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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Denn es soll jetzt ein Kongreß von allen niederländischen Blättern ins Leben
gerufen werden, wozu zunächst ein Komitee von nord- und südniederländischer
Redakteuren eingesetzt werden wird. Dadurch wird natürlich ein kräftiges Mittel
zur Propaganda für die großuiederländische Idee entstehen. Nach dem Beispiele
Preußens sucht man auch durch Anbahnung eines gemeinsamen Zollverbandes
das Ziel zu erreichen. Er wurde früher durch den jetzt verstorbnen Herrn
Scherpenseel, jetzt dnrch die Herren Meere und Reinhard mit Eifer verfochten.
Ferner verspricht mau sich von der Einführung eines herabgesetzten Posttarifs,
wonach das Briefporto innerhalb Grvßniederlands nicht höher sein soll als
das im Inlande, eine größere Annäherung der beiden Staaten.

Fragen wir nun, ob eine solche größere Annäherung wünschenswert
sei? Da die Bewohner beider Staaten derselben Abstammung sind, und sie
ferner dieselben Interessen haben, so ist die Frage gewiß zu bejahen, selbst
wenn dynastische Wünsche dabei nicht berücksichtigt werden können. L-Aus rei
publieas summa lex ssto. Wilhelm von Oranien, der große Schweiger, hat
sich seinerzeit die größte Mühe gegeben, die niederländischen Provinzen zu
einem Staatenbund zu vereinigen. Aber bekanntlich gelang ihm das nur
mit den nördlichen. Seit der Zeit sind die beiden Staaten getrennte Wege
gegangen. Der Vlaming wurde dnrch französische Zivilisation dem Deutschtum
entfremdet, der Holländer durch seine politische Unabhängigkeit. Belgien gehörte
zum deutschen Reich, aber der einzelne Vlame wußte wenig genug davon.
Die Anhänglichkeit an das Reich ist ihm schließlich völlig abhanden gekommen,
und die Unwissenheit in geschichtlichen Dingen ist in Belgien so groß, daß
man bei sogenannten Gebildeten, u. a. auch bei Chefredakteuren von flamingan-
tischcn d. h. vlümisch gesinnten Zeitungen die verdutztesten Gesichter trifft, wenn
man ihnen sagt, ihr Land habe noch vor hundert Jahren zum deutschen Reiche
gehört. Ja zwischen beiden Staaten selbst war jahrhundertelang so wenig
Verkehr, daß die Holländer bei der Wiedervereinigung als Fremde angesehen
wurden.

Die "holländische" Sprache, die im Grunde auf die alte vlnmische Sprache
zurückgeht, war unpopulär, weil das belgische Volk, soweit es nicht französisch
sprach, aufgehört hatte, eine Litteratnrsprache zu haben. Erst laugsam bricht
sich im Süden die Erkenntnis Bahn, daß die Holländer und Vlamländer
eine Einheit bilden sollten. Besonders die Wallonen sind der Idee abhold,
teils aus Unwissenheit, indem sie sich nämlich keine Mühe gegeben haben, sich
um die Sprachverhältnisse ihrer vlämischcu Mitbürger zu kümmern und daher
bestündig von einem Gegensatz reden zwischen niederländischer und vlümischer
Sprache, den sie nicht groß genng hinstellen können, teils weil sie von einer
Annäherung das Zurückgehen der französischen Sprache und ihres eignen Ein¬
flusses fürchten, und mit Recht. Hinter ihnen stand als ideale Stütze die
ganze französische Nation mit ihrer reichen Litteratur. Selbst die Vlam-


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Denn es soll jetzt ein Kongreß von allen niederländischen Blättern ins Leben
gerufen werden, wozu zunächst ein Komitee von nord- und südniederländischer
Redakteuren eingesetzt werden wird. Dadurch wird natürlich ein kräftiges Mittel
zur Propaganda für die großuiederländische Idee entstehen. Nach dem Beispiele
Preußens sucht man auch durch Anbahnung eines gemeinsamen Zollverbandes
das Ziel zu erreichen. Er wurde früher durch den jetzt verstorbnen Herrn
Scherpenseel, jetzt dnrch die Herren Meere und Reinhard mit Eifer verfochten.
Ferner verspricht mau sich von der Einführung eines herabgesetzten Posttarifs,
wonach das Briefporto innerhalb Grvßniederlands nicht höher sein soll als
das im Inlande, eine größere Annäherung der beiden Staaten.

Fragen wir nun, ob eine solche größere Annäherung wünschenswert
sei? Da die Bewohner beider Staaten derselben Abstammung sind, und sie
ferner dieselben Interessen haben, so ist die Frage gewiß zu bejahen, selbst
wenn dynastische Wünsche dabei nicht berücksichtigt werden können. L-Aus rei
publieas summa lex ssto. Wilhelm von Oranien, der große Schweiger, hat
sich seinerzeit die größte Mühe gegeben, die niederländischen Provinzen zu
einem Staatenbund zu vereinigen. Aber bekanntlich gelang ihm das nur
mit den nördlichen. Seit der Zeit sind die beiden Staaten getrennte Wege
gegangen. Der Vlaming wurde dnrch französische Zivilisation dem Deutschtum
entfremdet, der Holländer durch seine politische Unabhängigkeit. Belgien gehörte
zum deutschen Reich, aber der einzelne Vlame wußte wenig genug davon.
Die Anhänglichkeit an das Reich ist ihm schließlich völlig abhanden gekommen,
und die Unwissenheit in geschichtlichen Dingen ist in Belgien so groß, daß
man bei sogenannten Gebildeten, u. a. auch bei Chefredakteuren von flamingan-
tischcn d. h. vlümisch gesinnten Zeitungen die verdutztesten Gesichter trifft, wenn
man ihnen sagt, ihr Land habe noch vor hundert Jahren zum deutschen Reiche
gehört. Ja zwischen beiden Staaten selbst war jahrhundertelang so wenig
Verkehr, daß die Holländer bei der Wiedervereinigung als Fremde angesehen
wurden.

