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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Ein neues Buch über Beethoven und seine Sinfonien

er in der ganzen Kunstgeschichte nicht zum zweitenmale vorkommt. Beethoven
hatte eine urwüchsige Abneigung gegen Stube und Schreibtisch und arbeitete,
soweit es möglich war, als Peripatetiker, durch Wald und Feld streifend.
Wo er ging, stand und saß -- immer hatte er ein hohes, schmales Heft
dicken, holländischen Notenpapiers bei sich. Darin trug er ein, was ihm
Plötzlich einfiel, darin probirte er, führte aus und legte den ganzen "Werde¬
gang" seiner Kompositionen nieder, den sie vom ersten, fernen Dämmern der
Ideen bis zur druckfertigen Gestalt durchliefen. Auch die Verirrungen und
Holzwege, die unglaublichen Mühen, die dem manchmal sehr ungelenken Mann
oft die einfachsten Dinge verursachten, die fahrbaren, aber wieder ausgegebnen
Geleise kann man dort in Augenschein nehmen. Nicht alle, aber einundfünfzig
von diesen Heften haben sich erhalten; die Mehrzahl besitzt jetzt die Königliche
Bibliothek in Berlin. Es sind die berühmten "Skizzcnbücher" Beethovens,
und es ist das Verdienst Nottebohms, diese Skizzenbücher durchgearbeitet und
Auszüge davon gegeben zu haben.")

Aus diesen Mitteilungen Nottebohms über die Skizzenbücher und auch
aus Thayer bestimmt nun Grove die Entstehungsdaten der Beethovenschen
Sinfonien, und er verfährt dabei mit großer Vorsicht. Ein Ergebnis der chrono¬
logischen Untersuchungen erwähnen wir hier besonders, weil es, obgleich
sachlich wichtig, von Grove nicht berührt wird: Beethoven hatte immer
mehrere Sinfonien zu gleicher Zeit in Angriff: die dritte und vierte, die
fünfte und sechste, die siebente und achte sind paarweise entstanden, die letzten
beiden Gruppen wurden auch so zuerst vors Publikum gebracht. Daraus er¬
klären sich gemeinsame Züge in der Form und im Inhalt: bei der dritten und
vierten die neuen Themen in der Durchführung des ersten Satzes, bei der
fünften und sechsten die Verknüpfung der letzten Sätze.

Die ersten Aufführungen festzustellen war leichter. Soweit sie nicht durch
Thayer und ältere Biographien schon ermittelt sind, giebt da die alte Allgemeine
Musikalische Zeitung genügenden Anhalt, und sie ist auch in neuerer Zeit dazu be¬
nutzt worden. Da Grove einmal bei der Arbeit war, so hatte er ohne übermäßige
Mühe, durch Nachschlagen und Anfragen die Geschichte der ersten Aufführungen
Beethovenscher Sinfonien vervollständigen und abschließen können. Hoffentlich
unterzieht sich bald einmal eine jüngere Kraft dieser sehr notwendigen statistischen
Aufgabe. Grove hat sich darauf beschränkt, die bereits gedruckten, Frankreich
betreffenden Notizen zu sammeln und durch Mitteilungen über englische Auf¬
führungen zu ergänzen. Von Deutschland erfahren wir, was schon bekannt



*) G Nottebohm, 1. Ein Skizzenbuch von Beethoven, 1862. 2. Ein Skizzenbuch von
Beethoven, 1880. !!. Beethovenmnn 1872. 4. Zweite Becthoveuinnn 1887. Alle, Leipzig,
Rieter-Biedermann. Ur. ,'! ist das wichtigste Stück, es enthält die Skizzen und Vorarbeiten
zur Eroica.
Ein neues Buch über Beethoven und seine Sinfonien

er in der ganzen Kunstgeschichte nicht zum zweitenmale vorkommt. Beethoven
hatte eine urwüchsige Abneigung gegen Stube und Schreibtisch und arbeitete,
soweit es möglich war, als Peripatetiker, durch Wald und Feld streifend.
Wo er ging, stand und saß — immer hatte er ein hohes, schmales Heft
dicken, holländischen Notenpapiers bei sich. Darin trug er ein, was ihm
Plötzlich einfiel, darin probirte er, führte aus und legte den ganzen „Werde¬
gang" seiner Kompositionen nieder, den sie vom ersten, fernen Dämmern der
Ideen bis zur druckfertigen Gestalt durchliefen. Auch die Verirrungen und
Holzwege, die unglaublichen Mühen, die dem manchmal sehr ungelenken Mann
oft die einfachsten Dinge verursachten, die fahrbaren, aber wieder ausgegebnen
Geleise kann man dort in Augenschein nehmen. Nicht alle, aber einundfünfzig
von diesen Heften haben sich erhalten; die Mehrzahl besitzt jetzt die Königliche
Bibliothek in Berlin. Es sind die berühmten „Skizzcnbücher" Beethovens,
und es ist das Verdienst Nottebohms, diese Skizzenbücher durchgearbeitet und
Auszüge davon gegeben zu haben.")

