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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Englische Zustände

Arbeiters geklagt hat, über die Bedürfnislosigkeit des Negers der deutschen
Kolonien klagt in denselben Tagen, wo alle Staatsanwälte Deutschlands hinter
den Arbeiterblättern her sind, um gegen jedes "Zuzug fernzuhalten!" die Klage
wegen groben Unfugs zu erheben, d. h. um die deutschen Arbeiter an der Er¬
höhung ihres Einkommens, also an der Steigerung ihrer Bedürfnisse zu hindern.
Wir haben da wieder einmal eine schreiende Probe davon, wie die kapitalistische
Gesellschaftsordnung nicht allein jeden mit jedem, sondern auch jeden mit sich
selbst in einen Interessenkonflikt verwickelt. Die Unternehmer jedes expor-
tirenden Landes müssen sich die Arbeiter aller übrigen Länder so anspruchsvoll
wie möglich, ihre eignen aber so anspruchslos wie möglich wünschen, und wenn
es gelänge, unsre Neger zu höhern Ansprüchen und zur Arbeit zu erziehen
und in das Wirrsal unsrer verrückten "Ordnung" zu verwickeln, so würde
damit der Widerspruch in die Kolonien verpflanzt worden; der deutsche Fabrikant
würde die Neger, soweit sie seine Abnehmer sind, anspruchsvoll, dagegen soweit
sie seine Arbeiter sind, bedürfnislos haben wollen, und die Filialen der deutschen
Fabrikanten in Afrika würden gar bald die gefürchteten und gehaßten Kon¬
kurrenten der deutschen Industrie sein, wie jetzt die indischen Spinnereien und
Webereien die der Fabrikanten von Lancashire sind. Und welche furchtbaren
Krisen hatte das englische Volk schon zu erdulden, ehe ihm noch irgend welche
ausländische Konkurrenz gefährlich geworden war; kann doch einem auf Export
angewiesenen Lande jede politische Verwicklung, jeder Krieg, jede Revolution
in fernen Ländern Verderben bringen. Die durch den Sezessionskrieg ver¬
ursachte Vaumwollcnnot der Jahre 1861 bis 1863 verwandelte ein paar
hunderttausend fleißige und ordentliche Arbeiter in Almosenempfänger, ohne
daß auch nur einer von ihnen oder irgend ein andrer Mensch das hätte ändern
können. Der Report, der ausführlich darüber berichtet, macht es klar, daß die
Schwierigkeit nicht etwa in der Aufbringung der Mittel für den Unterhalt der
Beschäftigungslosen bestand; für das reiche England war das eine Kleinigkeit,
und die Unterstützungsgeldcr flössen reichlich. Die Schwierigkeit bestand in
der Beschaffung von Arbeitsgelegenheit, da man doch nicht eine ganze zahlreiche
und achtbare Bevölkerung verlumpen lassen wollte. Den Notstcmdsarbciten,
die damals unternommen wurden, Pflasternngen, Kanalisationen usw. verdanken
die Städte des Jndnstriebezirks ihre heutige größere Reinlichkeit und Gesund¬
heit. Und nun bedenke man den vielfachen Widersinn, der in diesem Vorgange
steckt! Während die Mittel zur Befriedigung aller Bedürfnisse reichlich vor¬
handen sind, weiß man nicht, wie man den Menschen die Gelegenheit ver¬
schaffen soll, sich das Geld zu verdienen, das sie brauchen, um sich ihren Anteil
an der Gütermasse zu kaufen! Und während so viel dringende Arbeit zu thun
ist, muß man Hunderttausende monatelang müßig gehen lassen, weil für sie
keine Arbeit ausfindig zu machen ist! Und eine Hungersnot (tue ootton taminö
heißt die Vaumwollennot amtlich) ist nötig, das reiche Manchester von seinem


