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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Eine englische Litteraturgeschichte

zühligen Seitenströmungen beeinflußt und bestimmt, aber den Hauptstrom bildet
stets die litterarische Überlieferung, der lebendig gebliebne Geist früherer Zeiten.
Daher kommt es, daß sich in der Litteratur jedes selbständig schaffenden Volkes
ganz bestimmte nationale Eigentümlichkeiten behaupten. Man kann diese aus
besondern geistigen und seelischen Anlagen hervorgehenden Eigentümlichkeiten
oft bis in die Anfänge des litterarischen Lebens, bis zu den frühesten Denk¬
mälern verfolgen. Besonders klar und bestimmend treten die nationalen
Charakterzüge in der englischen Litteratur hervor. Wer daher diese, ihr Wesen,
ihre Eigentümlichkeit, ihre Stärke und Schwäche richtig verstehen will, der
darf nicht mitten in der Geschichte anfangen, etwa bei Chaucer oder gar bei
Spenser; er muß zu den Grundquellen der englischen Litteratur steigen, er
muß den Geist, die Vorzüge und die Mängel der angelsächsischen und der alt¬
englischen Dichtungen studiren. In diesen alten Schöpfungen des germanischen
Geistes liegen die Keime, aus denen sich unter eigentümlichen geschichtlichen
und geographischen Verhältnissen der selbständige Charakter der englischen
Litteratur entwickelt hat. Der sich in den angelsächsischen und altenglischen
Schöpfungen offenbarende Geist ist nicht tot, er lebt und wirkt als unversieg¬
bare Unterströmung noch heutiges Tags im englischen Volke weiter. Wir
müssen daher Wülker dankbar sein, daß er die ersten scheinbar verworrenen
Zeiten der englischen Litteratur in ihrer geistigen und kulturgeschichtlichen Be¬
deutung so klar und gediegen dargestellt und auf den innern, organischen Zu¬
sammenhang hingewiesen hat, der in dem Geistesleben des englischen Volkes
zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart besteht. Sehr richtig sagt er
am Schlüsse des angelsächsischen Teiles: "Tiefe Religiosität, die noch heute
die Engländer auszeichnet, treffen wir schon damals an. sogar bereits bestimmte
Züge in der Darstellung, wie sie später bei Milton wiederzufinden sind; eine
ernste Lebensanschauung mit Neigung zur wehmütigen Betrachtung der Ver¬
gänglichkeit alles Irdischen zeigt sich bei Kynewulf wie bei Aoung und andern
Dichtern. Schöne, tiefgefühlte Naturschilderung haben wir im Seefahrer, im
Gnthlac so gut wie bei Wordsworth und Byron. Auch läßt sich aus der
angelsächsischen Litteratur schon erkennen, was die neuenglische klar erweist:
die geringe Anlage der Engländer für die Heldendichtung, dagegen ihre frühe
Begabung und Vorliebe für die dramatische Dichtung und den Roman."

Die Litteraturgeschichte soll vor allen Dingen eine Geschichte der dichte¬
rischen Stoffe und poetischen Motive sein. Und da sich die Entstehung, Ver¬
breitung und Wandlung dieser Stoffe nur durch eine vergleichende Methode
feststellen läßt, so hat Wülker, so weit es in dem cnggezognen Rahmen seines
Buches möglich war, hie und da lehrreiche Vergleiche über den Entwicklungs¬
gang gewisser Lieblingsstoffe angestellt und aus der eigentümlichen Behandlung
dieser Stoffe Schlüsse auf den geistigen Charakter der ganzen Zeit gezogen.
Das geschieht z. B. bei der Behandlung der keltischen Arthursage, die sich fast


Eine englische Litteraturgeschichte

zühligen Seitenströmungen beeinflußt und bestimmt, aber den Hauptstrom bildet
stets die litterarische Überlieferung, der lebendig gebliebne Geist früherer Zeiten.
Daher kommt es, daß sich in der Litteratur jedes selbständig schaffenden Volkes
ganz bestimmte nationale Eigentümlichkeiten behaupten. Man kann diese aus
besondern geistigen und seelischen Anlagen hervorgehenden Eigentümlichkeiten
oft bis in die Anfänge des litterarischen Lebens, bis zu den frühesten Denk¬
mälern verfolgen. Besonders klar und bestimmend treten die nationalen
Charakterzüge in der englischen Litteratur hervor. Wer daher diese, ihr Wesen,
ihre Eigentümlichkeit, ihre Stärke und Schwäche richtig verstehen will, der
darf nicht mitten in der Geschichte anfangen, etwa bei Chaucer oder gar bei
Spenser; er muß zu den Grundquellen der englischen Litteratur steigen, er
muß den Geist, die Vorzüge und die Mängel der angelsächsischen und der alt¬
englischen Dichtungen studiren. In diesen alten Schöpfungen des germanischen
Geistes liegen die Keime, aus denen sich unter eigentümlichen geschichtlichen
und geographischen Verhältnissen der selbständige Charakter der englischen
Litteratur entwickelt hat. Der sich in den angelsächsischen und altenglischen
Schöpfungen offenbarende Geist ist nicht tot, er lebt und wirkt als unversieg¬
bare Unterströmung noch heutiges Tags im englischen Volke weiter. Wir
müssen daher Wülker dankbar sein, daß er die ersten scheinbar verworrenen
Zeiten der englischen Litteratur in ihrer geistigen und kulturgeschichtlichen Be¬
deutung so klar und gediegen dargestellt und auf den innern, organischen Zu¬
sammenhang hingewiesen hat, der in dem Geistesleben des englischen Volkes
zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart besteht. Sehr richtig sagt er
am Schlüsse des angelsächsischen Teiles: „Tiefe Religiosität, die noch heute
die Engländer auszeichnet, treffen wir schon damals an. sogar bereits bestimmte
Züge in der Darstellung, wie sie später bei Milton wiederzufinden sind; eine
ernste Lebensanschauung mit Neigung zur wehmütigen Betrachtung der Ver¬
gänglichkeit alles Irdischen zeigt sich bei Kynewulf wie bei Aoung und andern
Dichtern. Schöne, tiefgefühlte Naturschilderung haben wir im Seefahrer, im
Gnthlac so gut wie bei Wordsworth und Byron. Auch läßt sich aus der
angelsächsischen Litteratur schon erkennen, was die neuenglische klar erweist:
die geringe Anlage der Engländer für die Heldendichtung, dagegen ihre frühe
Begabung und Vorliebe für die dramatische Dichtung und den Roman."

