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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Englische Zustände

chronisch geworden, daran lassen die in Zeitungsartikeln und Geschäftsberichten
zu uns herüberdringenden Klagen, daran lassen auch die vorliegenden Bücher
nicht mehr zweifeln. Sogar beim Maschinenbau klagt ein Zeuge (Schmid,
S: 55): "Infolge der scharfen Konkurrenz können die Unternehmer einem
Manne unter dreißig Jahren den vollen Lohn unter dem Vorwande vorent¬
halten, daß er noch nicht geübt genug sei, einen Mann von vierzig Jahren
aber als zu alt zurückweisen, sodaß sich der Mannesverdienst auf zehn Jahre
beschränkt." Die Kutscher klagen, daß ihrer viel zu viel seien. Die Textil¬
industrie aber hält sich auch heute nur durch Frauen- und Kinderarbeit. Die
Vertreter der großen Spinner von Lancashire, die Herren Mullin, Sill,
Mawdsley usw. sagen aus (Schmid, S. 131), die Kinder müßten als Halb¬
zeiter mit zehn Jahren in die Fabrik; mit dreizehn Jahren, wo der Schul¬
besuch wegfällt, werden sie Ganzzeiter. "Kinder, die mit zwölf Jahren ein¬
treten, stören, da sie sich bereits eine gewisse Unabhängigkeit errungen haben,
auch vielfach faul sind. Wenn ein Erwachsener auch fünfundzwanzig Jahre
lernte, er könnte nie ein geübter Arbeiter werden, weil feine Finger nicht
mehr die nötige Geschmeidigkeit erlangen." Weil die Frauen alle in der
Fabrik beschäftigt sind, und die kleinen Kinder demnach keine Pflege haben,
ist auch die Kindersterblichkeit in diesen Bezirken sehr groß, wie der Sanitäts¬
beamte sür Manchester aussagt (S. 134). Auf dieser Mitarbeit der Frauen
und Kinder, und auf ihr allein beruht die viel gerühmte glänzende Lage der
Spinner und Weber von Lancashire. Der Mann verdient nur zwanzig Mark
die Woche. Arbeiten die Frau und drei bis vier Kinder mit, so kann die
Familie ein Kapitälchen sparen; "aber ein Mann mit Kindern unter zehn
Jahren, dessen Frau nicht in die Fabrik geht, ist übel daran" (S. 132). Und
auch mit dieser Art Glanz dürfte es bald vorbei sein; der Krach droht, oder
vielmehr die Schwindsucht. Die Baumwollenfabrikcmten Simpson und Raw-
linson sagen im Namen der Unternehmer von Lancashire aus: "Die Gewinne
waren in den letzten zehn Jahren unter fünf Prozent. Die letzten beiden
Jahre waren sehr schlecht. Der Arbeiter erhält in seinen hohen Löhnen mehr
vom Reinertrage, als ihm bei den sinkenden Preisen gebührt. So kam es,
daß sich das Kapital zurückzog; es wurde ersetzt durch Aktienunternehmen.
Diese Gesellschaften sind die Rettung der Baumwollenfabrikation in Oldham
gewesen. Die Arbeiter stehen diesen Gesellschaften gegenüber wie andern Unter¬
nehmern. In den letzten zehn Jahren ist aus privatem Kapital ^soll heißen
von einzelnen Unternehmern^ keine neue Fabrik errichtet worden. Alle neuen
Fabriken sind Aktienunternehmungen. Das Kapital locken sie an durch Divi¬
denden, die sie zahlen, aber nicht verdienen" (S. 134). Genau dasselbe hat
Steffen erfahren. Er schreibt S. 129 ff.: "Gerade jetzt durch englische Baum-
wollenfabriken zu wandern, bereichert einen mit ganz eigentümlichen Erfah¬
rungen. Während man sich einerseits Ange in Auge gegenüber den aller-


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chronisch geworden, daran lassen die in Zeitungsartikeln und Geschäftsberichten
zu uns herüberdringenden Klagen, daran lassen auch die vorliegenden Bücher
nicht mehr zweifeln. Sogar beim Maschinenbau klagt ein Zeuge (Schmid,
S: 55): „Infolge der scharfen Konkurrenz können die Unternehmer einem
Manne unter dreißig Jahren den vollen Lohn unter dem Vorwande vorent¬
halten, daß er noch nicht geübt genug sei, einen Mann von vierzig Jahren
aber als zu alt zurückweisen, sodaß sich der Mannesverdienst auf zehn Jahre
beschränkt." Die Kutscher klagen, daß ihrer viel zu viel seien. Die Textil¬
industrie aber hält sich auch heute nur durch Frauen- und Kinderarbeit. Die
Vertreter der großen Spinner von Lancashire, die Herren Mullin, Sill,
Mawdsley usw. sagen aus (Schmid, S. 131), die Kinder müßten als Halb¬
zeiter mit zehn Jahren in die Fabrik; mit dreizehn Jahren, wo der Schul¬
besuch wegfällt, werden sie Ganzzeiter. „Kinder, die mit zwölf Jahren ein¬
treten, stören, da sie sich bereits eine gewisse Unabhängigkeit errungen haben,
auch vielfach faul sind. Wenn ein Erwachsener auch fünfundzwanzig Jahre
lernte, er könnte nie ein geübter Arbeiter werden, weil feine Finger nicht
mehr die nötige Geschmeidigkeit erlangen." Weil die Frauen alle in der
Fabrik beschäftigt sind, und die kleinen Kinder demnach keine Pflege haben,
ist auch die Kindersterblichkeit in diesen Bezirken sehr groß, wie der Sanitäts¬
beamte sür Manchester aussagt (S. 134). Auf dieser Mitarbeit der Frauen
und Kinder, und auf ihr allein beruht die viel gerühmte glänzende Lage der
Spinner und Weber von Lancashire. Der Mann verdient nur zwanzig Mark
die Woche. Arbeiten die Frau und drei bis vier Kinder mit, so kann die
Familie ein Kapitälchen sparen; „aber ein Mann mit Kindern unter zehn
Jahren, dessen Frau nicht in die Fabrik geht, ist übel daran" (S. 132). Und
auch mit dieser Art Glanz dürfte es bald vorbei sein; der Krach droht, oder
vielmehr die Schwindsucht. Die Baumwollenfabrikcmten Simpson und Raw-
linson sagen im Namen der Unternehmer von Lancashire aus: „Die Gewinne
waren in den letzten zehn Jahren unter fünf Prozent. Die letzten beiden
Jahre waren sehr schlecht. Der Arbeiter erhält in seinen hohen Löhnen mehr
vom Reinertrage, als ihm bei den sinkenden Preisen gebührt. So kam es,
daß sich das Kapital zurückzog; es wurde ersetzt durch Aktienunternehmen.
