Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Der Staat als (Organismus äußerlichen Wert beilegen könne. Schäffle ist aber im Gegenteil der Ansicht, Ganz recht ist uns die Wendung Schäffles gegen den einseitigen, ent- Der Staat als (Organismus äußerlichen Wert beilegen könne. Schäffle ist aber im Gegenteil der Ansicht, Ganz recht ist uns die Wendung Schäffles gegen den einseitigen, ent- <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0626" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224210"/> <fw type="header" place="top"> Der Staat als (Organismus</fw><lb/> <p xml:id="ID_1838" prev="#ID_1837"> äußerlichen Wert beilegen könne. Schäffle ist aber im Gegenteil der Ansicht,<lb/> daß die Analogien tief in den übereinstimmenden stofflichen Grundlagen und<lb/> Entwicklungsbedingungen der menschlichen und aller andern Organismengemein¬<lb/> schaften liegen, und darum spricht er auch von „realen Analogien," womit er<lb/> offenbar den Gegensatz zu den äußerlichen, formalen Vergleichungen, zu der<lb/> rein bildlichen Auffassung der Analogie bezeichnen will. Schäffles Welt-<lb/> ciuffasfung ist in dem Sinne einheitlich, daß er das Leben und Wirken der<lb/> Menschen und Völker als mitten in der Natur stehend und aus dem gemein¬<lb/> samen Naturboden herausgewachsen ansieht. Selbst dieser Boden ist ihm kein<lb/> bloßer Unterbau aus starren Erden und Gesteinen, sondern die unorganische<lb/> Welt, die uns umgiebt, kann ihm füglich eine unorganisirte genannt werden,<lb/> d. h. eine noch nicht bis zu der Stufe der organischen, von Bewegungen durch¬<lb/> pulste, aber dazu bestimmte Welt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1839" next="#ID_1840"> Ganz recht ist uns die Wendung Schäffles gegen den einseitigen, ent-<lb/> gcistigenden Gebrauch des Wortes „tot." Stellt man die lebendige Natur der<lb/> toten entgegen, so erweckt man eine Vorstellung, wie wenn Epheu einen toten<lb/> Felsen umgrünt, ein von Leben, d. h, Bewegung strotzendes einen für immer<lb/> ruhenden, bewegungslosen Block. In diesem Sinne tot wird heute kein Physiker<lb/> den Stoff nennen wollen. Die ganze unorganische Welt ist ihm vielmehr ein<lb/> Wirbel von Atomschwingungen. Wo nun diese Harmonien, die in den Kry¬<lb/> stallisationen einen so wunderbaren Ausdruck gewinnen, ins Organische über¬<lb/> gehen, wissen wir allerdings nicht. Doch erkennen wir in den Organismen<lb/> dieselben Stoffe nach denselben Gesetzen verbunden, wie in den unorganischen<lb/> Dingen. Das Prinzip der Gesellschaft, die Vereinigung lebensvoll auf einander<lb/> und mit einander wirkender Teile zu einem Ganzen, ist lange vor dem Menschen<lb/> in der Natur verwirklicht gewesen. Und noch ehe das Leben eine ununter-<lb/> brochne Reihe von Spannungen und Gleichgewichtsherstelluugen zwischen innern<lb/> Zuständen und äußern Lebensbedingungen entfaltete, wirkten Weltkörper auf<lb/> einander aus unermeßlichen Fernen durch Schwere, Licht, Wärme, Elektrizität.<lb/> Und in dem angeblich toten Stein träumen Millionen von Spannungen ihrer<lb/> Auslösung entgegen. Die Fülle von Wechselbeziehungen in der menschlichen<lb/> Gesellschaft ist daher nichts gänzlich Neues. Und es wäre falsch, die Gesell¬<lb/> schaft oder Gemeinschaft der Menschen einer Nichtgemeinschaft der toten Natur<lb/> entgegenzustellen. Denn „die ganze Natur ist ein einziges in sich zusammen¬<lb/> hängendes System von wechselwirkenden Teilen" (Fechner). Kann man von<lb/> dem innern Zusammenhang der menschlichen Gesellschaft mehr sagen, als<lb/> was Lotze von dem der angeblich toten Welt ausspricht: „Jedes Element spürt<lb/> in einer Veränderung seines Zustandes, wie groß oder wie verschwindend klein<lb/> sie auch sein möge, den Einfluß der augenblicklichen Gesamtlage der Welt"?<lb/> Es ist ein ganz falscher Stolz, wenn sich der Kaufmann rühmt: Wenn ich<lb/> hier in Hamburg auf den telegraphischen Knopf drücke, setzen sich meine Schiffe<lb/> in Amerika oder Indien in Bewegung. Denn es ist doch viel großartiger,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0626]
