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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Line englische Litteraturgeschichte

und erst auf vielen Umwegen zu seineu natürlichen Lebensquellen zurückgeführt
wurde, hat in England die große Revolution, die dem Volke unzählige natio¬
nale und praktische Aufgaben stellte, den allzu üppig cmporwuchcrnden Huma¬
nismus vou vornherein gründlich beschnitten und eingezänut. Dadurch blieb
England von dem unglückseligen Dualismus verschont, der das deutsche Volk
zum Unheil für die Kunst und die Litteratur in eine gebildete Gesellschaft und
eine außerhalb des Heiligtums steheude ungebildete Masse trennte. In
England haben daher die großen Schriftsteller stets das ganze Volk hinter
sich gehabt, in Deutschland immer nur die sogenannten Gebildeten und diese
oft erst nach langen Kämpfen. So wenig aber die humanistischen Studien
den nationalen Charakter der englischen Litteratur verändert haben, so wenig
hat der französische Pseudoklassizismns nach der Restauration im englischen
Geistesleben Wurzel fassen tonnen. Die beiden gewaltigen, wieder hervor¬
brechenden nationalen Strömungen, die Begeisterung für Shakespeare und
für die altenglische Volksdichtung, haben das fremde Gewächs schon in der
Mitte des vorigen Jahrhunderts hinweggespült. Ebenso ohnmächtig hat sich
der Einfluß der spanische", der deutschen, der nordischen und der orientalischen
Poesie gezeigt. Nichts bezeichnet den Unterschied zwischen der deutschen und
der englischen Litteratur mehr als ihr Verhalten zur orientalischen Dichtung.
Obgleich England seit mehr als einem Jahrhundert mit dem Orient in den
engsten politischen und wirtschaftlichen Beziehungen steht, hat die orientalische
Litteratur doch nur auf wenige Schriftsteller eingewirkt, auf Thomas Moore,
Edwin Arnold und Toru Dult, sonst aber keinen nennenswerten Einfluß auf
die Form oder die Ideenkreise der englischen Dichtung ausgeübt. Dagegen
halte man die tiefen Einwirkungen des Orients auf die deutsche Dichtung,
obwohl das deutsche Volk weder politisch uoch wirtschaftlich mit dem Orient
zu thun gehabt hat. Nicht allein ganze Stoffgebiete wie die orientalische
Märchenwelt siud bei uns heimisch geworden, auch die indische Philosophie
Uno Mystik hat seit Schopenhauer eine große Zahl deutscher Schriftsteller in
ihrer Weltanschauung beeinflußt. Dazu kommt, daß die deutsche Lyrik viele
orientalische Formen angenommen hat, und daß sie sich bis auf Bodeustedts
volkstümlich gewordne Mirza Schaffylieder vom orientalischen Geiste hat
ziemlich stark beeinflussen lassen. Von allen diesen formalen und geistigen
Einwirkungen ist in der englischen Litteratur wenig zu verspüren. Die englische
Dichtung ist infolge ihres selbständigen, stetigen, in sich abgeschlossenen Geistes
und ihrer nie versiegenden volkstümlichen Lebensquellen im wahren Sinne des
Wortes eine Nationallitteratur.

Von diesen Ideen hat sich auch Wülker in seiner Geschichte der englischem
Litteratur leiten lassen. Der große, selbständige germanische Zug im englischen
Geistesleben reißt ihn mit Recht zur Bewundrung hin. Die Grundsätze, die
als Literarhistoriker befolgt, muß man oft zwischen den Zeilen lesen; hie


Line englische Litteraturgeschichte

und erst auf vielen Umwegen zu seineu natürlichen Lebensquellen zurückgeführt
wurde, hat in England die große Revolution, die dem Volke unzählige natio¬
nale und praktische Aufgaben stellte, den allzu üppig cmporwuchcrnden Huma¬
nismus vou vornherein gründlich beschnitten und eingezänut. Dadurch blieb
England von dem unglückseligen Dualismus verschont, der das deutsche Volk
zum Unheil für die Kunst und die Litteratur in eine gebildete Gesellschaft und
eine außerhalb des Heiligtums steheude ungebildete Masse trennte. In
England haben daher die großen Schriftsteller stets das ganze Volk hinter
sich gehabt, in Deutschland immer nur die sogenannten Gebildeten und diese
oft erst nach langen Kämpfen. So wenig aber die humanistischen Studien
den nationalen Charakter der englischen Litteratur verändert haben, so wenig
hat der französische Pseudoklassizismns nach der Restauration im englischen
Geistesleben Wurzel fassen tonnen. Die beiden gewaltigen, wieder hervor¬
brechenden nationalen Strömungen, die Begeisterung für Shakespeare und
für die altenglische Volksdichtung, haben das fremde Gewächs schon in der
Mitte des vorigen Jahrhunderts hinweggespült. Ebenso ohnmächtig hat sich
der Einfluß der spanische», der deutschen, der nordischen und der orientalischen
Poesie gezeigt. Nichts bezeichnet den Unterschied zwischen der deutschen und
der englischen Litteratur mehr als ihr Verhalten zur orientalischen Dichtung.
Obgleich England seit mehr als einem Jahrhundert mit dem Orient in den
engsten politischen und wirtschaftlichen Beziehungen steht, hat die orientalische
Litteratur doch nur auf wenige Schriftsteller eingewirkt, auf Thomas Moore,
Edwin Arnold und Toru Dult, sonst aber keinen nennenswerten Einfluß auf
die Form oder die Ideenkreise der englischen Dichtung ausgeübt. Dagegen
halte man die tiefen Einwirkungen des Orients auf die deutsche Dichtung,
obwohl das deutsche Volk weder politisch uoch wirtschaftlich mit dem Orient
zu thun gehabt hat. Nicht allein ganze Stoffgebiete wie die orientalische
Märchenwelt siud bei uns heimisch geworden, auch die indische Philosophie
Uno Mystik hat seit Schopenhauer eine große Zahl deutscher Schriftsteller in
ihrer Weltanschauung beeinflußt. Dazu kommt, daß die deutsche Lyrik viele
orientalische Formen angenommen hat, und daß sie sich bis auf Bodeustedts
volkstümlich gewordne Mirza Schaffylieder vom orientalischen Geiste hat
ziemlich stark beeinflussen lassen. Von allen diesen formalen und geistigen
Einwirkungen ist in der englischen Litteratur wenig zu verspüren. Die englische
Dichtung ist infolge ihres selbständigen, stetigen, in sich abgeschlossenen Geistes
und ihrer nie versiegenden volkstümlichen Lebensquellen im wahren Sinne des
Wortes eine Nationallitteratur.