Die „holländische" Sprache, die im Grunde auf die alte vlnmische Sprache
zurückgeht, war unpopulär, weil das belgische Volk, soweit es nicht französisch
sprach, aufgehört hatte, eine Litteratnrsprache zu haben. Erst laugsam bricht
sich im Süden die Erkenntnis Bahn, daß die Holländer und Vlamländer
eine Einheit bilden sollten. Besonders die Wallonen sind der Idee abhold,
teils aus Unwissenheit, indem sie sich nämlich keine Mühe gegeben haben, sich
um die Sprachverhältnisse ihrer vlämischcu Mitbürger zu kümmern und daher
bestündig von einem Gegensatz reden zwischen niederländischer und vlümischer
Sprache, den sie nicht groß genng hinstellen können, teils weil sie von einer
Annäherung das Zurückgehen der französischen Sprache und ihres eignen Ein¬
flusses fürchten, und mit Recht. Hinter ihnen stand als ideale Stütze die
ganze französische Nation mit ihrer reichen Litteratur. Selbst die Vlam-


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[0606] Großniederlcmd Denn es soll jetzt ein Kongreß von allen niederländischen Blättern ins Leben gerufen werden, wozu zunächst ein Komitee von nord- und südniederländischer Redakteuren eingesetzt werden wird. Dadurch wird natürlich ein kräftiges Mittel zur Propaganda für die großuiederländische Idee entstehen. Nach dem Beispiele Preußens sucht man auch durch Anbahnung eines gemeinsamen Zollverbandes das Ziel zu erreichen. Er wurde früher durch den jetzt verstorbnen Herrn Scherpenseel, jetzt dnrch die Herren Meere und Reinhard mit Eifer verfochten. Ferner verspricht mau sich von der Einführung eines herabgesetzten Posttarifs, wonach das Briefporto innerhalb Grvßniederlands nicht höher sein soll als das im Inlande, eine größere Annäherung der beiden Staaten. Fragen wir nun, ob eine solche größere Annäherung wünschenswert sei? Da die Bewohner beider Staaten derselben Abstammung sind, und sie ferner dieselben Interessen haben, so ist die Frage gewiß zu bejahen, selbst wenn dynastische Wünsche dabei nicht berücksichtigt werden können. L-Aus rei publieas summa lex ssto. Wilhelm von Oranien, der große Schweiger, hat sich seinerzeit die größte Mühe gegeben, die niederländischen Provinzen zu einem Staatenbund zu vereinigen. Aber bekanntlich gelang ihm das nur mit den nördlichen. Seit der Zeit sind die beiden Staaten getrennte Wege gegangen. Der Vlaming wurde dnrch französische Zivilisation dem Deutschtum entfremdet, der Holländer durch seine politische Unabhängigkeit. Belgien gehörte zum deutschen Reich, aber der einzelne Vlame wußte wenig genug davon. Die Anhänglichkeit an das Reich ist ihm schließlich völlig abhanden gekommen, und die Unwissenheit in geschichtlichen Dingen ist in Belgien so groß, daß man bei sogenannten Gebildeten, u. a. auch bei Chefredakteuren von flamingan- tischcn d. h. vlümisch gesinnten Zeitungen die verdutztesten Gesichter trifft, wenn man ihnen sagt, ihr Land habe noch vor hundert Jahren zum deutschen Reiche gehört. Ja zwischen beiden Staaten selbst war jahrhundertelang so wenig Verkehr, daß die Holländer bei der Wiedervereinigung als Fremde angesehen wurden. Die „holländische" Sprache, die im Grunde auf die alte vlnmische Sprache zurückgeht, war unpopulär, weil das belgische Volk, soweit es nicht französisch sprach, aufgehört hatte, eine Litteratnrsprache zu haben. Erst laugsam bricht sich im Süden die Erkenntnis Bahn, daß die Holländer und Vlamländer eine Einheit bilden sollten. Besonders die Wallonen sind der Idee abhold, teils aus Unwissenheit, indem sie sich nämlich keine Mühe gegeben haben, sich um die Sprachverhältnisse ihrer vlämischcu Mitbürger zu kümmern und daher bestündig von einem Gegensatz reden zwischen niederländischer und vlümischer Sprache, den sie nicht groß genng hinstellen können, teils weil sie von einer Annäherung das Zurückgehen der französischen Sprache und ihres eignen Ein¬ flusses fürchten, und mit Recht. Hinter ihnen stand als ideale Stütze die ganze französische Nation mit ihrer reichen Litteratur. Selbst die Vlam-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/606>, abgerufen am 08.01.2025.