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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Englische Zustände

müssen, UM sich nicht zu falschen Maßregeln hinreißen zu lassen, kaltblütig
bleiben und das Wesen der wirtschaftlichen Entwicklung im Auge behalten.
Künstliche Preissteigerungen können keine andre Wirkung haben, als Ver¬
schärfung der Krisen. Wer den landwirtschaftlichen Betrieb aller Krisengefahr
überheben will, der muß eine sozialistische Ordnung einführen, wo nicht von
Privatunternehmern für den Markt, sondern von volkswirtschaftlichen Beamten
für den Bedarf produzirt wird, und wo es weder Getreide- noch Güterpreise
mehr giebt. Will man aber diese Neuordnung nicht -- wir unserseits wollen
sie schon aus dem Grunde nicht, weil der Vernünftige nichts unmögliches
will --, so muß man sich eben in die Gesetze der kapitalistischen Produktions-
nnd Güterverteilnngsordnung fügen und ihre Vorteile damit bezahlen, daß
man sich ihre Nachteile gefallen läßt. Sache des Einzelnen ist es dann, sich
beim Güterkauf vorzusehen und sein Geschäft klug und energisch zu betreiben.
Die englischen Landwirte thun das nach Koenigs Zeugnis und mögen von
Staatshilfe nichts wissen; nur Abänderung unzweckmäßiger Pachtgesetze und
Erleichterung des Steuerdrucks, Tarifänderungen u. tgi. fordern sie. Zwar
murren sie darüber, daß Amerika seinen Weizen in England zollfrei einführen
darf, während es sich selbst gegen die Einfuhr englischer Jndustrieerzeugnisse
durch hohe Schutzzölle absperrt, aber an die Wiedereinführung der Kornzölle
denken sie trotzdem nicht, weil sie sie sür unmöglich halten; dazu lehrt, wie
Koenig nachweist, die Erfahrung, daß weder die Einführung noch die Ab¬
schaffung der Kornzölle einen wesentlichen Einfluß auf die Getreidepreise ausübt.

Die Gefahren der kapitalistischen Wirtschaft können dadurch vermindert
werden, daß man ihnen eine geringere Angriffsfläche darbietet; und das ge¬
schieht dort, wo die Güter klein sind, die Kapitaleinsütze gering, die Gier nach
Gewinn müßig und daher wagehalsiges spekuliren ausgeschlossen ist, und wo
eine bescheidne Lebenshaltung dasür sorgt, daß die Ausgaben die Einnahmen
nicht überschreiten. Kommen dann noch Intelligenz und unermüdlicher Fleiß
eines Besitzers hinzu, der selbst Hand anlegt, so bestehen für solche glückliche
Gegenden die Gefahren des Kapitalismus beinahe uur theoretisch. Das ist
z. B. der Fall auf den normannischen Inseln, von denen Steffen eine be¬
geisterte Schilderung entwirft, und hier ist nicht allein die landwirtschaftliche,
sondern die soziale Frage überhaupt beinahe gelöst. Aus Fels und Sand hat
sich die mit Engländern gemischte französisch-normannische Bevölkerung einen
Fruchtboden geschaffen, der, in kleine Besitzungen verteilt (auf Jersey durch¬
schnittlich vier, auf Guernsey zweieinhalb Hektaren), bei intensivem Anbau die
erstaunlichsten Erträge liefert; es werden vorzugsweise feine Gemüse, Obst,
Weintrauben und vorzügliche Frühkartoffeln gebaut, die in London teuer be¬
zahlt werden. Jersey exportirte im Jahre 1889 gegen 60000 Tonnen Kar¬
toffeln, die 5^2 Millionen Mark einbrachten. Ein bedeutender Teil der Insel
Guernsey liegt unter Glas. Auch ein paar tausend Rinder und Pferde edelster


Englische Zustände

müssen, UM sich nicht zu falschen Maßregeln hinreißen zu lassen, kaltblütig
bleiben und das Wesen der wirtschaftlichen Entwicklung im Auge behalten.
Künstliche Preissteigerungen können keine andre Wirkung haben, als Ver¬
schärfung der Krisen. Wer den landwirtschaftlichen Betrieb aller Krisengefahr
überheben will, der muß eine sozialistische Ordnung einführen, wo nicht von
Privatunternehmern für den Markt, sondern von volkswirtschaftlichen Beamten
für den Bedarf produzirt wird, und wo es weder Getreide- noch Güterpreise
mehr giebt. Will man aber diese Neuordnung nicht — wir unserseits wollen
sie schon aus dem Grunde nicht, weil der Vernünftige nichts unmögliches
will —, so muß man sich eben in die Gesetze der kapitalistischen Produktions-
nnd Güterverteilnngsordnung fügen und ihre Vorteile damit bezahlen, daß
man sich ihre Nachteile gefallen läßt. Sache des Einzelnen ist es dann, sich
beim Güterkauf vorzusehen und sein Geschäft klug und energisch zu betreiben.
Die englischen Landwirte thun das nach Koenigs Zeugnis und mögen von
Staatshilfe nichts wissen; nur Abänderung unzweckmäßiger Pachtgesetze und
Erleichterung des Steuerdrucks, Tarifänderungen u. tgi. fordern sie. Zwar
murren sie darüber, daß Amerika seinen Weizen in England zollfrei einführen
darf, während es sich selbst gegen die Einfuhr englischer Jndustrieerzeugnisse
durch hohe Schutzzölle absperrt, aber an die Wiedereinführung der Kornzölle
denken sie trotzdem nicht, weil sie sie sür unmöglich halten; dazu lehrt, wie
Koenig nachweist, die Erfahrung, daß weder die Einführung noch die Ab¬
schaffung der Kornzölle einen wesentlichen Einfluß auf die Getreidepreise ausübt.

