Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Englische Zustände leisten in Liebeswerken bewunderungswürdiges; aber die von christlicher Liebe Damit stehen wir bei der dritten Lehre, die uns die englische Geschichte ") Die Erfolge der Deutschen leitet Williams von folgenden Ursachen ab: niedrigere Löhne
und längere Arbeitszeit, worauf er jedoch kein großes Gewicht legen will, weniger Streiks, größere Billigkeit der Waren, Anbeauemung an den Geschmack der ausländischen Kunden, Schutz¬ zölle und Ausfuhrprämien, größere Findigkeit, gute Dienste der deutschen Konsuln, vortreffliche technische Ausbildung, Freiheit von jenem thörichten englischen Stolz, der es z. V. verschmäht, kleine Bestellungen bis fünf Pfund herab anzunehmen, und der nach Nußland Preislisten in englischer Sprache schickt. Englische Zustände leisten in Liebeswerken bewunderungswürdiges; aber die von christlicher Liebe Damit stehen wir bei der dritten Lehre, die uns die englische Geschichte ") Die Erfolge der Deutschen leitet Williams von folgenden Ursachen ab: niedrigere Löhne
und längere Arbeitszeit, worauf er jedoch kein großes Gewicht legen will, weniger Streiks, größere Billigkeit der Waren, Anbeauemung an den Geschmack der ausländischen Kunden, Schutz¬ zölle und Ausfuhrprämien, größere Findigkeit, gute Dienste der deutschen Konsuln, vortreffliche technische Ausbildung, Freiheit von jenem thörichten englischen Stolz, der es z. V. verschmäht, kleine Bestellungen bis fünf Pfund herab anzunehmen, und der nach Nußland Preislisten in englischer Sprache schickt. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0615" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224199"/> <fw type="header" place="top"> Englische Zustände</fw><lb/> <p xml:id="ID_1818" prev="#ID_1817"> leisten in Liebeswerken bewunderungswürdiges; aber die von christlicher Liebe<lb/> oder konfessionsloser Humanität erfüllten Engländer verurteilen die englische<lb/> Politik, wie das oft auf radikalen Meetings zu Tage tritt, und erlangten sie<lb/> die Herrschaft im Volke, so würde England auf seine See- und Kolonialherr¬<lb/> fchaft verzichten. Bewunderungswürdig ist auch die Opferwilligkeit der orga-<lb/> nisirten Arbeiter und die Selbstüberwindung, mit der sich viele von ihnen,<lb/> weder durch Gesetze uoch durch polizeiliche Bevormundung gezwungen, bloß<lb/> aus Überzeugung, des Alkohols enthalten und auch in allem übrigen des ehr¬<lb/> barsten und strengsten Wandels befleißigen. Aber nicht diese Tugenden sind<lb/> es, .durch die England sein kommerzielles Übergewicht erlangt hat; dieses<lb/> moralische Selfgovernment der englischen Arbeiter ist neuern Ursprungs, erst<lb/> eine Frucht der Gewerkvereine und Genossenschaften; in der Zeit des großen<lb/> Aufschwungs herrschte der Alkohol in den untern Volksschichten beinahe un¬<lb/> umschränkt, und sofern sich diese nüchternen, zähen und steifnackigen modernen<lb/> Arbeiter im Besitz der erruugnen höhern Löhne behaupten, gefährden sie nach<lb/> Ansicht der meisten englischen Unternehmer die Stellung Englands auf dem<lb/> Weltmarkt. Der englische Nationalstolz endlich ist ohne Zweisel nicht bloß<lb/> ein Erzeugnis, souderu auch eine Mitursache der englischen Macht, aber jetzt<lb/> droht er eine Ursache des Verfalls zu werden; durch ihre wirtschaftlichen Er¬<lb/> folge hochmütig gemacht, haben die Engländer, wie Williams in seinem Nitäs<lb/> in Osrima>uz^) nachweist, zu lange den wirtschaftlichen Fortschritt andrer Völker<lb/> übersehen, namentlich anch den Vorsprung, den uns Deutschen unsre gediegnere<lb/> Vollsschul- und technische Bildung sichert, sodaß es ihnen ähnlich gehen kann<lb/> wie den Franzosen, denen ihre militärischen Erfolge schließlich zum Verderben<lb/> gereicht haben.