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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Line englische Litteraturgeschichte

den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart von Richard Wülker. Wülker
geht von ähnlichen Grundsätzen aus wie ten Vrink. Schon in seinem Grundriß
zur Geschichte der angelsächsischen Litteratur zeigt sich, daß er mit wissenschaft¬
licher Gründlichkeit und philologischer Genauigkeit ein feines litterarisches Urteil
und ein hohes Maß psychologischer Vertiefung verbindet. Diese Vorzüge treten
auch in seiner Geschichte der englischen Litteratur überall hervor; jeder, der
hierin auf einem besondern kleinen Gebiete gearbeitet hat, wird erstaunt sein,
mit welcher Sicherheit und welch ruhigem Blick Wülker in dem Kampfe der
Meinungen überall die richtige Ansicht zu finden und hinzustellen weiß.

Die Versuche, die bis auf Wülkers Werk gemacht worden sind, eine voll¬
ständige Geschichte der englischen Litteratur zu schreiben, sind alle mehr oder
weniger mißlungen. Das zuerst im Jahre 1774 erschienene und seitdem vielfach
verbesserte und ergänzte vierhändige Werk von Warton: I'Ks llistor^ LuglisK
?oetry ist ein unübersichtliches Sammelwerk, dem man die Flickarbeit auf jeder
Seite ansieht. Alle übrigen von Engländern geschriebnen Handbücher, z. B.
die von Craik, Spalding, Shaw, Dobson, sind wissenschaftlich fast wertlos.
Geistvoll und anregend ist die von dem bekannten französischen Gelehrten Taine
verfaßte vierhändige Hiswirs <lo 1a littöraturs Mglg-iss, aber seine vielgerühmte
analytische Methode und sein in die Geschichtsforschung hineingetragner Deter-
ninismus führen ihn zu den wunderlichsten Ansichten und zu eiuer Vorein¬
genommenheit, die seiner Arbeit allen wissenschaftlichen Wert raubt.

In Deutschland haben wir neben Körtings namentlich für Studenten ge-
schriebnen philologisch-bibliographischen Grundriß der Geschichte der englischen
Litteratur kein Handbuch, das den gebildeten Leser auch nur einigermaßen be¬
friedigen konnte. Die von Gütschenberger, Scherr, Engel, Bleibtreu und andern
Schriftstellern herrührenden Arbeiten sind in dem bekannten ästhetisirenden
Arabeskenstil verfaßt, der auf jeden Leser von Urteil und Geschmack auf die
Dauer abstoßend wirkt. Sie reden alle einen schönen Rahmen um die littera¬
rischen Bilder, aber die Bilder selbst vermögen sie nach Idee. Aufbau und
Technik nicht zu erklären.

Wülker hat sich in seiner Darstellung ebenso fern gehalten von der trocknen
archäologischen Schreibweise wie von der aufgeregten, salbungsvollen und schön¬
rednerischen. Er ist ein vortrefflicher Führer, stets klar, ruhig, sachlich, an¬
regend; nur der Kenner merkt, welche Fülle gründlicher und vielseitiger Studien
in dieser scheinbar mühelos dahinfließenden Darstellung steckt. Im Vorwort
sagt er, er habe dem Buche einen volkstümlichen Charakter geben müssen.
Volkstümlich heißt aber hier nicht: für Gevatter Schneider und Handschuh¬
macher; das Buch ist für die gebildete Gesellschaft geschrieben, nur diese wird
das Werk wahrhaft zu würdigen wissen und den zahlreichen kulturgeschichtlichen
Abbildungen das nötige Verständnis entgegenbringen.

Die Litteratur eines Volkes wird in ihrer Kraft und Richtung von un-


Line englische Litteraturgeschichte

den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart von Richard Wülker. Wülker
geht von ähnlichen Grundsätzen aus wie ten Vrink. Schon in seinem Grundriß
zur Geschichte der angelsächsischen Litteratur zeigt sich, daß er mit wissenschaft¬
licher Gründlichkeit und philologischer Genauigkeit ein feines litterarisches Urteil
und ein hohes Maß psychologischer Vertiefung verbindet. Diese Vorzüge treten
auch in seiner Geschichte der englischen Litteratur überall hervor; jeder, der
hierin auf einem besondern kleinen Gebiete gearbeitet hat, wird erstaunt sein,
mit welcher Sicherheit und welch ruhigem Blick Wülker in dem Kampfe der
Meinungen überall die richtige Ansicht zu finden und hinzustellen weiß.

Die Versuche, die bis auf Wülkers Werk gemacht worden sind, eine voll¬
ständige Geschichte der englischen Litteratur zu schreiben, sind alle mehr oder
weniger mißlungen. Das zuerst im Jahre 1774 erschienene und seitdem vielfach
verbesserte und ergänzte vierhändige Werk von Warton: I'Ks llistor^ LuglisK
?oetry ist ein unübersichtliches Sammelwerk, dem man die Flickarbeit auf jeder
Seite ansieht. Alle übrigen von Engländern geschriebnen Handbücher, z. B.
die von Craik, Spalding, Shaw, Dobson, sind wissenschaftlich fast wertlos.
Geistvoll und anregend ist die von dem bekannten französischen Gelehrten Taine
verfaßte vierhändige Hiswirs <lo 1a littöraturs Mglg-iss, aber seine vielgerühmte
analytische Methode und sein in die Geschichtsforschung hineingetragner Deter-
ninismus führen ihn zu den wunderlichsten Ansichten und zu eiuer Vorein¬
genommenheit, die seiner Arbeit allen wissenschaftlichen Wert raubt.

