibe des Menschen abgenommen wird, gehört Gott!) und erst nach all diesen durch Gebete und Gesang ver¬ längerten Prozeduren wieder in die Windeln zu stecken. Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken. Dabei waren alle Werkzeuge, die zur Verwendung kamen, die Schere, die Feder mit dem heiligen Öl, das Ölfläschchen, der kupferne Wasserkessel sür das warme Wasser, durchaus uicht von tadelloser Sauberkeit. Höchst unangenehm berührte es, daß der Priester immer schon wieder Gebete las, während er sich noch die Hände an einem groben Hand¬ tuch abtrocknete. Nachdem die Handlung vorüber war, wandte sich der Pope geschäftsmäßig an den „Taufvater," und dieser steckte ihm ebenso geschäfts¬ mäßig een'Am xuvllvo ein paar Papierrubel in die dargebotene Rechte. Der Priester zählte das Geld; dann erhielt auch der Küster und Sänger vom „Taufvater" sein Trinkgeld. Vater und Mutter des Täuflings waren nicht anwesend, da der Tag, nach dem die Mutter die Kirche wieder betreten darf, noch nicht vorüber war. Der „Taufvater" ist im allgemeinen ein älterer Verwandter der Familie, er trägt die Kosten der Taufe und hat ebenso wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/87>, abgerufen am 08.01.2025.