Englische Zustände

Arbeiters geklagt hat, über die Bedürfnislosigkeit des Negers der deutschen
Kolonien klagt in denselben Tagen, wo alle Staatsanwälte Deutschlands hinter
den Arbeiterblättern her sind, um gegen jedes „Zuzug fernzuhalten!" die Klage
wegen groben Unfugs zu erheben, d. h. um die deutschen Arbeiter an der Er¬
höhung ihres Einkommens, also an der Steigerung ihrer Bedürfnisse zu hindern.
Wir haben da wieder einmal eine schreiende Probe davon, wie die kapitalistische
Gesellschaftsordnung nicht allein jeden mit jedem, sondern auch jeden mit sich
selbst in einen Interessenkonflikt verwickelt. Die Unternehmer jedes expor-
tirenden Landes müssen sich die Arbeiter aller übrigen Länder so anspruchsvoll
wie möglich, ihre eignen aber so anspruchslos wie möglich wünschen, und wenn
es gelänge, unsre Neger zu höhern Ansprüchen und zur Arbeit zu erziehen
und in das Wirrsal unsrer verrückten „Ordnung" zu verwickeln, so würde
damit der Widerspruch in die Kolonien verpflanzt worden; der deutsche Fabrikant
würde die Neger, soweit sie seine Abnehmer sind, anspruchsvoll, dagegen soweit
sie seine Arbeiter sind, bedürfnislos haben wollen, und die Filialen der deutschen
Fabrikanten in Afrika würden gar bald die gefürchteten und gehaßten Kon¬
kurrenten der deutschen Industrie sein, wie jetzt die indischen Spinnereien und
Webereien die der Fabrikanten von Lancashire sind. Und welche furchtbaren
Krisen hatte das englische Volk schon zu erdulden, ehe ihm noch irgend welche
ausländische Konkurrenz gefährlich geworden war; kann doch einem auf Export
angewiesenen Lande jede politische Verwicklung, jeder Krieg, jede Revolution
in fernen Ländern Verderben bringen. Die durch den Sezessionskrieg ver¬
ursachte Vaumwollcnnot der Jahre 1861 bis 1863 verwandelte ein paar
hunderttausend fleißige und ordentliche Arbeiter in Almosenempfänger, ohne
daß auch nur einer von ihnen oder irgend ein andrer Mensch das hätte ändern
können. Der Report, der ausführlich darüber berichtet, macht es klar, daß die
Schwierigkeit nicht etwa in der Aufbringung der Mittel für den Unterhalt der
Beschäftigungslosen bestand; für das reiche England war das eine Kleinigkeit,
und die Unterstützungsgeldcr flössen reichlich. Die Schwierigkeit bestand in
der Beschaffung von Arbeitsgelegenheit, da man doch nicht eine ganze zahlreiche
und achtbare Bevölkerung verlumpen lassen wollte. Den Notstcmdsarbciten,
die damals unternommen wurden, Pflasternngen, Kanalisationen usw. verdanken
die Städte des Jndnstriebezirks ihre heutige größere Reinlichkeit und Gesund¬
heit. Und nun bedenke man den vielfachen Widersinn, der in diesem Vorgange
steckt! Während die Mittel zur Befriedigung aller Bedürfnisse reichlich vor¬
handen sind, weiß man nicht, wie man den Menschen die Gelegenheit ver¬
schaffen soll, sich das Geld zu verdienen, das sie brauchen, um sich ihren Anteil
an der Gütermasse zu kaufen! Und während so viel dringende Arbeit zu thun
ist, muß man Hunderttausende monatelang müßig gehen lassen, weil für sie
keine Arbeit ausfindig zu machen ist! Und eine Hungersnot (tue ootton taminö
heißt die Vaumwollennot amtlich) ist nötig, das reiche Manchester von seinem


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[0618] Englische Zustände Arbeiters geklagt hat, über die Bedürfnislosigkeit des Negers der deutschen Kolonien klagt in denselben Tagen, wo alle Staatsanwälte Deutschlands hinter den Arbeiterblättern her sind, um gegen jedes „Zuzug fernzuhalten!" die Klage wegen groben Unfugs zu erheben, d. h. um die deutschen Arbeiter an der Er¬ höhung ihres Einkommens, also an der Steigerung ihrer Bedürfnisse zu hindern. Wir haben da wieder einmal eine schreiende Probe davon, wie die kapitalistische Gesellschaftsordnung nicht allein jeden mit jedem, sondern auch jeden mit sich selbst in einen Interessenkonflikt verwickelt. Die Unternehmer jedes expor- tirenden Landes müssen sich die Arbeiter aller übrigen Länder so anspruchsvoll wie möglich, ihre eignen aber so anspruchslos wie möglich wünschen, und wenn es gelänge, unsre Neger zu höhern Ansprüchen und zur Arbeit zu erziehen und in das Wirrsal unsrer verrückten „Ordnung" zu verwickeln, so würde damit der Widerspruch in die Kolonien verpflanzt worden; der deutsche Fabrikant würde die Neger, soweit sie seine Abnehmer sind, anspruchsvoll, dagegen soweit sie seine Arbeiter sind, bedürfnislos haben wollen, und die Filialen der deutschen Fabrikanten in Afrika würden gar bald die gefürchteten und gehaßten Kon¬ kurrenten der deutschen Industrie sein, wie jetzt die indischen Spinnereien und Webereien die der Fabrikanten von Lancashire sind. Und welche furchtbaren Krisen hatte das englische Volk schon zu erdulden, ehe ihm noch irgend welche ausländische Konkurrenz gefährlich geworden war; kann doch einem auf Export angewiesenen Lande jede politische Verwicklung, jeder Krieg, jede Revolution in fernen Ländern Verderben bringen. Die durch den Sezessionskrieg ver¬ ursachte Vaumwollcnnot der Jahre 1861 bis 1863 verwandelte ein paar hunderttausend fleißige und ordentliche Arbeiter in Almosenempfänger, ohne daß auch nur einer von ihnen oder irgend ein andrer Mensch das hätte ändern können. Der Report, der ausführlich darüber berichtet, macht es klar, daß die Schwierigkeit nicht etwa in der Aufbringung der Mittel für den Unterhalt der Beschäftigungslosen bestand; für das reiche England war das eine Kleinigkeit, und die Unterstützungsgeldcr flössen reichlich. Die Schwierigkeit bestand in der Beschaffung von Arbeitsgelegenheit, da man doch nicht eine ganze zahlreiche und achtbare Bevölkerung verlumpen lassen wollte. Den Notstcmdsarbciten, die damals unternommen wurden, Pflasternngen, Kanalisationen usw. verdanken die Städte des Jndnstriebezirks ihre heutige größere Reinlichkeit und Gesund¬ heit. Und nun bedenke man den vielfachen Widersinn, der in diesem Vorgange steckt! Während die Mittel zur Befriedigung aller Bedürfnisse reichlich vor¬ handen sind, weiß man nicht, wie man den Menschen die Gelegenheit ver¬ schaffen soll, sich das Geld zu verdienen, das sie brauchen, um sich ihren Anteil an der Gütermasse zu kaufen! Und während so viel dringende Arbeit zu thun ist, muß man Hunderttausende monatelang müßig gehen lassen, weil für sie keine Arbeit ausfindig zu machen ist! Und eine Hungersnot (tue ootton taminö heißt die Vaumwollennot amtlich) ist nötig, das reiche Manchester von seinem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/618>, abgerufen am 08.01.2025.