In Deutschland haben wir neben Körtings namentlich für Studenten ge-
schriebnen philologisch-bibliographischen Grundriß der Geschichte der englischen
Litteratur kein Handbuch, das den gebildeten Leser auch nur einigermaßen be¬
friedigen konnte. Die von Gütschenberger, Scherr, Engel, Bleibtreu und andern
Schriftstellern herrührenden Arbeiten sind in dem bekannten ästhetisirenden
Arabeskenstil verfaßt, der auf jeden Leser von Urteil und Geschmack auf die
Dauer abstoßend wirkt. Sie reden alle einen schönen Rahmen um die littera¬
rischen Bilder, aber die Bilder selbst vermögen sie nach Idee. Aufbau und
Technik nicht zu erklären.

Wülker hat sich in seiner Darstellung ebenso fern gehalten von der trocknen
archäologischen Schreibweise wie von der aufgeregten, salbungsvollen und schön¬
rednerischen. Er ist ein vortrefflicher Führer, stets klar, ruhig, sachlich, an¬
regend; nur der Kenner merkt, welche Fülle gründlicher und vielseitiger Studien
in dieser scheinbar mühelos dahinfließenden Darstellung steckt. Im Vorwort
sagt er, er habe dem Buche einen volkstümlichen Charakter geben müssen.
Volkstümlich heißt aber hier nicht: für Gevatter Schneider und Handschuh¬
macher; das Buch ist für die gebildete Gesellschaft geschrieben, nur diese wird
das Werk wahrhaft zu würdigen wissen und den zahlreichen kulturgeschichtlichen
Abbildungen das nötige Verständnis entgegenbringen.

Die Litteratur eines Volkes wird in ihrer Kraft und Richtung von un-


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[0570] Line englische Litteraturgeschichte den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart von Richard Wülker. Wülker geht von ähnlichen Grundsätzen aus wie ten Vrink. Schon in seinem Grundriß zur Geschichte der angelsächsischen Litteratur zeigt sich, daß er mit wissenschaft¬ licher Gründlichkeit und philologischer Genauigkeit ein feines litterarisches Urteil und ein hohes Maß psychologischer Vertiefung verbindet. Diese Vorzüge treten auch in seiner Geschichte der englischen Litteratur überall hervor; jeder, der hierin auf einem besondern kleinen Gebiete gearbeitet hat, wird erstaunt sein, mit welcher Sicherheit und welch ruhigem Blick Wülker in dem Kampfe der Meinungen überall die richtige Ansicht zu finden und hinzustellen weiß. Die Versuche, die bis auf Wülkers Werk gemacht worden sind, eine voll¬ ständige Geschichte der englischen Litteratur zu schreiben, sind alle mehr oder weniger mißlungen. Das zuerst im Jahre 1774 erschienene und seitdem vielfach verbesserte und ergänzte vierhändige Werk von Warton: I'Ks llistor^ LuglisK ?oetry ist ein unübersichtliches Sammelwerk, dem man die Flickarbeit auf jeder Seite ansieht. Alle übrigen von Engländern geschriebnen Handbücher, z. B. die von Craik, Spalding, Shaw, Dobson, sind wissenschaftlich fast wertlos. Geistvoll und anregend ist die von dem bekannten französischen Gelehrten Taine verfaßte vierhändige Hiswirs <lo 1a littöraturs Mglg-iss, aber seine vielgerühmte analytische Methode und sein in die Geschichtsforschung hineingetragner Deter- ninismus führen ihn zu den wunderlichsten Ansichten und zu eiuer Vorein¬ genommenheit, die seiner Arbeit allen wissenschaftlichen Wert raubt. In Deutschland haben wir neben Körtings namentlich für Studenten ge- schriebnen philologisch-bibliographischen Grundriß der Geschichte der englischen Litteratur kein Handbuch, das den gebildeten Leser auch nur einigermaßen be¬ friedigen konnte. Die von Gütschenberger, Scherr, Engel, Bleibtreu und andern Schriftstellern herrührenden Arbeiten sind in dem bekannten ästhetisirenden Arabeskenstil verfaßt, der auf jeden Leser von Urteil und Geschmack auf die Dauer abstoßend wirkt. Sie reden alle einen schönen Rahmen um die littera¬ rischen Bilder, aber die Bilder selbst vermögen sie nach Idee. Aufbau und Technik nicht zu erklären. Wülker hat sich in seiner Darstellung ebenso fern gehalten von der trocknen archäologischen Schreibweise wie von der aufgeregten, salbungsvollen und schön¬ rednerischen. Er ist ein vortrefflicher Führer, stets klar, ruhig, sachlich, an¬ regend; nur der Kenner merkt, welche Fülle gründlicher und vielseitiger Studien in dieser scheinbar mühelos dahinfließenden Darstellung steckt. Im Vorwort sagt er, er habe dem Buche einen volkstümlichen Charakter geben müssen. Volkstümlich heißt aber hier nicht: für Gevatter Schneider und Handschuh¬ macher; das Buch ist für die gebildete Gesellschaft geschrieben, nur diese wird das Werk wahrhaft zu würdigen wissen und den zahlreichen kulturgeschichtlichen Abbildungen das nötige Verständnis entgegenbringen. Die Litteratur eines Volkes wird in ihrer Kraft und Richtung von un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/570>, abgerufen am 06.01.2025.