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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Englische Zustände

nützen. Andrerseits werden die Iren in ihrer neuen Heimat dafür sorgen, daß
die Handelseifersucht der Vereinigten Staaten auf England durch einen wütenden
Nationalhaß verstärkt und vergiftet und die Stimme des verwandten angel¬
sächsischen Blutes übertönt werde, und das kann für die englische Weltmacht
verhängnisvoll werden.

Das zweite Hauptergebnis der neuern englischen Geschichte ist die That¬
sache, daß die durch den industriellen Konkurrenzkampf bewirkte soziale Auslese
nicht als durchaus befriedigend und erfreulich bezeichnet werden kann. Wir
brauchen dabei nicht zu verweilen, weil diese Erfahrungsthatsache erst vor
kurzem, in Ur. 40, erörtert worden ist. Diese moderne Selektion entwickelt
die Bevölkerung einseitig und schief, die von ihr geforderten Anlagen, Gemüts¬
und Charaktereigenschaften sind zwar teilweise achtungswert, aber im ganzen
nicht eben die höchsten, und ein großer Teil der Bevölkerung fällt dabei leib¬
licher Verkümmerung, ein nicht geringer Teil abscheulichster Verkommenheit
anheim. Wir sind weit entfernt von grundsätzlichen Engländerhaß. Die
Engländer sind kein liebenswürdiges, aber ein bewunderungswürdiges Volk,
und wir versagen ihnen die Bewunderung nicht, die sie verdienen. Auch sind
wir völlig frei von dem Pharisäismus, der die englische Selbstsucht verdammt,
als ob es irgend eine Nation ans Erden gäbe oder jemals gegeben hätte, die
sich, als Nation und in ihrer Politik, von einem andern Beweggrunde als
von der Selbstsucht hätte leiten lassen. Der berüchtigte englische Carl, der
eben mit zu den hergebrachten Mitteln der englischen Politik gehört, schlägt
auch manchmal in zynische Offenheit um, und so hat denn vor einiger Zeit
der 8tM<ig.ra die gegen Englands ägyptische Politik erhobnen Anklagen kalt¬
blütig mit der Bemerkung abgefertigt: um das Urteil des Auslands brauchen
wir uns nicht zu kümmern; es ist besser für eiuen großen Diebstahl gehängt
zu werden als für einen kleinen. Der Tngendstolz der weniger glücklichen
Konkurrenten Englands gründet sich bloß darauf, daß ihnen zu große,? Dieb¬
stählen bisher entweder die Kraft oder der Mut oder das Geschick gefehlt
hat, oder daß sie über unnützen Dingen nützliche Diebstähle und Raubzuge
versäumt haben. Nicht als Moralrichter prüfen wir die Geschichte Englands,
sondern als Realpolitiker, die zu ergründen suchen, was bei einer gewissen
Richtung der Entwicklung für eine Nation herauskommt. Und da müssen
wir denn sagen: wie es weder die christlichen noch die kleinbügerlichett
Tugenden gewesen sind, die England groß gemacht haben, so sind es wiederum
nicht diese Tugenden, was vorzugsweise durch die moderne Entwicklung Eng¬
lands gefördert wird; noch weniger gedeiht dabei die Humanität, und was
vom rcalpolitischen Standpunkte aus das schlimmste ist: man weiß nicht ein¬
mal, ob die so zustande gekommne Gesamtverfassung des englischen Volksgeistes
auch die geeignetste sein wird, die errungne Weltstellung zu behaupten. Es
giebt echtes Christentum und echte Humanität in England, gewiß, und sie


Englische Zustände

nützen. Andrerseits werden die Iren in ihrer neuen Heimat dafür sorgen, daß
die Handelseifersucht der Vereinigten Staaten auf England durch einen wütenden
Nationalhaß verstärkt und vergiftet und die Stimme des verwandten angel¬
sächsischen Blutes übertönt werde, und das kann für die englische Weltmacht
verhängnisvoll werden.

