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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Englische Zustände

Hier geraten die Landwirte periodisch in Gefahr, nicht als Landwirte, sondern
als Kaufleute. Hier ist die Landwirtschaft ein Kaufmannsgeschäft wie jedes
andre und kann den Schwankungen der kaufmännischen Chancen auf keine Weise
entgehen. Herr Klapper schreibt im 19. Heft von Fühlings Landwirtschaft¬
licher Zeitung: "Aus dieser wirtschaftlichen Thatsache ^der stetigen Steigerung
der Produktionskosten bei steigender Kultur^ begründet sich das volkswirt¬
schaftliche Gesetz, daß bei normaler wirtschaftlich-kultureller (!) Entwicklung eines
Landes langsam aber stetig ansteigende Getreidepreise eine notwendige Erschei¬
nung sind." Das ist nur der verzerrte Ausdruck eines wirklichen Gesetzes.
Dieses wirkliche Gesetz lautet: in einem vollständig angebauten und abge¬
sperrten Lande wird bei steigender Bevölkerung der Anteil eines jeden an der
Jahresrente immer kleiner, oder mit andern Worten: muß immer mehr
gehungert werden. Bei naturalwirtschaftlich-kommunistischen Einrichtungen
hungern alle gleichmäßig, in der kapitalistischen Geldwirtschaft dagegen drückt
sich die Unzulänglichkeit der Ernten in der Preiserhöhung aus, die nur den
Armen den Ankauf der zur Sättigung nötigen Nahrungsmittelmenge unmöglich
macht. Aber "normal" ist diese Entwicklung keineswegs, denn unser Herrgott
hat weder unübersteigliche Scheidewände zwischen die Länder gesetzt, noch ge¬
boten, daß den Grundrentnern und den landwirtschaftlichen Kaufleuten zu Ge¬
fallen weite Lündergebiete unkultivirt bleiben sollen, sondern er hat im Gegenteil
geboten: erfüllet die Erde, und er hat die Früchte der Erde den Bedauern
zum essen, nicht den Grundbesitzern zur Erzielung hoher Grundrenten und zur
Aufhäufung von Reichtümern gegeben. Und nach diesem göttlichen Gesetz ver¬
läuft die Entwicklung ganz normal. Ist ein Land voll, so wandert der Über¬
schuß aus, baut billiges Korn ans kostenlosem Boden, kommt damit den Brüdern
in der Heimat zu Hilfe und fragt den Kuckuck darnach, ob die dortigen Grund¬
besitzer auf die Kosten kommen oder nicht. Nicht die höchsten Kosten bestimmen
auf offnem Markte den Preis von Waren, die täglich in gleichem Maße be¬
gehrt werden, sondern die niedrigsten Kosten, oder was dasselbe ist, Angebot
und Nachfrage, wie jedermann an den Getreidepreisen sieht. Ist viel da, so
ists wohlfeil. Die Wohlfeilheit der letzten Jahre rührt, wie Koenig statistisch
nachweist, von ganz außerordentlich reichlichen Welternten her. Einiges hat
auch der jammervolle politische Zustand Rußlands beigetragen, das selbst in
solchen Jahren noch Getreide exportirt, wo seine Bauern Hungers sterben, und
das 'den Export eine Reihe von Jahren einstellen müßte, wenn Menschen und
Vieh gehörig in Stand gesetzt werden sollten- Auch der verbissenste Agrarier
wird sich sagen müssen, daß das stetige Steigen des Preises nicht in alle
Ewigkeit fortgehen könne, daß jede längere Zeit anhaltende Steigerung mit einem
Krach endigen, und daß der Krach desto größer sein müsse, je höher die Preise
gestiegen sind. Man kann es ja den Betroffnen nicht verargen, daß sie sich
aus Leibeskräften gegen das drohende Verderben wehren, aber die Regierungen


