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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Vie Frau in der Dichtung

müden pflegte, und denen man dort auf viel schönere Art nachgehen konnte
als hier. Wie einfach und gar nicht abschreckend tritt uns an den kleinen
Orten das Elend entgegen, wie leicht kann man ihm menschlich näher treten!
Was sind dagegen die Veranstaltungen der Wohlthätigkeit in den großen
Städten, wie peinlich sind die Berührungen des Einzelnen mit der Armut an
den Straßenecken, der er doch nicht helfen kann! So kommt denn dem jungen
Madchen der Gedanke, daß, wenn ihre Pflicht sie nicht nach Hause riefe, wohin
die Sehnsucht immer größer wird, es wenigstens ein ernsthafter Beruf sein
mußte, der sie von dort fern hielte: sie möchte in der Krankenpflege arbeiten.
Da stirbt plötzlich die Tante schnell an einem Unfall unter vielen Schmerzen;
Tine sieht, wie sich die helfende barmherzige Schwester dabei über alle Be¬
schreibung hilfreich erweist. Sie will ihren eignen Plan darauf gründen, so¬
bald der Haushalt in Berlin aufgelöst ist. Die Tante hat nichts nennens¬
wertes hinterlassen, das Grundstück ist verschuldet, und ihr Vermögen war längst
in eine hohe Leibrente verwandelt. Ein Teil des Ertrages aus dem Verkauf
des Mobiliars fällt Times Eltern zu.

Hiermit schließt die Erzählung des kleinen Buches, das selbstverständlich
in Bezug auf die Fragen, von denen es ausgeht, nichts weiter bringen kann,
als etwas Stimmung und Lust, weiter über sie nachzudenken. Denn auch die
Ehe, mit der hier am Ende allem weitern abgeholfen wird, macht sich in der
Dichtung leichter, als manchmal im Leben. Die Vorrede fingirt nämlich, daß
die Briefe zwanzig Jahre später von der Empfängerin an die Schreibende
zurückgeschickt werden, wo beide glücklich verheiratet und auf diese Weise mit
einander verwandt geworden sind. Es ist also eine hübsche kleine, im versöhn¬
lichen Sinne geschriebn? soziale Erzählung.

Wir verbinden hiermit noch einige Bemerkungen über ein andres in dem¬
selben Verlage erschienenes Frauenbuch: Ikarus, eine Reisenovclle von
H. Mellin. In der, wie man meinen möchte, abgegriffnen Form einer
Beschreibung von Neiseeindrücken, die sich hauptsächlich auf Rom beziehen, er¬
halten wir einen tief angelegten Lebensromau, wirklich vornehm, nicht nur in
dem Sinne, daß ihn meist vornehme Menschen darstellen. Die Tochter eines
pommerschen Gutsbesitzers, verlobt in den Verhältnissen ihres Standes, macht
vor ihrer Verheiratung einen Ausflug in das Reich der Freiheit und der
Phantasie. Einige solche Menschen ihres spätern Kreises treten uns entgegen,
adliche Reisende, korrekte, selbstzufriedne Menschen. Gabriele fliegt etwas höher.
Ihre Beschützerin in Rom ist Julia, eine unabhängige, talentvolle Freundin
von männlichem Charakter, die dort lebt und, da sie keine Augehörigen mehr
hat, dauernd dort zu bleiben entschlossen ist. Sie malt und bildet mit einer
Hausdame zusammen den Mittelpunkt eines kleinen Kreises, der sich entsprechend
den Reisezeiten und ihrem Wechsel von Menschen verändert.

Gabriele ist der "Ikarus." Unter den Eindrücken der südlichen Natur


Vie Frau in der Dichtung

müden pflegte, und denen man dort auf viel schönere Art nachgehen konnte
als hier. Wie einfach und gar nicht abschreckend tritt uns an den kleinen
Orten das Elend entgegen, wie leicht kann man ihm menschlich näher treten!
Was sind dagegen die Veranstaltungen der Wohlthätigkeit in den großen
Städten, wie peinlich sind die Berührungen des Einzelnen mit der Armut an
den Straßenecken, der er doch nicht helfen kann! So kommt denn dem jungen
Madchen der Gedanke, daß, wenn ihre Pflicht sie nicht nach Hause riefe, wohin
die Sehnsucht immer größer wird, es wenigstens ein ernsthafter Beruf sein
mußte, der sie von dort fern hielte: sie möchte in der Krankenpflege arbeiten.
Da stirbt plötzlich die Tante schnell an einem Unfall unter vielen Schmerzen;
Tine sieht, wie sich die helfende barmherzige Schwester dabei über alle Be¬
schreibung hilfreich erweist. Sie will ihren eignen Plan darauf gründen, so¬
bald der Haushalt in Berlin aufgelöst ist. Die Tante hat nichts nennens¬
wertes hinterlassen, das Grundstück ist verschuldet, und ihr Vermögen war längst
in eine hohe Leibrente verwandelt. Ein Teil des Ertrages aus dem Verkauf
des Mobiliars fällt Times Eltern zu.

