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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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leicht daß dann der Niederländer in der Kapkolonie auch wieder die Oberhand
gewinnt und das englische Regiment abschüttelt. Man sieht, die Aussicht ist
verlockend.

Auf der andern Seite muß man freilich bekennen, daß es bis dahin noch
weit ist. Denn es sind viele Hindernisse zu überwinden. Bis jetzt besteht
ein gewisser Antagonismus selbst zwischen Vlamen und Holländern, der schwer
zu beseitigen sein wird. Es ist ganz ähnlich wie im deutschen Reiche, wo sich
auch Nord- und Süddeutsche noch lange schroff gegenüberstehen werden, ob¬
wohl sie durch eine politische Umwälzung und durch die Annäherung zwischen
den Gebildeten zu einem Bundesstaat vereinigt worden sind. Täusche man sich
darüber nicht! Bei vollkommner Freiheit der Meinungsäußerung ist es sehr
schwer, Volksstämme zu vereinigen. Gewöhnlich geschieht es nnr durch die
Not, aus der man dann nachträglich eine Tugend macht. Auch Nordnieder¬
länder und Süduiederländer sind schon einmal aneinandergeschmiedet gewesen.
Aber bald zeigte sich die Verschiedenheit ihres Charakters. Der Vlame ist
lebhaft und impulsiv, lebenslustig, heiter, der Holländer kalt und berechnend.
Der Belgier ist katholisch, und die Geistlichkeit sah natürlich mit Mißtrauen
auf den Einfluß der protestantischen Nordländer. Die Bischöfe sind noch heute
fransqnillvnisch, d. h. Französlinge. Sie stehen in engster Verbindung mit
den leitenden Kreisen, und diese sind wallonisch. Die niedre Geistlichkeit hält
es freilich mit dem Volk, aus dem sie hervorgegangen ist, aber sie kaun ohne
den Willen der Bischöfe nicht über eine gewisse Grenze hinausgehen. Die von
Priestern geleiteten Schulen sind auch noch heute Pflanzschulen des Franzosen-
tums. Namentlich in den Erziehungsanstalten für die weibliche Jugend wird
die heimische Sprache in unverantwortlicher Weise vernachlässigt. Die Bischöfe
haben hier meist keinen Einfluß. Die weiblichen Orden, die die Schulen leiten,
stehen meist unter französischen Obern, ihre Mutterhäuser sind in Paris. Da
begreift es sich, daß die Erziehung vollständig französisch ist. Ein Mädchen,
das diesen Unterricht genossen hat, steht zeitlebens unter dem Einfluß des
Franzosentums. Die Frauen haben überhaupt überall, aus Gründen, deren
Darlegung hier zu weit führen würde, eine gewisse Vorliebe für die Fran¬
zosen. Auch in Deutschland kann man davon ein Lied singen.

Aber man kann nicht leugnen, daß die Idee einer Wiedervereinigung trotz
alledem langsame Fortschritte macht. Die Niederländer haben bis jetzt nicht
gewußt, wie stark sie sind, erst das Bewußtsein der Stärke giebt Kraft. Be¬
zeichnenderweise geht das Annäheruugsbestreben im Gegensatz zu Deutschland,
wo es wesentlich auf litterarischem Gebiete gepflegt wurde, dem Wesen des
niederländischen Volkes entsprechend mehr von praktischen Dingen aus. Die
Poesie, das Theater, die Romane verhalten sich noch ablehnend. Zwischen
der nordniederländischen und der südniederländischer Litteratur klafft eine
große Kluft, die erst mit der Zeit ausgefüllt werden kann. Die vlcimische


Großmederland

leicht daß dann der Niederländer in der Kapkolonie auch wieder die Oberhand
gewinnt und das englische Regiment abschüttelt. Man sieht, die Aussicht ist
verlockend.

Auf der andern Seite muß man freilich bekennen, daß es bis dahin noch
weit ist. Denn es sind viele Hindernisse zu überwinden. Bis jetzt besteht
ein gewisser Antagonismus selbst zwischen Vlamen und Holländern, der schwer
zu beseitigen sein wird. Es ist ganz ähnlich wie im deutschen Reiche, wo sich
auch Nord- und Süddeutsche noch lange schroff gegenüberstehen werden, ob¬
wohl sie durch eine politische Umwälzung und durch die Annäherung zwischen
den Gebildeten zu einem Bundesstaat vereinigt worden sind. Täusche man sich
darüber nicht! Bei vollkommner Freiheit der Meinungsäußerung ist es sehr
schwer, Volksstämme zu vereinigen. Gewöhnlich geschieht es nnr durch die
Not, aus der man dann nachträglich eine Tugend macht. Auch Nordnieder¬
länder und Süduiederländer sind schon einmal aneinandergeschmiedet gewesen.
Aber bald zeigte sich die Verschiedenheit ihres Charakters. Der Vlame ist
lebhaft und impulsiv, lebenslustig, heiter, der Holländer kalt und berechnend.
Der Belgier ist katholisch, und die Geistlichkeit sah natürlich mit Mißtrauen
auf den Einfluß der protestantischen Nordländer. Die Bischöfe sind noch heute
fransqnillvnisch, d. h. Französlinge. Sie stehen in engster Verbindung mit
den leitenden Kreisen, und diese sind wallonisch. Die niedre Geistlichkeit hält
es freilich mit dem Volk, aus dem sie hervorgegangen ist, aber sie kaun ohne
den Willen der Bischöfe nicht über eine gewisse Grenze hinausgehen. Die von
Priestern geleiteten Schulen sind auch noch heute Pflanzschulen des Franzosen-
tums. Namentlich in den Erziehungsanstalten für die weibliche Jugend wird
die heimische Sprache in unverantwortlicher Weise vernachlässigt. Die Bischöfe
haben hier meist keinen Einfluß. Die weiblichen Orden, die die Schulen leiten,
stehen meist unter französischen Obern, ihre Mutterhäuser sind in Paris. Da
begreift es sich, daß die Erziehung vollständig französisch ist. Ein Mädchen,
das diesen Unterricht genossen hat, steht zeitlebens unter dem Einfluß des
Franzosentums. Die Frauen haben überhaupt überall, aus Gründen, deren
Darlegung hier zu weit führen würde, eine gewisse Vorliebe für die Fran¬
zosen. Auch in Deutschland kann man davon ein Lied singen.