</p><lb/> <p xml:id="ID_1819" next="#ID_1820"> Damit stehen wir bei der dritten Lehre, die uns die englische Geschichte<lb/> erteilt: daß sich der einseitige Industriestaat mit der Zeit selbst aufhebt. Nach<lb/> Hegel freilich ist es das allgemeine Schicksal aller geschichtlichen Gebilde, den<lb/> Keim der Auflösung in sich tragen und selbst entwickeln zu müssen, aber gerade<lb/> beim englischen Gesellschaftsbau tritt das auffälliger hervor; hier scheint der<lb/> Verfall dem Wachstum rascher folgen zu wollen als bei irgend einer andern<lb/> historischen Erscheinung. Die räumliche Scheidung der Industrie von der<lb/> Landwirtschaft, die völlige Loslösung der Mehrheit der Bevölkerung vom<lb/> Boden, die sie nicht allein der Existenzsicherheit, sondern auch jedes Natur-</p><lb/> <note xml:id="FID_83" place="foot"> ") Die Erfolge der Deutschen leitet Williams von folgenden Ursachen ab: niedrigere Löhne<lb/> und längere Arbeitszeit, worauf er jedoch kein großes Gewicht legen will, weniger Streiks,<lb/> größere Billigkeit der Waren, Anbeauemung an den Geschmack der ausländischen Kunden, Schutz¬<lb/> zölle und Ausfuhrprämien, größere Findigkeit, gute Dienste der deutschen Konsuln, vortreffliche<lb/> technische Ausbildung, Freiheit von jenem thörichten englischen Stolz, der es z. V. verschmäht,<lb/> kleine Bestellungen bis fünf Pfund herab anzunehmen, und der nach Nußland Preislisten in<lb/> englischer Sprache schickt.</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0615]
Englische Zustände
leisten in Liebeswerken bewunderungswürdiges; aber die von christlicher Liebe
oder konfessionsloser Humanität erfüllten Engländer verurteilen die englische
Politik, wie das oft auf radikalen Meetings zu Tage tritt, und erlangten sie
die Herrschaft im Volke, so würde England auf seine See- und Kolonialherr¬
fchaft verzichten. Bewunderungswürdig ist auch die Opferwilligkeit der orga-
nisirten Arbeiter und die Selbstüberwindung, mit der sich viele von ihnen,
weder durch Gesetze uoch durch polizeiliche Bevormundung gezwungen, bloß
aus Überzeugung, des Alkohols enthalten und auch in allem übrigen des ehr¬
barsten und strengsten Wandels befleißigen. Aber nicht diese Tugenden sind
es, .durch die England sein kommerzielles Übergewicht erlangt hat; dieses
moralische Selfgovernment der englischen Arbeiter ist neuern Ursprungs, erst
eine Frucht der Gewerkvereine und Genossenschaften; in der Zeit des großen
Aufschwungs herrschte der Alkohol in den untern Volksschichten beinahe un¬
umschränkt, und sofern sich diese nüchternen, zähen und steifnackigen modernen
Arbeiter im Besitz der erruugnen höhern Löhne behaupten, gefährden sie nach
Ansicht der meisten englischen Unternehmer die Stellung Englands auf dem
Weltmarkt. Der englische Nationalstolz endlich ist ohne Zweisel nicht bloß
ein Erzeugnis, souderu auch eine Mitursache der englischen Macht, aber jetzt
droht er eine Ursache des Verfalls zu werden; durch ihre wirtschaftlichen Er¬
folge hochmütig gemacht, haben die Engländer, wie Williams in seinem Nitäs
in Osrima>uz^) nachweist, zu lange den wirtschaftlichen Fortschritt andrer Völker
übersehen, namentlich anch den Vorsprung, den uns Deutschen unsre gediegnere
Vollsschul- und technische Bildung sichert, sodaß es ihnen ähnlich gehen kann
wie den Franzosen, denen ihre militärischen Erfolge schließlich zum Verderben
gereicht haben.
Damit stehen wir bei der dritten Lehre, die uns die englische Geschichte
erteilt: daß sich der einseitige Industriestaat mit der Zeit selbst aufhebt. Nach
Hegel freilich ist es das allgemeine Schicksal aller geschichtlichen Gebilde, den
Keim der Auflösung in sich tragen und selbst entwickeln zu müssen, aber gerade
beim englischen Gesellschaftsbau tritt das auffälliger hervor; hier scheint der
Verfall dem Wachstum rascher folgen zu wollen als bei irgend einer andern
historischen Erscheinung. Die räumliche Scheidung der Industrie von der
Landwirtschaft, die völlige Loslösung der Mehrheit der Bevölkerung vom
Boden, die sie nicht allein der Existenzsicherheit, sondern auch jedes Natur-
") Die Erfolge der Deutschen leitet Williams von folgenden Ursachen ab: niedrigere Löhne
und längere Arbeitszeit, worauf er jedoch kein großes Gewicht legen will, weniger Streiks,
größere Billigkeit der Waren, Anbeauemung an den Geschmack der ausländischen Kunden, Schutz¬
zölle und Ausfuhrprämien, größere Findigkeit, gute Dienste der deutschen Konsuln, vortreffliche
technische Ausbildung, Freiheit von jenem thörichten englischen Stolz, der es z. V. verschmäht,
kleine Bestellungen bis fünf Pfund herab anzunehmen, und der nach Nußland Preislisten in
englischer Sprache schickt.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |