Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.vie Frau in der Dichtung mitteilt, erregt den Wunsch, mehr davon kennen zu lernen. Was die übrigen So geht es uns auch mit Ibsen und Tolstoi. Die Verfasserin kennt vie Frau in der Dichtung mitteilt, erregt den Wunsch, mehr davon kennen zu lernen. Was die übrigen So geht es uns auch mit Ibsen und Tolstoi. Die Verfasserin kennt <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0480" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224064"/> <fw type="header" place="top"> vie Frau in der Dichtung</fw><lb/> <p xml:id="ID_1414" prev="#ID_1413"> mitteilt, erregt den Wunsch, mehr davon kennen zu lernen. Was die übrigen<lb/> Aufsätze anlangt, so hat die Verfasserin viel gelesen und auch viel gesehen<lb/> Und erlebt, und sie handhabt mit großer Sicherheit das Wörterbuch der<lb/> Psychologie bis zu den allerneuesten Ausdrücken. Selten macht sie Fehler<lb/> damit. Aber das genügt doch noch nicht, uns deutliche und scharfe Bilder zu<lb/> geben. In Bezug auf Gottfried Keller und Paul Heyse macht sie einige ganz<lb/> richtige Beobachtungen, die dann immer wieder im Kreise herumgedreht werden:<lb/> daß sich Kellers Personen in der freien Natur bewegen und aussprechen, mehr<lb/> als in geschlossenen Räumen, daß bei ihm oft der praktische Schweizer durch¬<lb/> komme, daß Paul Heyses Männer matte Schmetterlinge sind, während die<lb/> Frauen ihm und seiner Palette ganz neue Farben zu ihrem Bilde verdanken. Wenn<lb/> aber jemand, der Keller nicht gelesen hat, erwartet, hier eine Vorstellung von<lb/> ihm zu bekommen, so würde sich ihm diese Erwartung nur so erfüllen können,<lb/> daß er an der Hand dieser blitzartig ihm entgegenwirbelnden Geistreichigkeiten<lb/> Keller zu lesen unternähme, wobei er dann aber auch jene Bemerkungen hätte<lb/> entbehren können. Paul Heyse wird von der Verfasserin in allen Tonarten<lb/> gelobt, wobei sie wieder für den Eindruck eines Lesers, dem seine Gestalten nicht<lb/> gegenwärtig sind, nicht über ganz allgemeines hinauskommt, und ganz zuletzt<lb/> wird man noch überrascht, gerade aus ihrem Munde zu hören, Heyse wolle sie<lb/> und ihresgleichen zu „Apfelkuchen mit Schlagsahne" machen, während sie sich<lb/> doch vorher bei dem Schlagen jener Sahne ganz wohl zu fühlen schien.</p><lb/> <p xml:id="ID_1415" next="#ID_1416"> So geht es uns auch mit Ibsen und Tolstoi. Die Verfasserin kennt<lb/> sie und überschüttet uns mit Titeln, Anspielungen, Namen und geistreichen<lb/> Wendungen. Aber kennen lernen kann man aus solcher Behandlung doch<lb/> nichts, dann müßte es wenigstens einfach vorgetragen sein, aber nicht in<lb/> Pointen, die die Aufmerksamkeit immer auf die geistvolle Geberin zurücklenken,<lb/> wie eine schöne Hand durch blitzende Ringe um Beifall wirbt. Dann versagt<lb/> auch wohl einmal das Wörterbuch. Wir hören z. B. bei Gelegenheit von<lb/> Tolstoi, „daß alle die großen russischen Dichter ebenso vorzügliche Beobachter<lb/> wie mittelmäßige Denker, ebenso subtile Psychologen wie hilflose Altruisten<lb/> sind — beides Äußerungen einer jungen Litteratur." Versuchen wir diese<lb/> hübschen Antithesen ernsthaft zu Ende zu denken — und mit Frauen soll man<lb/> nie sich unterstehn zu scherzen, sagt ja der Alte —, so kommen wir auf —<lb/> Unsinn. Mehr Blut hat das Bild von Strindberg, obgleich es durchaus nicht<lb/> abgeschlossen ist, aber hier hat das Temperament die Feder geführt (taeit<lb/> inclig'nMo vsrsum), und der unsympathische, kalte Geselle ist manchmal gut ge¬<lb/> schildert. „Seinen Horizont bildet die dünne leuchtende Linie der Besitzenden,<lb/> zu denen er hinauf möchte, ob als Revolutionär oder als gekröntes Genie.<lb/> Nicht seine Individualität prägt die Dinge mit seiner persönlichen Wertschätzung.<lb/> Wir haben abgeschätzte, eingecnchte Werte, und erst wenn er diese Werte er¬<lb/> reicht hat, das ganz äußerlich Feine und Vornehme, die elegante Wohnung,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0480]
