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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Die Frau in der Dichtung

in der Provinzialstadt bescheiden an einen klugen Oberlehrer verheiratet ist und
ihrem kinderreichen Hause mit Mühe und manchmal nicht ohne Sorge vor¬
steht. Die Tante logirt dann in den besten Zimmern des kleinen Hotels, kauft
den Kindern die kostbarsten Sachen, bis die Mutter Einhalt thut, und unter¬
hält sich mit dem Vater, ihrem Schwager, dem Oberlehrer, der nie hat reisen
können, sehr redefertig über alle erdenkliche Kunst der Welt, wobei es der
ältesten Tochter, unsrer Tine, eigentlich so vorkommt, als verstehe ihr einfacher
Vater mehr von den Dingen, als die weitgereiste Tante. Tine zeichnet und
malt, und jetzt -- sie ist dreiundzwanzig Jahre -- bietet ihr die Tante an,
sie auf ihre Kosten ausbilden zu lassen. Sie bezieht ein Zimmer in der Villa
des Tiergartens und nimmt die verschiedensten Eindrücke immer mit den Er¬
innerungen an die entsprechenden Verhältnisse des einfachen Elternhauses in
sich auf. Wie hier nach einem ersten Bewundern und Genießen die gesunde
Freude an dem reichen Inhalt ihres frühern, bescheidnen Lebens und die Sehn¬
sucht dorthin die Oberhand erhält, ist sehr schön geschildert. Die Tante weiß
nicht, wofür sie lebt. Sie bringt den Tag hin und thut, wie dem jungen
Mädchen bald klar wird, eigentlich nichts. Weil der Geldbeutel der Tante
jedes Hindernis beseitigt, so machen auch die Vorbereitungen auf das Christfest
keine Mühe, die daheim soviel Zeit beanspruchten. Dafür muß nun ein großes
Kostümfest mit Künstlern und Musikern vorbereitet und schließlich, um der
Tante wenigstens für einen Abend etwas der Befriedigung ähnliches zu ge¬
währen, aufgeführt werde". Und die Malerei? Sie ist der Tante eigentlich
unleidlich, denn da Tine mit Ernst arbeitet, so ist sie dann hinlänglich ermüdet,
um nicht alle Zerstreuungen der Gönnerin mit zu genießen. Im Atelier bei
Meister Becker sitzen links in einem gesonderten Raume die Herren, rechts die
Damen, diese in vierfacher Zahl von jenen, wirken aber nur quantitativ, denn
wie Tiue bald heraus hat, ist nur ein frisches Wesen vom Lande darunter,
das Talent hat und wenn auch keine große Malerin, doch noch einmal Zeichen-
lehrerin werden wird. Die andern schaffen nach dem Rezept die bunte Welt
des Scheins; drei Reiche der Welt: Luft, Wasser und Erde, und für jedes
drei Häufchen Farbe mit dem Spachtel gemischt, auf der Palette, und drei
Häufchen Kreuser Weiß daneben. Dann wird angelegt, übergegangen, in
einander gespielt, bis alles zart zusammengeht, und wer den Himmel und das
Wasser malen kaun, kriegt die Bänme geschenkt. Tine sieht bald, daß diese
Kunst, mit deren Hilfe man sich ebenso sicher eines Sonnenuntergangs in
Sorrent, wie eines Schiffbruchs an der norwegischen Küste bemächtigt, je nach¬
dem es die Vorlage wünscht, ihre Aufgabe gethan hat, sobald die Weihnachts¬
bilder nach Hause abgeschickt sind. Sie freut sich fast, daß das Atelier während
der Weihnachtswoche geschlossen ist, und wird nun an den Bildern der alten
Meister im Museum inne, was es heißt: malen. Inzwischen wird sie durch
allerlei andres in der Großstadt an Pflichten erinnert, die sie zu Hause aus-


Die Frau in der Dichtung

in der Provinzialstadt bescheiden an einen klugen Oberlehrer verheiratet ist und
ihrem kinderreichen Hause mit Mühe und manchmal nicht ohne Sorge vor¬
steht. Die Tante logirt dann in den besten Zimmern des kleinen Hotels, kauft
den Kindern die kostbarsten Sachen, bis die Mutter Einhalt thut, und unter¬
hält sich mit dem Vater, ihrem Schwager, dem Oberlehrer, der nie hat reisen
können, sehr redefertig über alle erdenkliche Kunst der Welt, wobei es der
ältesten Tochter, unsrer Tine, eigentlich so vorkommt, als verstehe ihr einfacher
Vater mehr von den Dingen, als die weitgereiste Tante. Tine zeichnet und
malt, und jetzt — sie ist dreiundzwanzig Jahre — bietet ihr die Tante an,
sie auf ihre Kosten ausbilden zu lassen. Sie bezieht ein Zimmer in der Villa
des Tiergartens und nimmt die verschiedensten Eindrücke immer mit den Er¬
innerungen an die entsprechenden Verhältnisse des einfachen Elternhauses in
sich auf. Wie hier nach einem ersten Bewundern und Genießen die gesunde
Freude an dem reichen Inhalt ihres frühern, bescheidnen Lebens und die Sehn¬
sucht dorthin die Oberhand erhält, ist sehr schön geschildert. Die Tante weiß
nicht, wofür sie lebt. Sie bringt den Tag hin und thut, wie dem jungen
Mädchen bald klar wird, eigentlich nichts. Weil der Geldbeutel der Tante
jedes Hindernis beseitigt, so machen auch die Vorbereitungen auf das Christfest
keine Mühe, die daheim soviel Zeit beanspruchten. Dafür muß nun ein großes
Kostümfest mit Künstlern und Musikern vorbereitet und schließlich, um der
Tante wenigstens für einen Abend etwas der Befriedigung ähnliches zu ge¬
währen, aufgeführt werde». Und die Malerei? Sie ist der Tante eigentlich
unleidlich, denn da Tine mit Ernst arbeitet, so ist sie dann hinlänglich ermüdet,
um nicht alle Zerstreuungen der Gönnerin mit zu genießen. Im Atelier bei
Meister Becker sitzen links in einem gesonderten Raume die Herren, rechts die
Damen, diese in vierfacher Zahl von jenen, wirken aber nur quantitativ, denn
wie Tiue bald heraus hat, ist nur ein frisches Wesen vom Lande darunter,
das Talent hat und wenn auch keine große Malerin, doch noch einmal Zeichen-
lehrerin werden wird. Die andern schaffen nach dem Rezept die bunte Welt
des Scheins; drei Reiche der Welt: Luft, Wasser und Erde, und für jedes
drei Häufchen Farbe mit dem Spachtel gemischt, auf der Palette, und drei
Häufchen Kreuser Weiß daneben. Dann wird angelegt, übergegangen, in
einander gespielt, bis alles zart zusammengeht, und wer den Himmel und das
Wasser malen kaun, kriegt die Bänme geschenkt. Tine sieht bald, daß diese
Kunst, mit deren Hilfe man sich ebenso sicher eines Sonnenuntergangs in
Sorrent, wie eines Schiffbruchs an der norwegischen Küste bemächtigt, je nach¬
dem es die Vorlage wünscht, ihre Aufgabe gethan hat, sobald die Weihnachts¬
bilder nach Hause abgeschickt sind. Sie freut sich fast, daß das Atelier während
der Weihnachtswoche geschlossen ist, und wird nun an den Bildern der alten
Meister im Museum inne, was es heißt: malen. Inzwischen wird sie durch
allerlei andres in der Großstadt an Pflichten erinnert, die sie zu Hause aus-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/483>, abgerufen am 08.01.2025.