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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Englische Zustände

trotz wieder eingetretener Verschlechterung im ganzen doch besser zu stehen als
vor fünfundzwanzig Jahren. Vor 1892, meint ein Güterpacker, "waren die
Meister eine Bande von Tyrannen und behandelten die Leute schlecht. Das
ist jetzt anders." Über die Gruppe: Landtransport wird gesagt, es gehe
aus ihrer Geschichte wenigstens soviel hervor, "daß die Arbeiter, sobald sie
sich organisiren, ihre Lage selbst verbessern können und zum Teil bereits ver¬
bessert haben." Und über die Baugewerbe im allgemeinen urteilt die Kom¬
mission: "In der Mehrzahl dieser Gewerbe sind in jüngster Zeit die Löhne
erhöht worden, was den Anstrengungen der Gewerkvereine und den Streiks
zugeschrieben wird." Die Verschiedenheit der Urteile über die Gewerkvereine
entspringt offenbar der Verschiedenheit der Geschäftslage und der Gewerbe selbst.
Wenn el" Gewerbe, wie die Maschinenbauerei, einen tüchtigen Stamm gelernter
Arbeiter erfordert, oder wenn, wie bei den Kohlengräbern, ein Mann von ge¬
waltiger Körperkraft in sechs Stunden doppelt soviel leistet, wie ein Schwäch¬
ling in zwölf Stunden, und wenn außerdem die Geschäftslage die Zahlung
hoher Löhne gestattet, dann fallen offenbar die Bestrebungen der Gewerkvereine
bis zu einem gewissen Grade mit dem Interesse der Unternehmer zusammen,
und diese müßten blind sein, wenn sie nicht ein freundschaftliches Verhältnis
und bei Meinungsverschiedenheiten ein geordnetes Einiguugsverfahren einem
Zustande vorzögen, wo sich der Unternehmer und seine Beamten nicht ohne
Revolver unter ihre Arbeiter wagen können. Sind dagegen in einem Gewerbe
Weiber, Kinder und Ungelernte verwendbar, und gestattet der geringe Ertrag
keine hohen Löhne, dann sind natürlich nicht allein die Unternehmer wütend
darüber, daß sie in der Verwendung billiger Arbeiter beschränkt werden, sondern
auch diese billigen Arbeiter selbst, die von den organisirten ausgesperrt werden,
schelten auf deren Tyrannei, da ja auch das elendeste Brot immer noch besser
ist als gar keins. Steffen schreibt, nachdem er die Leistungen der Gewerk¬
vereine gerühmt hat: "Daß man gelegentlich gerade das Gegenteil von
Kapitalisten behaupten hört, die in Bezug auf ihre Arbeiter kein andres Lebens¬
ideal kennen, als daß diese sich willig den Lohnhercibsetznngen und Arbeits¬
bedingungen fügen sollen, die die Arbeitgeber aus der oder jener Veranlassung
-- die eigne Inkompetenz eingerechnet -- zu dekretiren für gut finden, das
erklärt sich am Ende leicht genug. Kein Industrieller fühlt sich im ersten
Augenblick angenehm berührt, wenn er erkennt, daß es seine Arbeiter als er-
worbnes Recht beanspruchen, sich an der innern Ökonomie des Unternehmens
als interessirt zu betrachten und ihn zu hindern, "sein eignes Geschäft" absolut
nach seinem Gutdünken zu betreiben."

Natürlich reicht auch der beste Wille beim Unternehmer nicht aus, wenn
die Mittel fehlen, und obwohl sich die Unternehmer meistens viel zu früh ein¬
bilden, daß die Mittel fehlten, so tritt doch in Geschäftskrisen der verhängnis¬
volle Augenblick unvermeidlich ein, die Krisis aber ist heute in England


Englische Zustände

trotz wieder eingetretener Verschlechterung im ganzen doch besser zu stehen als
vor fünfundzwanzig Jahren. Vor 1892, meint ein Güterpacker, „waren die
Meister eine Bande von Tyrannen und behandelten die Leute schlecht. Das
ist jetzt anders." Über die Gruppe: Landtransport wird gesagt, es gehe
aus ihrer Geschichte wenigstens soviel hervor, „daß die Arbeiter, sobald sie
sich organisiren, ihre Lage selbst verbessern können und zum Teil bereits ver¬
bessert haben." Und über die Baugewerbe im allgemeinen urteilt die Kom¬
mission: „In der Mehrzahl dieser Gewerbe sind in jüngster Zeit die Löhne
erhöht worden, was den Anstrengungen der Gewerkvereine und den Streiks
zugeschrieben wird." Die Verschiedenheit der Urteile über die Gewerkvereine
entspringt offenbar der Verschiedenheit der Geschäftslage und der Gewerbe selbst.
Wenn el» Gewerbe, wie die Maschinenbauerei, einen tüchtigen Stamm gelernter
Arbeiter erfordert, oder wenn, wie bei den Kohlengräbern, ein Mann von ge¬
waltiger Körperkraft in sechs Stunden doppelt soviel leistet, wie ein Schwäch¬
ling in zwölf Stunden, und wenn außerdem die Geschäftslage die Zahlung
hoher Löhne gestattet, dann fallen offenbar die Bestrebungen der Gewerkvereine
bis zu einem gewissen Grade mit dem Interesse der Unternehmer zusammen,
und diese müßten blind sein, wenn sie nicht ein freundschaftliches Verhältnis
und bei Meinungsverschiedenheiten ein geordnetes Einiguugsverfahren einem
Zustande vorzögen, wo sich der Unternehmer und seine Beamten nicht ohne
Revolver unter ihre Arbeiter wagen können. Sind dagegen in einem Gewerbe
Weiber, Kinder und Ungelernte verwendbar, und gestattet der geringe Ertrag
keine hohen Löhne, dann sind natürlich nicht allein die Unternehmer wütend
darüber, daß sie in der Verwendung billiger Arbeiter beschränkt werden, sondern
auch diese billigen Arbeiter selbst, die von den organisirten ausgesperrt werden,
schelten auf deren Tyrannei, da ja auch das elendeste Brot immer noch besser
ist als gar keins. Steffen schreibt, nachdem er die Leistungen der Gewerk¬
vereine gerühmt hat: „Daß man gelegentlich gerade das Gegenteil von
Kapitalisten behaupten hört, die in Bezug auf ihre Arbeiter kein andres Lebens¬
ideal kennen, als daß diese sich willig den Lohnhercibsetznngen und Arbeits¬
bedingungen fügen sollen, die die Arbeitgeber aus der oder jener Veranlassung
— die eigne Inkompetenz eingerechnet — zu dekretiren für gut finden, das
erklärt sich am Ende leicht genug. Kein Industrieller fühlt sich im ersten
Augenblick angenehm berührt, wenn er erkennt, daß es seine Arbeiter als er-
worbnes Recht beanspruchen, sich an der innern Ökonomie des Unternehmens
als interessirt zu betrachten und ihn zu hindern, »sein eignes Geschäft« absolut
nach seinem Gutdünken zu betreiben."