Die Litteraturgeschichte soll vor allen Dingen eine Geschichte der dichte¬
rischen Stoffe und poetischen Motive sein. Und da sich die Entstehung, Ver¬
breitung und Wandlung dieser Stoffe nur durch eine vergleichende Methode
feststellen läßt, so hat Wülker, so weit es in dem cnggezognen Rahmen seines
Buches möglich war, hie und da lehrreiche Vergleiche über den Entwicklungs¬
gang gewisser Lieblingsstoffe angestellt und aus der eigentümlichen Behandlung
dieser Stoffe Schlüsse auf den geistigen Charakter der ganzen Zeit gezogen.
Das geschieht z. B. bei der Behandlung der keltischen Arthursage, die sich fast


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[0571] Eine englische Litteraturgeschichte zühligen Seitenströmungen beeinflußt und bestimmt, aber den Hauptstrom bildet stets die litterarische Überlieferung, der lebendig gebliebne Geist früherer Zeiten. Daher kommt es, daß sich in der Litteratur jedes selbständig schaffenden Volkes ganz bestimmte nationale Eigentümlichkeiten behaupten. Man kann diese aus besondern geistigen und seelischen Anlagen hervorgehenden Eigentümlichkeiten oft bis in die Anfänge des litterarischen Lebens, bis zu den frühesten Denk¬ mälern verfolgen. Besonders klar und bestimmend treten die nationalen Charakterzüge in der englischen Litteratur hervor. Wer daher diese, ihr Wesen, ihre Eigentümlichkeit, ihre Stärke und Schwäche richtig verstehen will, der darf nicht mitten in der Geschichte anfangen, etwa bei Chaucer oder gar bei Spenser; er muß zu den Grundquellen der englischen Litteratur steigen, er muß den Geist, die Vorzüge und die Mängel der angelsächsischen und der alt¬ englischen Dichtungen studiren. In diesen alten Schöpfungen des germanischen Geistes liegen die Keime, aus denen sich unter eigentümlichen geschichtlichen und geographischen Verhältnissen der selbständige Charakter der englischen Litteratur entwickelt hat. Der sich in den angelsächsischen und altenglischen Schöpfungen offenbarende Geist ist nicht tot, er lebt und wirkt als unversieg¬ bare Unterströmung noch heutiges Tags im englischen Volke weiter. Wir müssen daher Wülker dankbar sein, daß er die ersten scheinbar verworrenen Zeiten der englischen Litteratur in ihrer geistigen und kulturgeschichtlichen Be¬ deutung so klar und gediegen dargestellt und auf den innern, organischen Zu¬ sammenhang hingewiesen hat, der in dem Geistesleben des englischen Volkes zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart besteht. Sehr richtig sagt er am Schlüsse des angelsächsischen Teiles: „Tiefe Religiosität, die noch heute die Engländer auszeichnet, treffen wir schon damals an. sogar bereits bestimmte Züge in der Darstellung, wie sie später bei Milton wiederzufinden sind; eine ernste Lebensanschauung mit Neigung zur wehmütigen Betrachtung der Ver¬ gänglichkeit alles Irdischen zeigt sich bei Kynewulf wie bei Aoung und andern Dichtern. Schöne, tiefgefühlte Naturschilderung haben wir im Seefahrer, im Gnthlac so gut wie bei Wordsworth und Byron. Auch läßt sich aus der angelsächsischen Litteratur schon erkennen, was die neuenglische klar erweist: die geringe Anlage der Engländer für die Heldendichtung, dagegen ihre frühe Begabung und Vorliebe für die dramatische Dichtung und den Roman." Die Litteraturgeschichte soll vor allen Dingen eine Geschichte der dichte¬ rischen Stoffe und poetischen Motive sein. Und da sich die Entstehung, Ver¬ breitung und Wandlung dieser Stoffe nur durch eine vergleichende Methode feststellen läßt, so hat Wülker, so weit es in dem cnggezognen Rahmen seines Buches möglich war, hie und da lehrreiche Vergleiche über den Entwicklungs¬ gang gewisser Lieblingsstoffe angestellt und aus der eigentümlichen Behandlung dieser Stoffe Schlüsse auf den geistigen Charakter der ganzen Zeit gezogen. Das geschieht z. B. bei der Behandlung der keltischen Arthursage, die sich fast

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/571>, abgerufen am 08.01.2025.