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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Gin neues Buch über Beethoven und seine Sinfonien

Unfähigkeit. Je gescheiter der Leser ist, desto dümmer wird ihm von diesem
fleißigen Musikantenquatsch ohne Ideen und ohne Unterscheidungsvermögen.

Will man, wie Grove beabsichtigt, zu Dilettanten sprechen und ihnen gewisser¬
maßen eine Schule zur Kennerschaft bieten, so sind und bleiben die Grundideen der
Komposition das erste und wichtigste. Mit ihnen hat der Verfasser den Leser
bekannt zu machen; er muß zeigen, wie sie von Anfang an, als sogenannte
Themen, in Töne gekleidet sind, und er muß verfolgen, was aus ihnen wird.
Das verlangt das Naturrecht der Musik, die eben nur als Ausdruck von
Seelenbewegungen höhere Bedeutung hat. Dabei fällt alles andre von selbst
mit ab; die geistige Natur des Künstlers tritt nach allen Seiten, auch in
ihrem Verhältnis zur Form, wie von selber klar hervor, der Leser sieht, was
an der Komposition groß, was eigen, was gewagt, was launisch ist. Strebt
er überhaupt tiefer und hat den Grad von Bekanntschaft mit der musikalischen
Formenlehre, den man vernünftigerweise schon bei jedem Konzertbesucher
voraussetze" müßte, und über dessen Maugel auch die allergrößte Ausführlichkeit
einer Analyse nicht hinweghelfen kann, so sucht und findet er den Weg
zu den Nebensachen, zum schönen Beiwerk und zu den sinnvollen Einzelheiten
von selbst. Immerhin mag sich ein menschenfreundlicher Führer auch zu
diesem Teil der Aufgabe verpflichtet fühlen, nur soll er ihn zurücktreten lassen.

Grove neigt in seinen Analysen zum Gegenteil. Das Aufspüren ver¬
steckter Schönheiten, das Hinweisen auf kleine, unscheinbare Feinheiten be¬
schäftigt ihn mehr als das Aufdecken des Jdeengcmgs im großen und ganzen. Der
Leser wird mit allen umstrittnen, zweifelhaften Stellen bekannt, er steht beschämt,
wieviel ihm im Konzert oder am Klavier, an bedeutenden und beachtenswerten
Einzelheiten entgangen ist; er sieht, wie in diesen Meisterwerken des Genusses
kaum ein Ende ist, wie es da in allen Gliedern lebt und sich dichterisch regt.
Auch Musiker werden vielleicht durch Grove hie und da darauf aufmerksam werden,
daß sie eine Figur in den Fagotts oder Bratschen, eine Spielart der Kontrabässe
in ihrem vollen Wert unterschätzt haben. Grove hat die Partitur nicht umsonst
aufgeschlagen, er durchsucht ihr Gewebe, namentlich auch in Bezug auf Rhythmik,
Kolorit und Dynamik angestrengt und zuweilen mit scharfen Augen, und es
kann nicht ausbleiben, daß er auch denen die Augen schärft, die sich seiner
Führung anvertrauen. Das ist wohl auch gerade das, was er mit seiner
Methode erreichen will. Er hat daher für andre noch genug zu finden übrig ge¬
lassen von schönen Einzelheiten. Eine gleich zu Anfang wollen wir anführen.
Das ist der Beginn der Durchführung des Andante der ersten Sinfonie. Wie
da Beethoven mit den zwei ersten unscheinbaren Noten des Themas in Haydnscher
Art zu entwickeln anfängt und sich aus dem Kreis anmutigen Behagens
in die Regionen leidenschaftlichsten Empfindens, jetzt tief schmerzlich, jetzt innig
glücklich, entfernt, immer blitzschnell und immer nur andeutend -- das ist
zum ersten male der volle, wunderbare, unvergleichliche Beethoven. Daß


Gin neues Buch über Beethoven und seine Sinfonien

Unfähigkeit. Je gescheiter der Leser ist, desto dümmer wird ihm von diesem
fleißigen Musikantenquatsch ohne Ideen und ohne Unterscheidungsvermögen.

Will man, wie Grove beabsichtigt, zu Dilettanten sprechen und ihnen gewisser¬
maßen eine Schule zur Kennerschaft bieten, so sind und bleiben die Grundideen der
Komposition das erste und wichtigste. Mit ihnen hat der Verfasser den Leser
bekannt zu machen; er muß zeigen, wie sie von Anfang an, als sogenannte
Themen, in Töne gekleidet sind, und er muß verfolgen, was aus ihnen wird.
Das verlangt das Naturrecht der Musik, die eben nur als Ausdruck von
Seelenbewegungen höhere Bedeutung hat. Dabei fällt alles andre von selbst
mit ab; die geistige Natur des Künstlers tritt nach allen Seiten, auch in
ihrem Verhältnis zur Form, wie von selber klar hervor, der Leser sieht, was
an der Komposition groß, was eigen, was gewagt, was launisch ist. Strebt
er überhaupt tiefer und hat den Grad von Bekanntschaft mit der musikalischen
Formenlehre, den man vernünftigerweise schon bei jedem Konzertbesucher
voraussetze» müßte, und über dessen Maugel auch die allergrößte Ausführlichkeit
einer Analyse nicht hinweghelfen kann, so sucht und findet er den Weg
zu den Nebensachen, zum schönen Beiwerk und zu den sinnvollen Einzelheiten
von selbst. Immerhin mag sich ein menschenfreundlicher Führer auch zu
diesem Teil der Aufgabe verpflichtet fühlen, nur soll er ihn zurücktreten lassen.