Natürlich reicht auch der beste Wille beim Unternehmer nicht aus, wenn
die Mittel fehlen, und obwohl sich die Unternehmer meistens viel zu früh ein¬
bilden, daß die Mittel fehlten, so tritt doch in Geschäftskrisen der verhängnis¬
volle Augenblick unvermeidlich ein, die Krisis aber ist heute in England


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[0507] Englische Zustände trotz wieder eingetretener Verschlechterung im ganzen doch besser zu stehen als vor fünfundzwanzig Jahren. Vor 1892, meint ein Güterpacker, „waren die Meister eine Bande von Tyrannen und behandelten die Leute schlecht. Das ist jetzt anders." Über die Gruppe: Landtransport wird gesagt, es gehe aus ihrer Geschichte wenigstens soviel hervor, „daß die Arbeiter, sobald sie sich organisiren, ihre Lage selbst verbessern können und zum Teil bereits ver¬ bessert haben." Und über die Baugewerbe im allgemeinen urteilt die Kom¬ mission: „In der Mehrzahl dieser Gewerbe sind in jüngster Zeit die Löhne erhöht worden, was den Anstrengungen der Gewerkvereine und den Streiks zugeschrieben wird." Die Verschiedenheit der Urteile über die Gewerkvereine entspringt offenbar der Verschiedenheit der Geschäftslage und der Gewerbe selbst. Wenn el» Gewerbe, wie die Maschinenbauerei, einen tüchtigen Stamm gelernter Arbeiter erfordert, oder wenn, wie bei den Kohlengräbern, ein Mann von ge¬ waltiger Körperkraft in sechs Stunden doppelt soviel leistet, wie ein Schwäch¬ ling in zwölf Stunden, und wenn außerdem die Geschäftslage die Zahlung hoher Löhne gestattet, dann fallen offenbar die Bestrebungen der Gewerkvereine bis zu einem gewissen Grade mit dem Interesse der Unternehmer zusammen, und diese müßten blind sein, wenn sie nicht ein freundschaftliches Verhältnis und bei Meinungsverschiedenheiten ein geordnetes Einiguugsverfahren einem Zustande vorzögen, wo sich der Unternehmer und seine Beamten nicht ohne Revolver unter ihre Arbeiter wagen können. Sind dagegen in einem Gewerbe Weiber, Kinder und Ungelernte verwendbar, und gestattet der geringe Ertrag keine hohen Löhne, dann sind natürlich nicht allein die Unternehmer wütend darüber, daß sie in der Verwendung billiger Arbeiter beschränkt werden, sondern auch diese billigen Arbeiter selbst, die von den organisirten ausgesperrt werden, schelten auf deren Tyrannei, da ja auch das elendeste Brot immer noch besser ist als gar keins. Steffen schreibt, nachdem er die Leistungen der Gewerk¬ vereine gerühmt hat: „Daß man gelegentlich gerade das Gegenteil von Kapitalisten behaupten hört, die in Bezug auf ihre Arbeiter kein andres Lebens¬ ideal kennen, als daß diese sich willig den Lohnhercibsetznngen und Arbeits¬ bedingungen fügen sollen, die die Arbeitgeber aus der oder jener Veranlassung — die eigne Inkompetenz eingerechnet — zu dekretiren für gut finden, das erklärt sich am Ende leicht genug. Kein Industrieller fühlt sich im ersten Augenblick angenehm berührt, wenn er erkennt, daß es seine Arbeiter als er- worbnes Recht beanspruchen, sich an der innern Ökonomie des Unternehmens als interessirt zu betrachten und ihn zu hindern, »sein eignes Geschäft« absolut nach seinem Gutdünken zu betreiben." Natürlich reicht auch der beste Wille beim Unternehmer nicht aus, wenn die Mittel fehlen, und obwohl sich die Unternehmer meistens viel zu früh ein¬ bilden, daß die Mittel fehlten, so tritt doch in Geschäftskrisen der verhängnis¬ volle Augenblick unvermeidlich ein, die Krisis aber ist heute in England

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/507>, abgerufen am 08.01.2025.