Von diesen Ideen hat sich auch Wülker in seiner Geschichte der englischem
Litteratur leiten lassen. Der große, selbständige germanische Zug im englischen
Geistesleben reißt ihn mit Recht zur Bewundrung hin. Die Grundsätze, die
als Literarhistoriker befolgt, muß man oft zwischen den Zeilen lesen; hie


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[0573] Line englische Litteraturgeschichte und erst auf vielen Umwegen zu seineu natürlichen Lebensquellen zurückgeführt wurde, hat in England die große Revolution, die dem Volke unzählige natio¬ nale und praktische Aufgaben stellte, den allzu üppig cmporwuchcrnden Huma¬ nismus vou vornherein gründlich beschnitten und eingezänut. Dadurch blieb England von dem unglückseligen Dualismus verschont, der das deutsche Volk zum Unheil für die Kunst und die Litteratur in eine gebildete Gesellschaft und eine außerhalb des Heiligtums steheude ungebildete Masse trennte. In England haben daher die großen Schriftsteller stets das ganze Volk hinter sich gehabt, in Deutschland immer nur die sogenannten Gebildeten und diese oft erst nach langen Kämpfen. So wenig aber die humanistischen Studien den nationalen Charakter der englischen Litteratur verändert haben, so wenig hat der französische Pseudoklassizismns nach der Restauration im englischen Geistesleben Wurzel fassen tonnen. Die beiden gewaltigen, wieder hervor¬ brechenden nationalen Strömungen, die Begeisterung für Shakespeare und für die altenglische Volksdichtung, haben das fremde Gewächs schon in der Mitte des vorigen Jahrhunderts hinweggespült. Ebenso ohnmächtig hat sich der Einfluß der spanische», der deutschen, der nordischen und der orientalischen Poesie gezeigt. Nichts bezeichnet den Unterschied zwischen der deutschen und der englischen Litteratur mehr als ihr Verhalten zur orientalischen Dichtung. Obgleich England seit mehr als einem Jahrhundert mit dem Orient in den engsten politischen und wirtschaftlichen Beziehungen steht, hat die orientalische Litteratur doch nur auf wenige Schriftsteller eingewirkt, auf Thomas Moore, Edwin Arnold und Toru Dult, sonst aber keinen nennenswerten Einfluß auf die Form oder die Ideenkreise der englischen Dichtung ausgeübt. Dagegen halte man die tiefen Einwirkungen des Orients auf die deutsche Dichtung, obwohl das deutsche Volk weder politisch uoch wirtschaftlich mit dem Orient zu thun gehabt hat. Nicht allein ganze Stoffgebiete wie die orientalische Märchenwelt siud bei uns heimisch geworden, auch die indische Philosophie Uno Mystik hat seit Schopenhauer eine große Zahl deutscher Schriftsteller in ihrer Weltanschauung beeinflußt. Dazu kommt, daß die deutsche Lyrik viele orientalische Formen angenommen hat, und daß sie sich bis auf Bodeustedts volkstümlich gewordne Mirza Schaffylieder vom orientalischen Geiste hat ziemlich stark beeinflussen lassen. Von allen diesen formalen und geistigen Einwirkungen ist in der englischen Litteratur wenig zu verspüren. Die englische Dichtung ist infolge ihres selbständigen, stetigen, in sich abgeschlossenen Geistes und ihrer nie versiegenden volkstümlichen Lebensquellen im wahren Sinne des Wortes eine Nationallitteratur. Von diesen Ideen hat sich auch Wülker in seiner Geschichte der englischem Litteratur leiten lassen. Der große, selbständige germanische Zug im englischen Geistesleben reißt ihn mit Recht zur Bewundrung hin. Die Grundsätze, die als Literarhistoriker befolgt, muß man oft zwischen den Zeilen lesen; hie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/573>, abgerufen am 08.01.2025.