Aus diesen Mitteilungen Nottebohms über die Skizzenbücher und auch
aus Thayer bestimmt nun Grove die Entstehungsdaten der Beethovenschen
Sinfonien, und er verfährt dabei mit großer Vorsicht. Ein Ergebnis der chrono¬
logischen Untersuchungen erwähnen wir hier besonders, weil es, obgleich
sachlich wichtig, von Grove nicht berührt wird: Beethoven hatte immer
mehrere Sinfonien zu gleicher Zeit in Angriff: die dritte und vierte, die
fünfte und sechste, die siebente und achte sind paarweise entstanden, die letzten
beiden Gruppen wurden auch so zuerst vors Publikum gebracht. Daraus er¬
klären sich gemeinsame Züge in der Form und im Inhalt: bei der dritten und
vierten die neuen Themen in der Durchführung des ersten Satzes, bei der
fünften und sechsten die Verknüpfung der letzten Sätze.

Die ersten Aufführungen festzustellen war leichter. Soweit sie nicht durch
Thayer und ältere Biographien schon ermittelt sind, giebt da die alte Allgemeine
Musikalische Zeitung genügenden Anhalt, und sie ist auch in neuerer Zeit dazu be¬
nutzt worden. Da Grove einmal bei der Arbeit war, so hatte er ohne übermäßige
Mühe, durch Nachschlagen und Anfragen die Geschichte der ersten Aufführungen
Beethovenscher Sinfonien vervollständigen und abschließen können. Hoffentlich
unterzieht sich bald einmal eine jüngere Kraft dieser sehr notwendigen statistischen
Aufgabe. Grove hat sich darauf beschränkt, die bereits gedruckten, Frankreich
betreffenden Notizen zu sammeln und durch Mitteilungen über englische Auf¬
führungen zu ergänzen. Von Deutschland erfahren wir, was schon bekannt



*) G Nottebohm, 1. Ein Skizzenbuch von Beethoven, 1862. 2. Ein Skizzenbuch von
Beethoven, 1880. !!. Beethovenmnn 1872. 4. Zweite Becthoveuinnn 1887. Alle, Leipzig,
Rieter-Biedermann. Ur. ,'! ist das wichtigste Stück, es enthält die Skizzen und Vorarbeiten
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[0051] Ein neues Buch über Beethoven und seine Sinfonien er in der ganzen Kunstgeschichte nicht zum zweitenmale vorkommt. Beethoven hatte eine urwüchsige Abneigung gegen Stube und Schreibtisch und arbeitete, soweit es möglich war, als Peripatetiker, durch Wald und Feld streifend. Wo er ging, stand und saß — immer hatte er ein hohes, schmales Heft dicken, holländischen Notenpapiers bei sich. Darin trug er ein, was ihm Plötzlich einfiel, darin probirte er, führte aus und legte den ganzen „Werde¬ gang" seiner Kompositionen nieder, den sie vom ersten, fernen Dämmern der Ideen bis zur druckfertigen Gestalt durchliefen. Auch die Verirrungen und Holzwege, die unglaublichen Mühen, die dem manchmal sehr ungelenken Mann oft die einfachsten Dinge verursachten, die fahrbaren, aber wieder ausgegebnen Geleise kann man dort in Augenschein nehmen. Nicht alle, aber einundfünfzig von diesen Heften haben sich erhalten; die Mehrzahl besitzt jetzt die Königliche Bibliothek in Berlin. Es sind die berühmten „Skizzcnbücher" Beethovens, und es ist das Verdienst Nottebohms, diese Skizzenbücher durchgearbeitet und Auszüge davon gegeben zu haben.") Aus diesen Mitteilungen Nottebohms über die Skizzenbücher und auch aus Thayer bestimmt nun Grove die Entstehungsdaten der Beethovenschen Sinfonien, und er verfährt dabei mit großer Vorsicht. Ein Ergebnis der chrono¬ logischen Untersuchungen erwähnen wir hier besonders, weil es, obgleich sachlich wichtig, von Grove nicht berührt wird: Beethoven hatte immer mehrere Sinfonien zu gleicher Zeit in Angriff: die dritte und vierte, die fünfte und sechste, die siebente und achte sind paarweise entstanden, die letzten beiden Gruppen wurden auch so zuerst vors Publikum gebracht. Daraus er¬ klären sich gemeinsame Züge in der Form und im Inhalt: bei der dritten und vierten die neuen Themen in der Durchführung des ersten Satzes, bei der fünften und sechsten die Verknüpfung der letzten Sätze. Die ersten Aufführungen festzustellen war leichter. Soweit sie nicht durch Thayer und ältere Biographien schon ermittelt sind, giebt da die alte Allgemeine Musikalische Zeitung genügenden Anhalt, und sie ist auch in neuerer Zeit dazu be¬ nutzt worden. Da Grove einmal bei der Arbeit war, so hatte er ohne übermäßige Mühe, durch Nachschlagen und Anfragen die Geschichte der ersten Aufführungen Beethovenscher Sinfonien vervollständigen und abschließen können. Hoffentlich unterzieht sich bald einmal eine jüngere Kraft dieser sehr notwendigen statistischen Aufgabe. Grove hat sich darauf beschränkt, die bereits gedruckten, Frankreich betreffenden Notizen zu sammeln und durch Mitteilungen über englische Auf¬ führungen zu ergänzen. Von Deutschland erfahren wir, was schon bekannt *) G Nottebohm, 1. Ein Skizzenbuch von Beethoven, 1862. 2. Ein Skizzenbuch von Beethoven, 1880. !!. Beethovenmnn 1872. 4. Zweite Becthoveuinnn 1887. Alle, Leipzig, Rieter-Biedermann. Ur. ,'! ist das wichtigste Stück, es enthält die Skizzen und Vorarbeiten zur Eroica.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/51>, abgerufen am 08.01.2025.