Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Der Staat als Grganismus mit Vergnügen. Jeder nimmt am Ende ein Werk von zwei Bänden lieber in In den morphologischen Wissenschaften macht man seit Cuvier einen großen Grenzboten IV 1896 78
Der Staat als Grganismus mit Vergnügen. Jeder nimmt am Ende ein Werk von zwei Bänden lieber in In den morphologischen Wissenschaften macht man seit Cuvier einen großen Grenzboten IV 1896 78
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0625" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224209"/> <fw type="header" place="top"> Der Staat als Grganismus</fw><lb/> <p xml:id="ID_1836" prev="#ID_1835"> mit Vergnügen. Jeder nimmt am Ende ein Werk von zwei Bänden lieber in<lb/> die Hand als eins von vieren. Insofern ist die Kürzung des Buches aus<lb/> zwei Bände ohne weiteres willkommen zu heißen. Daß sie der Verfasser aber<lb/> durch Drangabe einer ganzen Anzahl von Ausführungen über die Ähnlichkeiten<lb/> zwischen dem Leben organischer Wesen und dem Leben des Staates erkauft<lb/> hat, bedauern wir sehr, wie wir überhaupt der Meinung sind, daß Schäffle<lb/> zuviel Gewicht auf den Widerspruch legt, dem diese Vergleichung begegnet ist.<lb/> Keinem, der seine tief eingreifende Wirkung auf die Geister, auch außerhalb<lb/> Deutschlands, kennt, braucht er zu versichern, daß er den Gesellschaftskörper<lb/> als einen geistig, nicht einen physiologisch vvllzognen Lebenszusammenhang<lb/> höherer selbständiger Ordnung gefaßt habe, der sich über Organischen und An¬<lb/> organischen aufbaut. Aber warum soll denn die Lehre vom Staate nicht für<lb/> Staat und Gesellschaft den Begriff des Organischen heranziehen? Wir haben<lb/> nur mit Bedauern die Abschwächung in der Einleitung zu der neuen Auf¬<lb/> lage gelesen, daß „die Gemeinsamkeit des Milieu" sür die organische und soziale<lb/> Welt die „realen Analogien" zwischen beiden notwendig mache und außerdem<lb/> bei der sozialen Verwertung der Stoffe und Kräfte der erstern nicht fehlen<lb/> könne. Die eigentümliche Anwendung des Begriffs „Analogie" auf die tief<lb/> wurzelnden Ähnlichkeiten zwischen Lebensgemeinschaften pflanzlicher, tierischer<lb/> und menschlicher Wesen erregt Zweifel über die Auffassung dieser Ähnlichkeiten.</p><lb/> <p xml:id="ID_1837" next="#ID_1838"> In den morphologischen Wissenschaften macht man seit Cuvier einen großen<lb/> Unterschied zwischen Analogie und Homologie. Analog sind die Flügel eines<lb/> Vogels und eines Schmetterlings, die demselben Zwecke durch ähnliche mechanische<lb/> Vorrichtungen angepaßt, aber in Ursprung und Entwicklung grundverschieden<lb/> sind. Homolog sind die Schüdelknochen und Wirbelbeine eines Menschen, die ganz<lb/> verschiedne Aufgaben erfüllen, aber, wie zuerst Goethe entdeckt hat, von gleichem<lb/> Ursprung sind. Es liegt auf der Hand, daß, wenn ich eine menschliche Ge¬<lb/> sellschaft mit einem Organismus vergleiche, ganz verschiedne Ausgangspunkte<lb/> gegeben werden, je nachdem ich Analogien oder Homologien vor mir zu haben<lb/> glaube. Schüffle sagte in dem Vorwort zur ersten Ausgabe seines großen<lb/> Werkes, er glaube die Gefahren der Analogie — Verwischung der Unterschiede<lb/> und unwissenschaftliche Allegorie — umgangen zu haben; die Ausdrücke „Or¬<lb/> ganismus" und „organisch" zur Bezeichnung sozialer Gebilde und Vorgänge<lb/> habe er sogar regelmüßig gemieden. Und ganz ähnlich hebt er in dem Vor¬<lb/> wort zur zweiten Auflage hervor, daß zur Zusammendrängung des Werkes<lb/> auf zwei Bünde wesentlich auch die Zurückdrängung der „biologischen Ana¬<lb/> logien" beigetragen habe, durch deren Auffassung die erste Auflage viel Anstoß<lb/> erregt habe. Das muß für den. der nicht tief in seine Auffassung eingedrungen<lb/> ist, wie eine Einräumung an die Staatslehrer erscheinen, die nach dem Beispiel<lb/> Mengers die Analogien des Staates mit andern Vereinigungen organischer<lb/> Wesen als so beschränkt und unvollständig ansehen, daß man ihnen nur einen</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1896 78</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0625]
Der Staat als Grganismus
mit Vergnügen. Jeder nimmt am Ende ein Werk von zwei Bänden lieber in
die Hand als eins von vieren. Insofern ist die Kürzung des Buches aus
zwei Bände ohne weiteres willkommen zu heißen. Daß sie der Verfasser aber
durch Drangabe einer ganzen Anzahl von Ausführungen über die Ähnlichkeiten
zwischen dem Leben organischer Wesen und dem Leben des Staates erkauft
hat, bedauern wir sehr, wie wir überhaupt der Meinung sind, daß Schäffle
zuviel Gewicht auf den Widerspruch legt, dem diese Vergleichung begegnet ist.
