Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
<Lin neues Buch über Beethoven und seine Sinfonien

das Theater wird die Ehre haben usw. Jakob Meyerbeer soll der Vater
dieser neuen Kunst, "Stimmung" zu machen, sein. Am Anfang unsers Jahr¬
hunderts war sie noch ziemlich unbekannt, die Presse war noch nicht so hilfreich
oder geschwätzig, das Publikum noch nicht so neugierig, und Beethoven jeden-
falls für derartige Marktschreiers ganz und gar unzugänglich. Händel hat in der
Regel den Originalhandschriften seiner Werke die Daten des Beginns und des
Endes beigefügt; sie gehören mit zum Verständnis seiner Kunst, ohne sie
würde man nicht glauben, wie schnell diese großen Werke komponirt sind.
Die meisten Beethovenschen Sinfonien waren Schmerzens- und Sorgenkinder und
wuchsen aus stetem geistigem Ringen nur langsam der Vollendung entgegen.
Vielleicht ist es darum kein Zufall, daß Beethoven nur bei der siebenten und
achten Sinfonie selbst das Datum der Entstehung angemerkt hat. Mit ihnen
beiden wurde er ausnahmsweise in ein und demselben Jahre fertig: 1812.
Tückischerweise hat uns dann der Buchbinder bei der siebenten doch noch
um die Kenntnis des Monats gebracht. Die Entstehungszeit der andern
können wir nur nach Schlüssen und Berechnungen bestimmen, und auch so
zuweilen nur annähernd.

Natürlich haben sich die frühern Biographen Beethovens schon mit diesem
Punkt beschäftigt. Das von ihnen herbeigetragne und benutzte Material ist
aber in neuerer Zeit ganz wesentlich durch zwei Schriftsteller vermehrt worden,
deren Namen in der Geschichte der Becthovenlitteratur für immer einen hohen
Rang einnehmen werden: Gustav Nottebohm und Alexander Thayer. Der
Amerikaner Thayer war der erste, der den Mut gehabt hat, eine Biographie
Beethovens zu schreiben und dem großen Manne gegenüber doch vollständig
nüchtern und prosaisch zu bleiben.") Den Künstler ließ er so gut wie ganz
aus dem Spiel, dem Menschen machte er ungefähr wie ein mild gestimmter
Untersuchungsrichter den Prozeß, ans den Akten Mythen zerstörend, neue
Kunde, erfreuliche und unerfreuliche, von Schicksalen, Thaten und Charakter¬
zügen bloßlegend. Durch diese leider noch nicht vollendete Arbeit und durch
das ihr vorausgeschickte "Chronologische Verzeichnis"der Werke Beethovens
hat Thayer der Beethovenforschung den festen Boden gegeben, der ihr bis
dahin gefehlt hatte. Wie auf Verabredung ging nun zu derselben Zeit, wo
Thayer hervortrat, Nottebohm an die Ergänzung seiner Arbeit. Er nahm
den innern Beethoven in Angriff, zeigte uns Beethoven den Künstler in seiner
Werkstatt und gab uns über die eigentümliche Art, wie der merkwürdige
Tondichter komponirte, so vollständigen und überzeugenden Ausschluß, wie




Ludwig van Beethovens Leben (Z7',v--I8KY. Bon A. W. Thayer. 3 Bände. Berlin,
1"00, >"7L, .>"?!>.
"*) Chronologisches Verzeichnis der Werte Ludwig van Beethovens von A. W. Thayer.
Berlin, 18ii!>.
<Lin neues Buch über Beethoven und seine Sinfonien

das Theater wird die Ehre haben usw. Jakob Meyerbeer soll der Vater
dieser neuen Kunst, „Stimmung" zu machen, sein. Am Anfang unsers Jahr¬
hunderts war sie noch ziemlich unbekannt, die Presse war noch nicht so hilfreich
oder geschwätzig, das Publikum noch nicht so neugierig, und Beethoven jeden-
falls für derartige Marktschreiers ganz und gar unzugänglich. Händel hat in der
Regel den Originalhandschriften seiner Werke die Daten des Beginns und des
Endes beigefügt; sie gehören mit zum Verständnis seiner Kunst, ohne sie
würde man nicht glauben, wie schnell diese großen Werke komponirt sind.
Die meisten Beethovenschen Sinfonien waren Schmerzens- und Sorgenkinder und
wuchsen aus stetem geistigem Ringen nur langsam der Vollendung entgegen.
Vielleicht ist es darum kein Zufall, daß Beethoven nur bei der siebenten und
achten Sinfonie selbst das Datum der Entstehung angemerkt hat. Mit ihnen
beiden wurde er ausnahmsweise in ein und demselben Jahre fertig: 1812.
Tückischerweise hat uns dann der Buchbinder bei der siebenten doch noch
um die Kenntnis des Monats gebracht. Die Entstehungszeit der andern
können wir nur nach Schlüssen und Berechnungen bestimmen, und auch so
zuweilen nur annähernd.