Der Staat als (Organismus
äußerlichen Wert beilegen könne. Schäffle ist aber im Gegenteil der Ansicht,
daß die Analogien tief in den übereinstimmenden stofflichen Grundlagen und
Entwicklungsbedingungen der menschlichen und aller andern Organismengemein¬
schaften liegen, und darum spricht er auch von „realen Analogien," womit er
offenbar den Gegensatz zu den äußerlichen, formalen Vergleichungen, zu der
rein bildlichen Auffassung der Analogie bezeichnen will. Schäffles Welt-
ciuffasfung ist in dem Sinne einheitlich, daß er das Leben und Wirken der
Menschen und Völker als mitten in der Natur stehend und aus dem gemein¬
samen Naturboden herausgewachsen ansieht. Selbst dieser Boden ist ihm kein
bloßer Unterbau aus starren Erden und Gesteinen, sondern die unorganische
Welt, die uns umgiebt, kann ihm füglich eine unorganisirte genannt werden,
d. h. eine noch nicht bis zu der Stufe der organischen, von Bewegungen durch¬
pulste, aber dazu bestimmte Welt.
Ganz recht ist uns die Wendung Schäffles gegen den einseitigen, ent-
gcistigenden Gebrauch des Wortes „tot." Stellt man die lebendige Natur der
toten entgegen, so erweckt man eine Vorstellung, wie wenn Epheu einen toten
Felsen umgrünt, ein von Leben, d. h, Bewegung strotzendes einen für immer
ruhenden, bewegungslosen Block. In diesem Sinne tot wird heute kein Physiker
den Stoff nennen wollen. Die ganze unorganische Welt ist ihm vielmehr ein
Wirbel von Atomschwingungen. Wo nun diese Harmonien, die in den Kry¬
stallisationen einen so wunderbaren Ausdruck gewinnen, ins Organische über¬
gehen, wissen wir allerdings nicht. Doch erkennen wir in den Organismen
dieselben Stoffe nach denselben Gesetzen verbunden, wie in den unorganischen
Dingen. Das Prinzip der Gesellschaft, die Vereinigung lebensvoll auf einander
und mit einander wirkender Teile zu einem Ganzen, ist lange vor dem Menschen
in der Natur verwirklicht gewesen. Und noch ehe das Leben eine ununter-
brochne Reihe von Spannungen und Gleichgewichtsherstelluugen zwischen innern
Zuständen und äußern Lebensbedingungen entfaltete, wirkten Weltkörper auf
einander aus unermeßlichen Fernen durch Schwere, Licht, Wärme, Elektrizität.
Und in dem angeblich toten Stein träumen Millionen von Spannungen ihrer
Auslösung entgegen. Die Fülle von Wechselbeziehungen in der menschlichen
Gesellschaft ist daher nichts gänzlich Neues. Und es wäre falsch, die Gesell¬
schaft oder Gemeinschaft der Menschen einer Nichtgemeinschaft der toten Natur
entgegenzustellen. Denn „die ganze Natur ist ein einziges in sich zusammen¬
hängendes System von wechselwirkenden Teilen" (Fechner). Kann man von
dem innern Zusammenhang der menschlichen Gesellschaft mehr sagen, als
was Lotze von dem der angeblich toten Welt ausspricht: „Jedes Element spürt
in einer Veränderung seines Zustandes, wie groß oder wie verschwindend klein
sie auch sein möge, den Einfluß der augenblicklichen Gesamtlage der Welt"?
Es ist ein ganz falscher Stolz, wenn sich der Kaufmann rühmt: Wenn ich
hier in Hamburg auf den telegraphischen Knopf drücke, setzen sich meine Schiffe
in Amerika oder Indien in Bewegung. Denn es ist doch viel großartiger,
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