Das zweite Hauptergebnis der neuern englischen Geschichte ist die That¬
sache, daß die durch den industriellen Konkurrenzkampf bewirkte soziale Auslese
nicht als durchaus befriedigend und erfreulich bezeichnet werden kann. Wir
brauchen dabei nicht zu verweilen, weil diese Erfahrungsthatsache erst vor
kurzem, in Ur. 40, erörtert worden ist. Diese moderne Selektion entwickelt
die Bevölkerung einseitig und schief, die von ihr geforderten Anlagen, Gemüts¬
und Charaktereigenschaften sind zwar teilweise achtungswert, aber im ganzen
nicht eben die höchsten, und ein großer Teil der Bevölkerung fällt dabei leib¬
licher Verkümmerung, ein nicht geringer Teil abscheulichster Verkommenheit
anheim. Wir sind weit entfernt von grundsätzlichen Engländerhaß. Die
Engländer sind kein liebenswürdiges, aber ein bewunderungswürdiges Volk,
und wir versagen ihnen die Bewunderung nicht, die sie verdienen. Auch sind
wir völlig frei von dem Pharisäismus, der die englische Selbstsucht verdammt,
als ob es irgend eine Nation ans Erden gäbe oder jemals gegeben hätte, die
sich, als Nation und in ihrer Politik, von einem andern Beweggrunde als
von der Selbstsucht hätte leiten lassen. Der berüchtigte englische Carl, der
eben mit zu den hergebrachten Mitteln der englischen Politik gehört, schlägt
auch manchmal in zynische Offenheit um, und so hat denn vor einiger Zeit
der 8tM<ig.ra die gegen Englands ägyptische Politik erhobnen Anklagen kalt¬
blütig mit der Bemerkung abgefertigt: um das Urteil des Auslands brauchen
wir uns nicht zu kümmern; es ist besser für eiuen großen Diebstahl gehängt
zu werden als für einen kleinen. Der Tngendstolz der weniger glücklichen
Konkurrenten Englands gründet sich bloß darauf, daß ihnen zu große,? Dieb¬
stählen bisher entweder die Kraft oder der Mut oder das Geschick gefehlt
hat, oder daß sie über unnützen Dingen nützliche Diebstähle und Raubzuge
versäumt haben. Nicht als Moralrichter prüfen wir die Geschichte Englands,
sondern als Realpolitiker, die zu ergründen suchen, was bei einer gewissen
Richtung der Entwicklung für eine Nation herauskommt. Und da müssen
wir denn sagen: wie es weder die christlichen noch die kleinbügerlichett
Tugenden gewesen sind, die England groß gemacht haben, so sind es wiederum
nicht diese Tugenden, was vorzugsweise durch die moderne Entwicklung Eng¬
lands gefördert wird; noch weniger gedeiht dabei die Humanität, und was
vom rcalpolitischen Standpunkte aus das schlimmste ist: man weiß nicht ein¬
mal, ob die so zustande gekommne Gesamtverfassung des englischen Volksgeistes
auch die geeignetste sein wird, die errungne Weltstellung zu behaupten. Es
giebt echtes Christentum und echte Humanität in England, gewiß, und sie


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[0614] Englische Zustände nützen. Andrerseits werden die Iren in ihrer neuen Heimat dafür sorgen, daß die Handelseifersucht der Vereinigten Staaten auf England durch einen wütenden Nationalhaß verstärkt und vergiftet und die Stimme des verwandten angel¬ sächsischen Blutes übertönt werde, und das kann für die englische Weltmacht verhängnisvoll werden. Das zweite Hauptergebnis der neuern englischen Geschichte ist die That¬ sache, daß die durch den industriellen Konkurrenzkampf bewirkte soziale Auslese nicht als durchaus befriedigend und erfreulich bezeichnet werden kann. Wir brauchen dabei nicht zu verweilen, weil diese Erfahrungsthatsache erst vor kurzem, in Ur. 40, erörtert worden ist. Diese moderne Selektion entwickelt die Bevölkerung einseitig und schief, die von ihr geforderten Anlagen, Gemüts¬ und Charaktereigenschaften sind zwar teilweise achtungswert, aber im ganzen nicht eben die höchsten, und ein großer Teil der Bevölkerung fällt dabei leib¬ licher Verkümmerung, ein nicht geringer Teil abscheulichster Verkommenheit anheim. Wir sind weit entfernt von grundsätzlichen Engländerhaß. Die Engländer sind kein liebenswürdiges, aber ein bewunderungswürdiges Volk, und wir versagen ihnen die Bewunderung nicht, die sie verdienen. Auch sind wir völlig frei von dem Pharisäismus, der die englische Selbstsucht verdammt, als ob es irgend eine Nation ans Erden gäbe oder jemals gegeben hätte, die sich, als Nation und in ihrer Politik, von einem andern Beweggrunde als von der Selbstsucht hätte leiten lassen. Der berüchtigte englische Carl, der eben mit zu den hergebrachten Mitteln der englischen Politik gehört, schlägt auch manchmal in zynische Offenheit um, und so hat denn vor einiger Zeit der 8tM<ig.ra die gegen Englands ägyptische Politik erhobnen Anklagen kalt¬ blütig mit der Bemerkung abgefertigt: um das Urteil des Auslands brauchen wir uns nicht zu kümmern; es ist besser für eiuen großen Diebstahl gehängt zu werden als für einen kleinen. Der Tngendstolz der weniger glücklichen Konkurrenten Englands gründet sich bloß darauf, daß ihnen zu große,? Dieb¬ stählen bisher entweder die Kraft oder der Mut oder das Geschick gefehlt hat, oder daß sie über unnützen Dingen nützliche Diebstähle und Raubzuge versäumt haben. Nicht als Moralrichter prüfen wir die Geschichte Englands, sondern als Realpolitiker, die zu ergründen suchen, was bei einer gewissen Richtung der Entwicklung für eine Nation herauskommt. Und da müssen wir denn sagen: wie es weder die christlichen noch die kleinbügerlichett Tugenden gewesen sind, die England groß gemacht haben, so sind es wiederum nicht diese Tugenden, was vorzugsweise durch die moderne Entwicklung Eng¬ lands gefördert wird; noch weniger gedeiht dabei die Humanität, und was vom rcalpolitischen Standpunkte aus das schlimmste ist: man weiß nicht ein¬ mal, ob die so zustande gekommne Gesamtverfassung des englischen Volksgeistes auch die geeignetste sein wird, die errungne Weltstellung zu behaupten. Es giebt echtes Christentum und echte Humanität in England, gewiß, und sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/614>, abgerufen am 08.01.2025.