Hiermit schließt die Erzählung des kleinen Buches, das selbstverständlich
in Bezug auf die Fragen, von denen es ausgeht, nichts weiter bringen kann,
als etwas Stimmung und Lust, weiter über sie nachzudenken. Denn auch die
Ehe, mit der hier am Ende allem weitern abgeholfen wird, macht sich in der
Dichtung leichter, als manchmal im Leben. Die Vorrede fingirt nämlich, daß
die Briefe zwanzig Jahre später von der Empfängerin an die Schreibende
zurückgeschickt werden, wo beide glücklich verheiratet und auf diese Weise mit
einander verwandt geworden sind. Es ist also eine hübsche kleine, im versöhn¬
lichen Sinne geschriebn? soziale Erzählung.

Wir verbinden hiermit noch einige Bemerkungen über ein andres in dem¬
selben Verlage erschienenes Frauenbuch: Ikarus, eine Reisenovclle von
H. Mellin. In der, wie man meinen möchte, abgegriffnen Form einer
Beschreibung von Neiseeindrücken, die sich hauptsächlich auf Rom beziehen, er¬
halten wir einen tief angelegten Lebensromau, wirklich vornehm, nicht nur in
dem Sinne, daß ihn meist vornehme Menschen darstellen. Die Tochter eines
pommerschen Gutsbesitzers, verlobt in den Verhältnissen ihres Standes, macht
vor ihrer Verheiratung einen Ausflug in das Reich der Freiheit und der
Phantasie. Einige solche Menschen ihres spätern Kreises treten uns entgegen,
adliche Reisende, korrekte, selbstzufriedne Menschen. Gabriele fliegt etwas höher.
Ihre Beschützerin in Rom ist Julia, eine unabhängige, talentvolle Freundin
von männlichem Charakter, die dort lebt und, da sie keine Augehörigen mehr
hat, dauernd dort zu bleiben entschlossen ist. Sie malt und bildet mit einer
Hausdame zusammen den Mittelpunkt eines kleinen Kreises, der sich entsprechend
den Reisezeiten und ihrem Wechsel von Menschen verändert.

Gabriele ist der „Ikarus." Unter den Eindrücken der südlichen Natur


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[0484] Vie Frau in der Dichtung müden pflegte, und denen man dort auf viel schönere Art nachgehen konnte als hier. Wie einfach und gar nicht abschreckend tritt uns an den kleinen Orten das Elend entgegen, wie leicht kann man ihm menschlich näher treten! Was sind dagegen die Veranstaltungen der Wohlthätigkeit in den großen Städten, wie peinlich sind die Berührungen des Einzelnen mit der Armut an den Straßenecken, der er doch nicht helfen kann! So kommt denn dem jungen Madchen der Gedanke, daß, wenn ihre Pflicht sie nicht nach Hause riefe, wohin die Sehnsucht immer größer wird, es wenigstens ein ernsthafter Beruf sein mußte, der sie von dort fern hielte: sie möchte in der Krankenpflege arbeiten. Da stirbt plötzlich die Tante schnell an einem Unfall unter vielen Schmerzen; Tine sieht, wie sich die helfende barmherzige Schwester dabei über alle Be¬ schreibung hilfreich erweist. Sie will ihren eignen Plan darauf gründen, so¬ bald der Haushalt in Berlin aufgelöst ist. Die Tante hat nichts nennens¬ wertes hinterlassen, das Grundstück ist verschuldet, und ihr Vermögen war längst in eine hohe Leibrente verwandelt. Ein Teil des Ertrages aus dem Verkauf des Mobiliars fällt Times Eltern zu. Hiermit schließt die Erzählung des kleinen Buches, das selbstverständlich in Bezug auf die Fragen, von denen es ausgeht, nichts weiter bringen kann, als etwas Stimmung und Lust, weiter über sie nachzudenken. Denn auch die Ehe, mit der hier am Ende allem weitern abgeholfen wird, macht sich in der Dichtung leichter, als manchmal im Leben. Die Vorrede fingirt nämlich, daß die Briefe zwanzig Jahre später von der Empfängerin an die Schreibende zurückgeschickt werden, wo beide glücklich verheiratet und auf diese Weise mit einander verwandt geworden sind. Es ist also eine hübsche kleine, im versöhn¬ lichen Sinne geschriebn? soziale Erzählung. Wir verbinden hiermit noch einige Bemerkungen über ein andres in dem¬ selben Verlage erschienenes Frauenbuch: Ikarus, eine Reisenovclle von H. Mellin. In der, wie man meinen möchte, abgegriffnen Form einer Beschreibung von Neiseeindrücken, die sich hauptsächlich auf Rom beziehen, er¬ halten wir einen tief angelegten Lebensromau, wirklich vornehm, nicht nur in dem Sinne, daß ihn meist vornehme Menschen darstellen. Die Tochter eines pommerschen Gutsbesitzers, verlobt in den Verhältnissen ihres Standes, macht vor ihrer Verheiratung einen Ausflug in das Reich der Freiheit und der Phantasie. Einige solche Menschen ihres spätern Kreises treten uns entgegen, adliche Reisende, korrekte, selbstzufriedne Menschen. Gabriele fliegt etwas höher. Ihre Beschützerin in Rom ist Julia, eine unabhängige, talentvolle Freundin von männlichem Charakter, die dort lebt und, da sie keine Augehörigen mehr hat, dauernd dort zu bleiben entschlossen ist. Sie malt und bildet mit einer Hausdame zusammen den Mittelpunkt eines kleinen Kreises, der sich entsprechend den Reisezeiten und ihrem Wechsel von Menschen verändert. Gabriele ist der „Ikarus." Unter den Eindrücken der südlichen Natur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/484>, abgerufen am 06.01.2025.