Grove neigt in seinen Analysen zum Gegenteil. Das Aufspüren ver¬
steckter Schönheiten, das Hinweisen auf kleine, unscheinbare Feinheiten be¬
schäftigt ihn mehr als das Aufdecken des Jdeengcmgs im großen und ganzen. Der
Leser wird mit allen umstrittnen, zweifelhaften Stellen bekannt, er steht beschämt,
wieviel ihm im Konzert oder am Klavier, an bedeutenden und beachtenswerten
Einzelheiten entgangen ist; er sieht, wie in diesen Meisterwerken des Genusses
kaum ein Ende ist, wie es da in allen Gliedern lebt und sich dichterisch regt.
Auch Musiker werden vielleicht durch Grove hie und da darauf aufmerksam werden,
daß sie eine Figur in den Fagotts oder Bratschen, eine Spielart der Kontrabässe
in ihrem vollen Wert unterschätzt haben. Grove hat die Partitur nicht umsonst
aufgeschlagen, er durchsucht ihr Gewebe, namentlich auch in Bezug auf Rhythmik,
Kolorit und Dynamik angestrengt und zuweilen mit scharfen Augen, und es
kann nicht ausbleiben, daß er auch denen die Augen schärft, die sich seiner
Führung anvertrauen. Das ist wohl auch gerade das, was er mit seiner
Methode erreichen will. Er hat daher für andre noch genug zu finden übrig ge¬
lassen von schönen Einzelheiten. Eine gleich zu Anfang wollen wir anführen.
Das ist der Beginn der Durchführung des Andante der ersten Sinfonie. Wie
da Beethoven mit den zwei ersten unscheinbaren Noten des Themas in Haydnscher
Art zu entwickeln anfängt und sich aus dem Kreis anmutigen Behagens
in die Regionen leidenschaftlichsten Empfindens, jetzt tief schmerzlich, jetzt innig
glücklich, entfernt, immer blitzschnell und immer nur andeutend — das ist
zum ersten male der volle, wunderbare, unvergleichliche Beethoven. Daß


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[0048] Gin neues Buch über Beethoven und seine Sinfonien Unfähigkeit. Je gescheiter der Leser ist, desto dümmer wird ihm von diesem fleißigen Musikantenquatsch ohne Ideen und ohne Unterscheidungsvermögen. Will man, wie Grove beabsichtigt, zu Dilettanten sprechen und ihnen gewisser¬ maßen eine Schule zur Kennerschaft bieten, so sind und bleiben die Grundideen der Komposition das erste und wichtigste. Mit ihnen hat der Verfasser den Leser bekannt zu machen; er muß zeigen, wie sie von Anfang an, als sogenannte Themen, in Töne gekleidet sind, und er muß verfolgen, was aus ihnen wird. Das verlangt das Naturrecht der Musik, die eben nur als Ausdruck von Seelenbewegungen höhere Bedeutung hat. Dabei fällt alles andre von selbst mit ab; die geistige Natur des Künstlers tritt nach allen Seiten, auch in ihrem Verhältnis zur Form, wie von selber klar hervor, der Leser sieht, was an der Komposition groß, was eigen, was gewagt, was launisch ist. Strebt er überhaupt tiefer und hat den Grad von Bekanntschaft mit der musikalischen Formenlehre, den man vernünftigerweise schon bei jedem Konzertbesucher voraussetze» müßte, und über dessen Maugel auch die allergrößte Ausführlichkeit einer Analyse nicht hinweghelfen kann, so sucht und findet er den Weg zu den Nebensachen, zum schönen Beiwerk und zu den sinnvollen Einzelheiten von selbst. Immerhin mag sich ein menschenfreundlicher Führer auch zu diesem Teil der Aufgabe verpflichtet fühlen, nur soll er ihn zurücktreten lassen. Grove neigt in seinen Analysen zum Gegenteil. Das Aufspüren ver¬ steckter Schönheiten, das Hinweisen auf kleine, unscheinbare Feinheiten be¬ schäftigt ihn mehr als das Aufdecken des Jdeengcmgs im großen und ganzen. Der Leser wird mit allen umstrittnen, zweifelhaften Stellen bekannt, er steht beschämt, wieviel ihm im Konzert oder am Klavier, an bedeutenden und beachtenswerten Einzelheiten entgangen ist; er sieht, wie in diesen Meisterwerken des Genusses kaum ein Ende ist, wie es da in allen Gliedern lebt und sich dichterisch regt. Auch Musiker werden vielleicht durch Grove hie und da darauf aufmerksam werden, daß sie eine Figur in den Fagotts oder Bratschen, eine Spielart der Kontrabässe in ihrem vollen Wert unterschätzt haben. Grove hat die Partitur nicht umsonst aufgeschlagen, er durchsucht ihr Gewebe, namentlich auch in Bezug auf Rhythmik, Kolorit und Dynamik angestrengt und zuweilen mit scharfen Augen, und es kann nicht ausbleiben, daß er auch denen die Augen schärft, die sich seiner Führung anvertrauen. Das ist wohl auch gerade das, was er mit seiner Methode erreichen will. Er hat daher für andre noch genug zu finden übrig ge¬ lassen von schönen Einzelheiten. Eine gleich zu Anfang wollen wir anführen. Das ist der Beginn der Durchführung des Andante der ersten Sinfonie. Wie da Beethoven mit den zwei ersten unscheinbaren Noten des Themas in Haydnscher Art zu entwickeln anfängt und sich aus dem Kreis anmutigen Behagens in die Regionen leidenschaftlichsten Empfindens, jetzt tief schmerzlich, jetzt innig glücklich, entfernt, immer blitzschnell und immer nur andeutend — das ist zum ersten male der volle, wunderbare, unvergleichliche Beethoven. Daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/48>, abgerufen am 06.01.2025.