Aber man kann nicht leugnen, daß die Idee einer Wiedervereinigung trotz
alledem langsame Fortschritte macht. Die Niederländer haben bis jetzt nicht
gewußt, wie stark sie sind, erst das Bewußtsein der Stärke giebt Kraft. Be¬
zeichnenderweise geht das Annäheruugsbestreben im Gegensatz zu Deutschland,
wo es wesentlich auf litterarischem Gebiete gepflegt wurde, dem Wesen des
niederländischen Volkes entsprechend mehr von praktischen Dingen aus. Die
Poesie, das Theater, die Romane verhalten sich noch ablehnend. Zwischen
der nordniederländischen und der südniederländischer Litteratur klafft eine
große Kluft, die erst mit der Zeit ausgefüllt werden kann. Die vlcimische


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[0603] Großmederland leicht daß dann der Niederländer in der Kapkolonie auch wieder die Oberhand gewinnt und das englische Regiment abschüttelt. Man sieht, die Aussicht ist verlockend. Auf der andern Seite muß man freilich bekennen, daß es bis dahin noch weit ist. Denn es sind viele Hindernisse zu überwinden. Bis jetzt besteht ein gewisser Antagonismus selbst zwischen Vlamen und Holländern, der schwer zu beseitigen sein wird. Es ist ganz ähnlich wie im deutschen Reiche, wo sich auch Nord- und Süddeutsche noch lange schroff gegenüberstehen werden, ob¬ wohl sie durch eine politische Umwälzung und durch die Annäherung zwischen den Gebildeten zu einem Bundesstaat vereinigt worden sind. Täusche man sich darüber nicht! Bei vollkommner Freiheit der Meinungsäußerung ist es sehr schwer, Volksstämme zu vereinigen. Gewöhnlich geschieht es nnr durch die Not, aus der man dann nachträglich eine Tugend macht. Auch Nordnieder¬ länder und Süduiederländer sind schon einmal aneinandergeschmiedet gewesen. Aber bald zeigte sich die Verschiedenheit ihres Charakters. Der Vlame ist lebhaft und impulsiv, lebenslustig, heiter, der Holländer kalt und berechnend. Der Belgier ist katholisch, und die Geistlichkeit sah natürlich mit Mißtrauen auf den Einfluß der protestantischen Nordländer. Die Bischöfe sind noch heute fransqnillvnisch, d. h. Französlinge. Sie stehen in engster Verbindung mit den leitenden Kreisen, und diese sind wallonisch. Die niedre Geistlichkeit hält es freilich mit dem Volk, aus dem sie hervorgegangen ist, aber sie kaun ohne den Willen der Bischöfe nicht über eine gewisse Grenze hinausgehen. Die von Priestern geleiteten Schulen sind auch noch heute Pflanzschulen des Franzosen- tums. Namentlich in den Erziehungsanstalten für die weibliche Jugend wird die heimische Sprache in unverantwortlicher Weise vernachlässigt. Die Bischöfe haben hier meist keinen Einfluß. Die weiblichen Orden, die die Schulen leiten, stehen meist unter französischen Obern, ihre Mutterhäuser sind in Paris. Da begreift es sich, daß die Erziehung vollständig französisch ist. Ein Mädchen, das diesen Unterricht genossen hat, steht zeitlebens unter dem Einfluß des Franzosentums. Die Frauen haben überhaupt überall, aus Gründen, deren Darlegung hier zu weit führen würde, eine gewisse Vorliebe für die Fran¬ zosen. Auch in Deutschland kann man davon ein Lied singen. Aber man kann nicht leugnen, daß die Idee einer Wiedervereinigung trotz alledem langsame Fortschritte macht. Die Niederländer haben bis jetzt nicht gewußt, wie stark sie sind, erst das Bewußtsein der Stärke giebt Kraft. Be¬ zeichnenderweise geht das Annäheruugsbestreben im Gegensatz zu Deutschland, wo es wesentlich auf litterarischem Gebiete gepflegt wurde, dem Wesen des niederländischen Volkes entsprechend mehr von praktischen Dingen aus. Die Poesie, das Theater, die Romane verhalten sich noch ablehnend. Zwischen der nordniederländischen und der südniederländischer Litteratur klafft eine große Kluft, die erst mit der Zeit ausgefüllt werden kann. Die vlcimische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/603>, abgerufen am 08.01.2025.