Diese Gesellschaften sind die Rettung der Baumwollenfabrikation in Oldham
gewesen. Die Arbeiter stehen diesen Gesellschaften gegenüber wie andern Unter¬
nehmern. In den letzten zehn Jahren ist aus privatem Kapital ^soll heißen
von einzelnen Unternehmern^ keine neue Fabrik errichtet worden. Alle neuen
Fabriken sind Aktienunternehmungen. Das Kapital locken sie an durch Divi¬
denden, die sie zahlen, aber nicht verdienen" (S. 134). Genau dasselbe hat
Steffen erfahren. Er schreibt S. 129 ff.: „Gerade jetzt durch englische Baum-
wollenfabriken zu wandern, bereichert einen mit ganz eigentümlichen Erfah¬
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[0508] Englische Zustände chronisch geworden, daran lassen die in Zeitungsartikeln und Geschäftsberichten zu uns herüberdringenden Klagen, daran lassen auch die vorliegenden Bücher nicht mehr zweifeln. Sogar beim Maschinenbau klagt ein Zeuge (Schmid, S: 55): „Infolge der scharfen Konkurrenz können die Unternehmer einem Manne unter dreißig Jahren den vollen Lohn unter dem Vorwande vorent¬ halten, daß er noch nicht geübt genug sei, einen Mann von vierzig Jahren aber als zu alt zurückweisen, sodaß sich der Mannesverdienst auf zehn Jahre beschränkt." Die Kutscher klagen, daß ihrer viel zu viel seien. Die Textil¬ industrie aber hält sich auch heute nur durch Frauen- und Kinderarbeit. Die Vertreter der großen Spinner von Lancashire, die Herren Mullin, Sill, Mawdsley usw. sagen aus (Schmid, S. 131), die Kinder müßten als Halb¬ zeiter mit zehn Jahren in die Fabrik; mit dreizehn Jahren, wo der Schul¬ besuch wegfällt, werden sie Ganzzeiter. „Kinder, die mit zwölf Jahren ein¬ treten, stören, da sie sich bereits eine gewisse Unabhängigkeit errungen haben, auch vielfach faul sind. Wenn ein Erwachsener auch fünfundzwanzig Jahre lernte, er könnte nie ein geübter Arbeiter werden, weil feine Finger nicht mehr die nötige Geschmeidigkeit erlangen." Weil die Frauen alle in der Fabrik beschäftigt sind, und die kleinen Kinder demnach keine Pflege haben, ist auch die Kindersterblichkeit in diesen Bezirken sehr groß, wie der Sanitäts¬ beamte sür Manchester aussagt (S. 134). Auf dieser Mitarbeit der Frauen und Kinder, und auf ihr allein beruht die viel gerühmte glänzende Lage der Spinner und Weber von Lancashire. Der Mann verdient nur zwanzig Mark die Woche. Arbeiten die Frau und drei bis vier Kinder mit, so kann die Familie ein Kapitälchen sparen; „aber ein Mann mit Kindern unter zehn Jahren, dessen Frau nicht in die Fabrik geht, ist übel daran" (S. 132). Und auch mit dieser Art Glanz dürfte es bald vorbei sein; der Krach droht, oder vielmehr die Schwindsucht. Die Baumwollenfabrikcmten Simpson und Raw- linson sagen im Namen der Unternehmer von Lancashire aus: „Die Gewinne waren in den letzten zehn Jahren unter fünf Prozent. Die letzten beiden Jahre waren sehr schlecht. Der Arbeiter erhält in seinen hohen Löhnen mehr vom Reinertrage, als ihm bei den sinkenden Preisen gebührt. So kam es, daß sich das Kapital zurückzog; es wurde ersetzt durch Aktienunternehmen. Diese Gesellschaften sind die Rettung der Baumwollenfabrikation in Oldham gewesen. Die Arbeiter stehen diesen Gesellschaften gegenüber wie andern Unter¬ nehmern. In den letzten zehn Jahren ist aus privatem Kapital ^soll heißen von einzelnen Unternehmern^ keine neue Fabrik errichtet worden. Alle neuen Fabriken sind Aktienunternehmungen. Das Kapital locken sie an durch Divi¬ denden, die sie zahlen, aber nicht verdienen" (S. 134). Genau dasselbe hat Steffen erfahren. Er schreibt S. 129 ff.: „Gerade jetzt durch englische Baum- wollenfabriken zu wandern, bereichert einen mit ganz eigentümlichen Erfah¬ rungen. Während man sich einerseits Ange in Auge gegenüber den aller-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/508>, abgerufen am 08.01.2025.