Englische Zustände

Hier geraten die Landwirte periodisch in Gefahr, nicht als Landwirte, sondern
als Kaufleute. Hier ist die Landwirtschaft ein Kaufmannsgeschäft wie jedes
andre und kann den Schwankungen der kaufmännischen Chancen auf keine Weise
entgehen. Herr Klapper schreibt im 19. Heft von Fühlings Landwirtschaft¬
licher Zeitung: „Aus dieser wirtschaftlichen Thatsache ^der stetigen Steigerung
der Produktionskosten bei steigender Kultur^ begründet sich das volkswirt¬
schaftliche Gesetz, daß bei normaler wirtschaftlich-kultureller (!) Entwicklung eines
Landes langsam aber stetig ansteigende Getreidepreise eine notwendige Erschei¬
nung sind." Das ist nur der verzerrte Ausdruck eines wirklichen Gesetzes.
Dieses wirkliche Gesetz lautet: in einem vollständig angebauten und abge¬
sperrten Lande wird bei steigender Bevölkerung der Anteil eines jeden an der
Jahresrente immer kleiner, oder mit andern Worten: muß immer mehr
gehungert werden. Bei naturalwirtschaftlich-kommunistischen Einrichtungen
hungern alle gleichmäßig, in der kapitalistischen Geldwirtschaft dagegen drückt
sich die Unzulänglichkeit der Ernten in der Preiserhöhung aus, die nur den
Armen den Ankauf der zur Sättigung nötigen Nahrungsmittelmenge unmöglich
macht. Aber „normal" ist diese Entwicklung keineswegs, denn unser Herrgott
hat weder unübersteigliche Scheidewände zwischen die Länder gesetzt, noch ge¬
boten, daß den Grundrentnern und den landwirtschaftlichen Kaufleuten zu Ge¬
fallen weite Lündergebiete unkultivirt bleiben sollen, sondern er hat im Gegenteil
geboten: erfüllet die Erde, und er hat die Früchte der Erde den Bedauern
zum essen, nicht den Grundbesitzern zur Erzielung hoher Grundrenten und zur
Aufhäufung von Reichtümern gegeben. Und nach diesem göttlichen Gesetz ver¬
läuft die Entwicklung ganz normal. Ist ein Land voll, so wandert der Über¬
schuß aus, baut billiges Korn ans kostenlosem Boden, kommt damit den Brüdern
in der Heimat zu Hilfe und fragt den Kuckuck darnach, ob die dortigen Grund¬
besitzer auf die Kosten kommen oder nicht. Nicht die höchsten Kosten bestimmen
auf offnem Markte den Preis von Waren, die täglich in gleichem Maße be¬
gehrt werden, sondern die niedrigsten Kosten, oder was dasselbe ist, Angebot
und Nachfrage, wie jedermann an den Getreidepreisen sieht. Ist viel da, so
ists wohlfeil. Die Wohlfeilheit der letzten Jahre rührt, wie Koenig statistisch
nachweist, von ganz außerordentlich reichlichen Welternten her. Einiges hat
auch der jammervolle politische Zustand Rußlands beigetragen, das selbst in
solchen Jahren noch Getreide exportirt, wo seine Bauern Hungers sterben, und
das 'den Export eine Reihe von Jahren einstellen müßte, wenn Menschen und
Vieh gehörig in Stand gesetzt werden sollten- Auch der verbissenste Agrarier
wird sich sagen müssen, daß das stetige Steigen des Preises nicht in alle
Ewigkeit fortgehen könne, daß jede längere Zeit anhaltende Steigerung mit einem
Krach endigen, und daß der Krach desto größer sein müsse, je höher die Preise
gestiegen sind. Man kann es ja den Betroffnen nicht verargen, daß sie sich
aus Leibeskräften gegen das drohende Verderben wehren, aber die Regierungen


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[0565] Englische Zustände Hier geraten die Landwirte periodisch in Gefahr, nicht als Landwirte, sondern als Kaufleute. Hier ist die Landwirtschaft ein Kaufmannsgeschäft wie jedes andre und kann den Schwankungen der kaufmännischen Chancen auf keine Weise entgehen. Herr Klapper schreibt im 19. Heft von Fühlings Landwirtschaft¬ licher Zeitung: „Aus dieser wirtschaftlichen Thatsache ^der stetigen Steigerung der Produktionskosten bei steigender Kultur^ begründet sich das volkswirt¬ schaftliche Gesetz, daß bei normaler wirtschaftlich-kultureller (!) Entwicklung eines Landes langsam aber stetig ansteigende Getreidepreise eine notwendige Erschei¬ nung sind." Das ist nur der verzerrte Ausdruck eines wirklichen Gesetzes. Dieses wirkliche Gesetz lautet: in einem vollständig angebauten und abge¬ sperrten Lande wird bei steigender Bevölkerung der Anteil eines jeden an der Jahresrente immer kleiner, oder mit andern Worten: muß immer mehr gehungert werden. Bei naturalwirtschaftlich-kommunistischen Einrichtungen hungern alle gleichmäßig, in der kapitalistischen Geldwirtschaft dagegen drückt sich die Unzulänglichkeit der Ernten in der Preiserhöhung aus, die nur den Armen den Ankauf der zur Sättigung nötigen Nahrungsmittelmenge unmöglich macht. Aber „normal" ist diese Entwicklung keineswegs, denn unser Herrgott hat weder unübersteigliche Scheidewände zwischen die Länder gesetzt, noch ge¬ boten, daß den Grundrentnern und den landwirtschaftlichen Kaufleuten zu Ge¬ fallen weite Lündergebiete unkultivirt bleiben sollen, sondern er hat im Gegenteil geboten: erfüllet die Erde, und er hat die Früchte der Erde den Bedauern zum essen, nicht den Grundbesitzern zur Erzielung hoher Grundrenten und zur Aufhäufung von Reichtümern gegeben. Und nach diesem göttlichen Gesetz ver¬ läuft die Entwicklung ganz normal. Ist ein Land voll, so wandert der Über¬ schuß aus, baut billiges Korn ans kostenlosem Boden, kommt damit den Brüdern in der Heimat zu Hilfe und fragt den Kuckuck darnach, ob die dortigen Grund¬ besitzer auf die Kosten kommen oder nicht. Nicht die höchsten Kosten bestimmen auf offnem Markte den Preis von Waren, die täglich in gleichem Maße be¬ gehrt werden, sondern die niedrigsten Kosten, oder was dasselbe ist, Angebot und Nachfrage, wie jedermann an den Getreidepreisen sieht. Ist viel da, so ists wohlfeil. Die Wohlfeilheit der letzten Jahre rührt, wie Koenig statistisch nachweist, von ganz außerordentlich reichlichen Welternten her. Einiges hat auch der jammervolle politische Zustand Rußlands beigetragen, das selbst in solchen Jahren noch Getreide exportirt, wo seine Bauern Hungers sterben, und das 'den Export eine Reihe von Jahren einstellen müßte, wenn Menschen und Vieh gehörig in Stand gesetzt werden sollten- Auch der verbissenste Agrarier wird sich sagen müssen, daß das stetige Steigen des Preises nicht in alle Ewigkeit fortgehen könne, daß jede längere Zeit anhaltende Steigerung mit einem Krach endigen, und daß der Krach desto größer sein müsse, je höher die Preise gestiegen sind. Man kann es ja den Betroffnen nicht verargen, daß sie sich aus Leibeskräften gegen das drohende Verderben wehren, aber die Regierungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/565>, abgerufen am 08.01.2025.