Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Englische Zustände liebes Volk kräftiger Bauern, wie es die Engländer bis in Shakespeares Zeit Also wir sehen wohl ein, daß die eigentümliche Entwicklung Englands Grenzboten IV 1696 77
Englische Zustände liebes Volk kräftiger Bauern, wie es die Engländer bis in Shakespeares Zeit Also wir sehen wohl ein, daß die eigentümliche Entwicklung Englands Grenzboten IV 1696 77
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Englische Zustände
liebes Volk kräftiger Bauern, wie es die Engländer bis in Shakespeares Zeit
zum Teil noch waren, wird sich niemals freiwillig dazu verstehen, sein Leben in
Kohlenschachteu oder in dem sinnverwirrenden Gerassel und gliederbedrohenden
Getrieben von Fabriken zu vertrauern oder sich in den Höllen der Hochöfen und
Gießereien braten zu lassen, namentlich unter den Arbeitsverhältnissen, wie sie
in den Anfängen der Großindustrie herrschten. Damit die moderne Industrie,
die zu begründen England berufen war, möglich würde, mußte durch Los¬
lösung der Menschen vom Boden eine wehr- und widerstandslose Sklnven-
bevölkerung geschaffen werden, die zu allem gebraucht werden konnte. Die
englischen Kirchspielarmen sind die Opfer gewesen, die für den technischen Fort¬
schritt gebracht werden mußten. Die Lage der einen mußte verschlechtert
werden, damit die Lage der andern verbessert werden konnte, und die seitdem
gemachten weitern Fortschritte der Technik lassen hoffen, daß diese Verbesserung
der Lage mit der Zeit allen — nicht gleichmäßig, aber doch in verschiednen
Graden — zu teil werden wird, wenn anch die Verbreitung des glücklichen
Zustandes von Jersey und Guernsey über die ganze Erde vielleicht eine Utopie
bleibt; denn die Reinlichkeit und Schönheit dieser Inseln rührt unter anderm
davon her, daß es weder Bergwerke, noch Eisenwerke, noch Fabriken auf ihnen
giebt, und ganz ohne solche wird es Wohl niemals gehen, werden doch ihre
Erzeugnisse auch von den Bewohnern jener glücklichen Inseln benutzt, z. V. für
ihre Glashäuser und deren Heizung.
Also wir sehen wohl ein, daß die eigentümliche Entwicklung Englands
notwendig gewesen ist, aber diese Notwendigkeit ändert nichts an der Unnatur
und Unerträglichkeit ihres Ergebnisses und daran, daß sich ein unnatürlicher
und unerträglicher Zustand auf die Dauer nicht halten läßt, um so weniger,
als er die Existenz der Mehrheit des Volks auf eine schwankende, unsichere
Grundlage stellt, die täglich schmäler zu werden droht; haben wir doch erst
kürzlich wiederum die Klagen des Lord Roseberh über die Gefahren der deutschen
Konkurrenz vernommen, und das erste Kapitel in dem Buche von Williams
ist überschrieben: Englands erbleichender Ruhm. Aus Oldham meldete jüngst
der Hamburgische Korrespondent, daß dort tausende wegen rückständiger Miete
verklagt seien. „Am Mittwoch dauerte die Gerichtssitzung von 2 Uhr nach¬
mittags bis 2 Uhr morgens. Hunderte von Frauen mit Säuglingen auf den
Armen hatten stundenlang zu warten, ehe sie drankamen." In dem Maße,
als alle Staaten der Erde Industriestaaten werden, wird es immer schwieriger,
die Existenz der Bevölkerung auch nur eiues Staates auf die Exportindustrie
zu gründen. Es macht einen beinahe komischen Eindruck, wenn Wißmann in
dem Vortrag über Deutsch-Ostafrika, den er am 21. Oktober in einer Ver¬
sammlung der Internationalen Gesellschaft für vergleichende Rechtspflege und
Volkswirtschaftslehre gehalten hat, über die Bedürfnislosigkeit des Negers klagt,
wie seinerzeit Lassalle über die verdammte Bedürfnislosigkeit des deutschen
Grenzboten IV 1696 77
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