Natürlich haben sich die frühern Biographen Beethovens schon mit diesem
Punkt beschäftigt. Das von ihnen herbeigetragne und benutzte Material ist
aber in neuerer Zeit ganz wesentlich durch zwei Schriftsteller vermehrt worden,
deren Namen in der Geschichte der Becthovenlitteratur für immer einen hohen
Rang einnehmen werden: Gustav Nottebohm und Alexander Thayer. Der
Amerikaner Thayer war der erste, der den Mut gehabt hat, eine Biographie
Beethovens zu schreiben und dem großen Manne gegenüber doch vollständig
nüchtern und prosaisch zu bleiben.") Den Künstler ließ er so gut wie ganz
aus dem Spiel, dem Menschen machte er ungefähr wie ein mild gestimmter
Untersuchungsrichter den Prozeß, ans den Akten Mythen zerstörend, neue
Kunde, erfreuliche und unerfreuliche, von Schicksalen, Thaten und Charakter¬
zügen bloßlegend. Durch diese leider noch nicht vollendete Arbeit und durch
das ihr vorausgeschickte „Chronologische Verzeichnis"der Werke Beethovens
hat Thayer der Beethovenforschung den festen Boden gegeben, der ihr bis
dahin gefehlt hatte. Wie auf Verabredung ging nun zu derselben Zeit, wo
Thayer hervortrat, Nottebohm an die Ergänzung seiner Arbeit. Er nahm
den innern Beethoven in Angriff, zeigte uns Beethoven den Künstler in seiner
Werkstatt und gab uns über die eigentümliche Art, wie der merkwürdige
Tondichter komponirte, so vollständigen und überzeugenden Ausschluß, wie