Die Gefahren der kapitalistischen Wirtschaft können dadurch vermindert
werden, daß man ihnen eine geringere Angriffsfläche darbietet; und das ge¬
schieht dort, wo die Güter klein sind, die Kapitaleinsütze gering, die Gier nach
Gewinn müßig und daher wagehalsiges spekuliren ausgeschlossen ist, und wo
eine bescheidne Lebenshaltung dasür sorgt, daß die Ausgaben die Einnahmen
nicht überschreiten. Kommen dann noch Intelligenz und unermüdlicher Fleiß
eines Besitzers hinzu, der selbst Hand anlegt, so bestehen für solche glückliche
Gegenden die Gefahren des Kapitalismus beinahe uur theoretisch. Das ist
z. B. der Fall auf den normannischen Inseln, von denen Steffen eine be¬
geisterte Schilderung entwirft, und hier ist nicht allein die landwirtschaftliche,
sondern die soziale Frage überhaupt beinahe gelöst. Aus Fels und Sand hat
sich die mit Engländern gemischte französisch-normannische Bevölkerung einen
Fruchtboden geschaffen, der, in kleine Besitzungen verteilt (auf Jersey durch¬
schnittlich vier, auf Guernsey zweieinhalb Hektaren), bei intensivem Anbau die
erstaunlichsten Erträge liefert; es werden vorzugsweise feine Gemüse, Obst,
Weintrauben und vorzügliche Frühkartoffeln gebaut, die in London teuer be¬
zahlt werden. Jersey exportirte im Jahre 1889 gegen 60000 Tonnen Kar¬
toffeln, die 5^2 Millionen Mark einbrachten. Ein bedeutender Teil der Insel
Guernsey liegt unter Glas. Auch ein paar tausend Rinder und Pferde edelster


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[0566] Englische Zustände müssen, UM sich nicht zu falschen Maßregeln hinreißen zu lassen, kaltblütig bleiben und das Wesen der wirtschaftlichen Entwicklung im Auge behalten. Künstliche Preissteigerungen können keine andre Wirkung haben, als Ver¬ schärfung der Krisen. Wer den landwirtschaftlichen Betrieb aller Krisengefahr überheben will, der muß eine sozialistische Ordnung einführen, wo nicht von Privatunternehmern für den Markt, sondern von volkswirtschaftlichen Beamten für den Bedarf produzirt wird, und wo es weder Getreide- noch Güterpreise mehr giebt. Will man aber diese Neuordnung nicht — wir unserseits wollen sie schon aus dem Grunde nicht, weil der Vernünftige nichts unmögliches will —, so muß man sich eben in die Gesetze der kapitalistischen Produktions- nnd Güterverteilnngsordnung fügen und ihre Vorteile damit bezahlen, daß man sich ihre Nachteile gefallen läßt. Sache des Einzelnen ist es dann, sich beim Güterkauf vorzusehen und sein Geschäft klug und energisch zu betreiben. Die englischen Landwirte thun das nach Koenigs Zeugnis und mögen von Staatshilfe nichts wissen; nur Abänderung unzweckmäßiger Pachtgesetze und Erleichterung des Steuerdrucks, Tarifänderungen u. tgi. fordern sie. Zwar murren sie darüber, daß Amerika seinen Weizen in England zollfrei einführen darf, während es sich selbst gegen die Einfuhr englischer Jndustrieerzeugnisse durch hohe Schutzzölle absperrt, aber an die Wiedereinführung der Kornzölle denken sie trotzdem nicht, weil sie sie sür unmöglich halten; dazu lehrt, wie Koenig nachweist, die Erfahrung, daß weder die Einführung noch die Ab¬ schaffung der Kornzölle einen wesentlichen Einfluß auf die Getreidepreise ausübt. Die Gefahren der kapitalistischen Wirtschaft können dadurch vermindert werden, daß man ihnen eine geringere Angriffsfläche darbietet; und das ge¬ schieht dort, wo die Güter klein sind, die Kapitaleinsütze gering, die Gier nach Gewinn müßig und daher wagehalsiges spekuliren ausgeschlossen ist, und wo eine bescheidne Lebenshaltung dasür sorgt, daß die Ausgaben die Einnahmen nicht überschreiten. Kommen dann noch Intelligenz und unermüdlicher Fleiß eines Besitzers hinzu, der selbst Hand anlegt, so bestehen für solche glückliche Gegenden die Gefahren des Kapitalismus beinahe uur theoretisch. Das ist z. B. der Fall auf den normannischen Inseln, von denen Steffen eine be¬ geisterte Schilderung entwirft, und hier ist nicht allein die landwirtschaftliche, sondern die soziale Frage überhaupt beinahe gelöst. Aus Fels und Sand hat sich die mit Engländern gemischte französisch-normannische Bevölkerung einen Fruchtboden geschaffen, der, in kleine Besitzungen verteilt (auf Jersey durch¬ schnittlich vier, auf Guernsey zweieinhalb Hektaren), bei intensivem Anbau die erstaunlichsten Erträge liefert; es werden vorzugsweise feine Gemüse, Obst, Weintrauben und vorzügliche Frühkartoffeln gebaut, die in London teuer be¬ zahlt werden. Jersey exportirte im Jahre 1889 gegen 60000 Tonnen Kar¬ toffeln, die 5^2 Millionen Mark einbrachten. Ein bedeutender Teil der Insel Guernsey liegt unter Glas. Auch ein paar tausend Rinder und Pferde edelster

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/566>, abgerufen am 08.01.2025.