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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Line englische Litteraturgeschichte

durch die ganze englische Litteratur verfolgen läßt und in Spensers Feenköuigin
und in Tennysons Königsidhllen in verklärter Gestalt wieder erscheint.

Mit derselben Klarheit und Anschaulichkeit, wie der Verfasser den orga¬
nischen Zusammenhang der litterarischen Erscheinungen dargestellt hat, behandelt
er auch die vou außen eindringenden Ideen. Die beiden in dem Geistesleben
des englischen Volkes von je besonders stark hervortretenden Charakterzüge sind
konservative Gesinnung und nationales Selbstbewußtsein. Das Selbstbewußtsein
steigert sich zuweilen zu lächerlichem Dünkel und grillenhafter Abgeschlossenheit,
aber es hat das Gute gehabt, daß England im Gegensatz zu audern Kultur¬
völkern auch bei der größtem Überschwemmung mit fremden Ideen seine Eigen¬
tümlichkeit stets behauptet und trotz der oft stürmischen Einflüsse vou außen
den ruhigen Entwicklungsgang seines geistigen Lebens innegehalten hat. Der
hartnäckige, breitspurige Angelsachse hat sich mehr als ein Jahrhundert lang
den ganzen Strom der normannisch-französischen Bildung über den Rücken laufen
lassen, ohne dem Eroberer auch nur die geringsten Zugeständnisse zu machen.
Und als die Verschmelzung der beiden Nassen nicht mehr aufzuhalten war,
blieb der Grundzug des englischen Lebens, die Sprache und Litteratur doch
angelsächsisch, und zu dem neuen Bauwerk lieferte das Französische fast nur
die Ornamente. Wurde auch der Stoff dem Französischen entnommen, wie
es z. B. der altenglische Dichter Layamon in seinem aus Wane entlehnten Brut
that, so mußten sich Inhalt und Form große Änderungen gefallen lassen.

Dieser Zug von Selbständigkeit oder, wenn man will, von Willkür gegen
die Quellen ist seit Layamon bei allen Schriftstellern zu finden, die fremde
Stoffe und Ideen benutzt haben. Kein Kulturvolk zeigt eine solche litterarische
Assimilationskraft wie das englische; was seinem innern Wesen nicht entspricht,
wird abgewiesen. Niemals hat der englische Geist so machtlos und unselb¬
ständig in dem Banne einer fremden Litteratur gestanden wie z. B. der deutsche;
zu keiner Zeit ist das englische Schrifttum ein internationales Sammelbecken
gewesen. Chaucer, der "Morgenstern der englischen Dichtung," hat die großen
Italiener Dante, Boccaccio und Petrarca zwar benutzt, aber er ist nie zu ihrem
Sklaven geworden.

Ebenso wenig ist die griechische und die römische Geisteswelt imstande ge¬
wesen, die selbständige nationale Richtung der englischen Litteratur zu unter¬
brechen. Die Schriftsteller, z. B. Laudor, Mrs. Browning, Swinburne, die wieder
in unserm Jahrhundert jene Welt in die englischen Ideenkreise dichterisch einführen
wollten, haben selbst erkannt, daß sie damit nur eine rein akademische Arbeit
verrichteten. Trotz der zahlreichen Übersetzungen griechischer und römischer
Dichter, die viele englische Schriftsteller von Chapmcm an bis zu Martin und
Fitz-Gerald jahraus jahrein in die englische Litteratur hineinwarfen, ist an
dieser keine wesentliche Beeinflussung zu verspüren. Während der deutsche
Geist seine Eigentümlichkeit durch den einseitig bctriebncn Humanismus einbüßte


Line englische Litteraturgeschichte

durch die ganze englische Litteratur verfolgen läßt und in Spensers Feenköuigin
und in Tennysons Königsidhllen in verklärter Gestalt wieder erscheint.

Mit derselben Klarheit und Anschaulichkeit, wie der Verfasser den orga¬
nischen Zusammenhang der litterarischen Erscheinungen dargestellt hat, behandelt
er auch die vou außen eindringenden Ideen. Die beiden in dem Geistesleben
des englischen Volkes von je besonders stark hervortretenden Charakterzüge sind
konservative Gesinnung und nationales Selbstbewußtsein. Das Selbstbewußtsein
steigert sich zuweilen zu lächerlichem Dünkel und grillenhafter Abgeschlossenheit,
aber es hat das Gute gehabt, daß England im Gegensatz zu audern Kultur¬
völkern auch bei der größtem Überschwemmung mit fremden Ideen seine Eigen¬
tümlichkeit stets behauptet und trotz der oft stürmischen Einflüsse vou außen
den ruhigen Entwicklungsgang seines geistigen Lebens innegehalten hat. Der
hartnäckige, breitspurige Angelsachse hat sich mehr als ein Jahrhundert lang
den ganzen Strom der normannisch-französischen Bildung über den Rücken laufen
lassen, ohne dem Eroberer auch nur die geringsten Zugeständnisse zu machen.
Und als die Verschmelzung der beiden Nassen nicht mehr aufzuhalten war,
blieb der Grundzug des englischen Lebens, die Sprache und Litteratur doch
angelsächsisch, und zu dem neuen Bauwerk lieferte das Französische fast nur
die Ornamente. Wurde auch der Stoff dem Französischen entnommen, wie
es z. B. der altenglische Dichter Layamon in seinem aus Wane entlehnten Brut
that, so mußten sich Inhalt und Form große Änderungen gefallen lassen.

Dieser Zug von Selbständigkeit oder, wenn man will, von Willkür gegen
die Quellen ist seit Layamon bei allen Schriftstellern zu finden, die fremde
Stoffe und Ideen benutzt haben. Kein Kulturvolk zeigt eine solche litterarische
Assimilationskraft wie das englische; was seinem innern Wesen nicht entspricht,
wird abgewiesen. Niemals hat der englische Geist so machtlos und unselb¬
ständig in dem Banne einer fremden Litteratur gestanden wie z. B. der deutsche;
zu keiner Zeit ist das englische Schrifttum ein internationales Sammelbecken
gewesen. Chaucer, der „Morgenstern der englischen Dichtung," hat die großen
Italiener Dante, Boccaccio und Petrarca zwar benutzt, aber er ist nie zu ihrem
Sklaven geworden.

Ebenso wenig ist die griechische und die römische Geisteswelt imstande ge¬
wesen, die selbständige nationale Richtung der englischen Litteratur zu unter¬
brechen. Die Schriftsteller, z. B. Laudor, Mrs. Browning, Swinburne, die wieder
in unserm Jahrhundert jene Welt in die englischen Ideenkreise dichterisch einführen
wollten, haben selbst erkannt, daß sie damit nur eine rein akademische Arbeit
verrichteten. Trotz der zahlreichen Übersetzungen griechischer und römischer
Dichter, die viele englische Schriftsteller von Chapmcm an bis zu Martin und
Fitz-Gerald jahraus jahrein in die englische Litteratur hineinwarfen, ist an
dieser keine wesentliche Beeinflussung zu verspüren. Während der deutsche
Geist seine Eigentümlichkeit durch den einseitig bctriebncn Humanismus einbüßte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/572>, abgerufen am 08.01.2025.