Ludwig van Beethovens Leben (Z7',v—I8KY. Bon A. W. Thayer. 3 Bände. Berlin,
1»00, >«7L, .>«?!>.
"*) Chronologisches Verzeichnis der Werte Ludwig van Beethovens von A. W. Thayer.
Berlin, 18ii!>.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0050" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223634"/>
          <fw type="header" place="top"> &lt;Lin neues Buch über Beethoven und seine Sinfonien</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_128" prev="#ID_127"> das Theater wird die Ehre haben usw. Jakob Meyerbeer soll der Vater<lb/>
dieser neuen Kunst, &#x201E;Stimmung" zu machen, sein. Am Anfang unsers Jahr¬<lb/>
hunderts war sie noch ziemlich unbekannt, die Presse war noch nicht so hilfreich<lb/>
oder geschwätzig, das Publikum noch nicht so neugierig, und Beethoven jeden-<lb/>
falls für derartige Marktschreiers ganz und gar unzugänglich. Händel hat in der<lb/>
Regel den Originalhandschriften seiner Werke die Daten des Beginns und des<lb/>
Endes beigefügt; sie gehören mit zum Verständnis seiner Kunst, ohne sie<lb/>
würde man nicht glauben, wie schnell diese großen Werke komponirt sind.<lb/>
Die meisten Beethovenschen Sinfonien waren Schmerzens- und Sorgenkinder und<lb/>
wuchsen aus stetem geistigem Ringen nur langsam der Vollendung entgegen.<lb/>
Vielleicht ist es darum kein Zufall, daß Beethoven nur bei der siebenten und<lb/>
achten Sinfonie selbst das Datum der Entstehung angemerkt hat. Mit ihnen<lb/>
beiden wurde er ausnahmsweise in ein und demselben Jahre fertig: 1812.<lb/>
Tückischerweise hat uns dann der Buchbinder bei der siebenten doch noch<lb/>
um die Kenntnis des Monats gebracht. Die Entstehungszeit der andern<lb/>
können wir nur nach Schlüssen und Berechnungen bestimmen, und auch so<lb/>
zuweilen nur annähernd.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_129" next="#ID_130"> Natürlich haben sich die frühern Biographen Beethovens schon mit diesem<lb/>
Punkt beschäftigt. Das von ihnen herbeigetragne und benutzte Material ist<lb/>
aber in neuerer Zeit ganz wesentlich durch zwei Schriftsteller vermehrt worden,<lb/>
deren Namen in der Geschichte der Becthovenlitteratur für immer einen hohen<lb/>
Rang einnehmen werden: Gustav Nottebohm und Alexander Thayer. Der<lb/>
Amerikaner Thayer war der erste, der den Mut gehabt hat, eine Biographie<lb/>
Beethovens zu schreiben und dem großen Manne gegenüber doch vollständig<lb/>
nüchtern und prosaisch zu bleiben.") Den Künstler ließ er so gut wie ganz<lb/>
aus dem Spiel, dem Menschen machte er ungefähr wie ein mild gestimmter<lb/>
Untersuchungsrichter den Prozeß, ans den Akten Mythen zerstörend, neue<lb/>
Kunde, erfreuliche und unerfreuliche, von Schicksalen, Thaten und Charakter¬<lb/>
zügen bloßlegend. Durch diese leider noch nicht vollendete Arbeit und durch<lb/>
das ihr vorausgeschickte &#x201E;Chronologische Verzeichnis"der Werke Beethovens<lb/>
hat Thayer der Beethovenforschung den festen Boden gegeben, der ihr bis<lb/>
dahin gefehlt hatte. Wie auf Verabredung ging nun zu derselben Zeit, wo<lb/>
Thayer hervortrat, Nottebohm an die Ergänzung seiner Arbeit. Er nahm<lb/>
den innern Beethoven in Angriff, zeigte uns Beethoven den Künstler in seiner<lb/>
Werkstatt und gab uns über die eigentümliche Art, wie der merkwürdige<lb/>
Tondichter komponirte, so vollständigen und überzeugenden Ausschluß, wie</p><lb/>
          <note xml:id="FID_7" place="foot"> Ludwig van Beethovens Leben (Z7',v&#x2014;I8KY. Bon A. W. Thayer. 3 Bände. Berlin,<lb/>
1»00, &gt;«7L, .&gt;«?!&gt;.</note><lb/>
          <note xml:id="FID_8" place="foot"> "*) Chronologisches Verzeichnis der Werte Ludwig van Beethovens von A. W. Thayer.<lb/>
Berlin, 18ii!&gt;.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0050] <Lin neues Buch über Beethoven und seine Sinfonien das Theater wird die Ehre haben usw. Jakob Meyerbeer soll der Vater dieser neuen Kunst, „Stimmung" zu machen, sein. Am Anfang unsers Jahr¬ hunderts war sie noch ziemlich unbekannt, die Presse war noch nicht so hilfreich oder geschwätzig, das Publikum noch nicht so neugierig, und Beethoven jeden- falls für derartige Marktschreiers ganz und gar unzugänglich. Händel hat in der Regel den Originalhandschriften seiner Werke die Daten des Beginns und des Endes beigefügt; sie gehören mit zum Verständnis seiner Kunst, ohne sie würde man nicht glauben, wie schnell diese großen Werke komponirt sind. Die meisten Beethovenschen Sinfonien waren Schmerzens- und Sorgenkinder und wuchsen aus stetem geistigem Ringen nur langsam der Vollendung entgegen. Vielleicht ist es darum kein Zufall, daß Beethoven nur bei der siebenten und achten Sinfonie selbst das Datum der Entstehung angemerkt hat. Mit ihnen beiden wurde er ausnahmsweise in ein und demselben Jahre fertig: 1812. Tückischerweise hat uns dann der Buchbinder bei der siebenten doch noch um die Kenntnis des Monats gebracht. Die Entstehungszeit der andern können wir nur nach Schlüssen und Berechnungen bestimmen, und auch so zuweilen nur annähernd. Natürlich haben sich die frühern Biographen Beethovens schon mit diesem Punkt beschäftigt. Das von ihnen herbeigetragne und benutzte Material ist aber in neuerer Zeit ganz wesentlich durch zwei Schriftsteller vermehrt worden, deren Namen in der Geschichte der Becthovenlitteratur für immer einen hohen Rang einnehmen werden: Gustav Nottebohm und Alexander Thayer. Der Amerikaner Thayer war der erste, der den Mut gehabt hat, eine Biographie Beethovens zu schreiben und dem großen Manne gegenüber doch vollständig nüchtern und prosaisch zu bleiben.") Den Künstler ließ er so gut wie ganz aus dem Spiel, dem Menschen machte er ungefähr wie ein mild gestimmter Untersuchungsrichter den Prozeß, ans den Akten Mythen zerstörend, neue Kunde, erfreuliche und unerfreuliche, von Schicksalen, Thaten und Charakter¬ zügen bloßlegend. Durch diese leider noch nicht vollendete Arbeit und durch das ihr vorausgeschickte „Chronologische Verzeichnis"der Werke Beethovens hat Thayer der Beethovenforschung den festen Boden gegeben, der ihr bis dahin gefehlt hatte. Wie auf Verabredung ging nun zu derselben Zeit, wo Thayer hervortrat, Nottebohm an die Ergänzung seiner Arbeit. Er nahm den innern Beethoven in Angriff, zeigte uns Beethoven den Künstler in seiner Werkstatt und gab uns über die eigentümliche Art, wie der merkwürdige Tondichter komponirte, so vollständigen und überzeugenden Ausschluß, wie Ludwig van Beethovens Leben (Z7',v—I8KY. Bon A. W. Thayer. 3 Bände. Berlin, 1»00, >«7L, .>«?!>. "*) Chronologisches Verzeichnis der Werte Ludwig van Beethovens von A. W. Thayer. Berlin, 18ii!>.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/50
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/50>, abgerufen am 06.01.2025.