vie Frau in der Dichtung
mitteilt, erregt den Wunsch, mehr davon kennen zu lernen. Was die übrigen
Aufsätze anlangt, so hat die Verfasserin viel gelesen und auch viel gesehen
Und erlebt, und sie handhabt mit großer Sicherheit das Wörterbuch der
Psychologie bis zu den allerneuesten Ausdrücken. Selten macht sie Fehler
damit. Aber das genügt doch noch nicht, uns deutliche und scharfe Bilder zu
geben. In Bezug auf Gottfried Keller und Paul Heyse macht sie einige ganz
richtige Beobachtungen, die dann immer wieder im Kreise herumgedreht werden:
daß sich Kellers Personen in der freien Natur bewegen und aussprechen, mehr
als in geschlossenen Räumen, daß bei ihm oft der praktische Schweizer durch¬
komme, daß Paul Heyses Männer matte Schmetterlinge sind, während die
Frauen ihm und seiner Palette ganz neue Farben zu ihrem Bilde verdanken. Wenn
aber jemand, der Keller nicht gelesen hat, erwartet, hier eine Vorstellung von
ihm zu bekommen, so würde sich ihm diese Erwartung nur so erfüllen können,
daß er an der Hand dieser blitzartig ihm entgegenwirbelnden Geistreichigkeiten
Keller zu lesen unternähme, wobei er dann aber auch jene Bemerkungen hätte
entbehren können. Paul Heyse wird von der Verfasserin in allen Tonarten
gelobt, wobei sie wieder für den Eindruck eines Lesers, dem seine Gestalten nicht
gegenwärtig sind, nicht über ganz allgemeines hinauskommt, und ganz zuletzt
wird man noch überrascht, gerade aus ihrem Munde zu hören, Heyse wolle sie
und ihresgleichen zu „Apfelkuchen mit Schlagsahne" machen, während sie sich
doch vorher bei dem Schlagen jener Sahne ganz wohl zu fühlen schien.
So geht es uns auch mit Ibsen und Tolstoi. Die Verfasserin kennt
sie und überschüttet uns mit Titeln, Anspielungen, Namen und geistreichen
Wendungen. Aber kennen lernen kann man aus solcher Behandlung doch
nichts, dann müßte es wenigstens einfach vorgetragen sein, aber nicht in
Pointen, die die Aufmerksamkeit immer auf die geistvolle Geberin zurücklenken,
wie eine schöne Hand durch blitzende Ringe um Beifall wirbt. Dann versagt
auch wohl einmal das Wörterbuch. Wir hören z. B. bei Gelegenheit von
Tolstoi, „daß alle die großen russischen Dichter ebenso vorzügliche Beobachter
wie mittelmäßige Denker, ebenso subtile Psychologen wie hilflose Altruisten
sind — beides Äußerungen einer jungen Litteratur." Versuchen wir diese
hübschen Antithesen ernsthaft zu Ende zu denken — und mit Frauen soll man
nie sich unterstehn zu scherzen, sagt ja der Alte —, so kommen wir auf —
Unsinn. Mehr Blut hat das Bild von Strindberg, obgleich es durchaus nicht
abgeschlossen ist, aber hier hat das Temperament die Feder geführt (taeit
inclig'nMo vsrsum), und der unsympathische, kalte Geselle ist manchmal gut ge¬
schildert. „Seinen Horizont bildet die dünne leuchtende Linie der Besitzenden,
zu denen er hinauf möchte, ob als Revolutionär oder als gekröntes Genie.
Nicht seine Individualität prägt die Dinge mit seiner persönlichen Wertschätzung.
Wir haben abgeschätzte, eingecnchte Werte, und erst wenn er diese Werte er¬
reicht hat, das ganz äußerlich Feine und Vornehme, die elegante Wohnung,
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