Keinem, der seine tief eingreifende Wirkung auf die Geister, auch außerhalb
Deutschlands, kennt, braucht er zu versichern, daß er den Gesellschaftskörper
als einen geistig, nicht einen physiologisch vvllzognen Lebenszusammenhang
höherer selbständiger Ordnung gefaßt habe, der sich über Organischen und An¬
organischen aufbaut. Aber warum soll denn die Lehre vom Staate nicht für
Staat und Gesellschaft den Begriff des Organischen heranziehen? Wir haben
nur mit Bedauern die Abschwächung in der Einleitung zu der neuen Auf¬
lage gelesen, daß „die Gemeinsamkeit des Milieu" sür die organische und soziale
Welt die „realen Analogien" zwischen beiden notwendig mache und außerdem
bei der sozialen Verwertung der Stoffe und Kräfte der erstern nicht fehlen
könne. Die eigentümliche Anwendung des Begriffs „Analogie" auf die tief
wurzelnden Ähnlichkeiten zwischen Lebensgemeinschaften pflanzlicher, tierischer
und menschlicher Wesen erregt Zweifel über die Auffassung dieser Ähnlichkeiten.
In den morphologischen Wissenschaften macht man seit Cuvier einen großen
Unterschied zwischen Analogie und Homologie. Analog sind die Flügel eines
Vogels und eines Schmetterlings, die demselben Zwecke durch ähnliche mechanische
Vorrichtungen angepaßt, aber in Ursprung und Entwicklung grundverschieden
sind. Homolog sind die Schüdelknochen und Wirbelbeine eines Menschen, die ganz
verschiedne Aufgaben erfüllen, aber, wie zuerst Goethe entdeckt hat, von gleichem
Ursprung sind. Es liegt auf der Hand, daß, wenn ich eine menschliche Ge¬
sellschaft mit einem Organismus vergleiche, ganz verschiedne Ausgangspunkte
gegeben werden, je nachdem ich Analogien oder Homologien vor mir zu haben
glaube. Schüffle sagte in dem Vorwort zur ersten Ausgabe seines großen
Werkes, er glaube die Gefahren der Analogie — Verwischung der Unterschiede
und unwissenschaftliche Allegorie — umgangen zu haben; die Ausdrücke „Or¬
ganismus" und „organisch" zur Bezeichnung sozialer Gebilde und Vorgänge
habe er sogar regelmüßig gemieden. Und ganz ähnlich hebt er in dem Vor¬
wort zur zweiten Auflage hervor, daß zur Zusammendrängung des Werkes
auf zwei Bünde wesentlich auch die Zurückdrängung der „biologischen Ana¬
logien" beigetragen habe, durch deren Auffassung die erste Auflage viel Anstoß
erregt habe. Das muß für den. der nicht tief in seine Auffassung eingedrungen
ist, wie eine Einräumung an die Staatslehrer erscheinen, die nach dem Beispiel
Mengers die Analogien des Staates mit andern Vereinigungen organischer
Wesen als so beschränkt und unvollständig ansehen, daß man ihnen nur einen
Grenzboten IV 1896 78
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