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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Gin neues Buch über Beethoven und seine Sinfonien

Es ist Möglich, und es könnte nichts schaden, wenn dieser Erfolg einen
deutschen Verleger zu einer Übersetzung reizte. Denn das Buch hat nach verschied-
nen Seiten hin neues und wertvolles und verspricht praktischen Nutzen. Noch
wichtiger aber ist es durch die Lücken, die es läßt, und durch die Irrtümer, in
denen es befangen ist. Es läßt von dieser Seite häufiger und stärker, als
man es seit langem hat beobachten können, grelle Lichter auf die Stellung
fallen, die die Gegenwart zu Beethoven und zu seiner Kunst einnimmt.

Es giebt Kunstfreunde, die die Möglichkeit, dem Wesen und der Art
musikalischer Kompositionen, namentlich instrumentaler, durch Beschreibungen
und Erklärungen gerecht zu werden, überhaupt in Abrede stellen. Sie mußten
folgerichtig auch jeden musikalischen Unterricht, mindestens aus den höhern
Stufen, verwerfen. Wo sichs um Auffassen, um Eindringen in ganze Musik¬
werke oder einzelne Stellen handelt, ist das Wort nicht zu entbehren, und der
Lehrer und der Dirigent erreicht das meiste, der ohne lange Reden das
treffendste findet. So haben auch die Komponisten selbst von Monteverdi an
bis auf Wagner von diesem Mittel zum bessern Verständnis ihrer Werke ost
genug Gebrauch gemacht. Es giebt aber für diese Kunst der Erläuterung
verschiedne Methoden. Man kann sich auf die Hauptpunkte und Hauptzüge
beschränken, oder man kann bei jedem Schritt des Komponisten verweilen; man
kann sich an die Ideen halten; die der Musik zu Grunde liegen und in ihr ent¬
wickelt werden, oder man kann das Technische in den Vordergrund der Be¬
trachtung rücken. Welche dieser Methoden der Verfasser wählt, ob er und wie
er verschiedne zusammen gebraucht, das hängt von dem besondern Zwecke seiner
Arbeit, von dem Bedürfnis des Leserkreises ab, an den er sich wendet; am
stärksten aber hängt das alles ab von dem Takt und der Begabung des Ver¬
fassers. Eine gewisse Erfahrung und einfaches Nachdenken führen zur Vor¬
sicht in der Behandlung des technischen und formellen Teils. Berlioz. Schu¬
mann, Liszt und Wagner haben Erläuterungen geschrieben, in denen gar keine
oder nur wenige Notenbeispiele, äußerliche Beschreibungen ganz spärlich vor¬
kommen, und doch liest sie kein Empfänglicher, ohne sich dem Geist der Kom¬
position näher zu fühlen. Diese Kunst ist aber nur wenigen gegeben. Sie ver¬
langt neben reicher Bildung, daß der Erklärer die Werke ganz durchdrungen,
ihren Inhalt in sich aufgenommen und in jedem Zuge durchlebt habe; sonst
redet er ein der Sache vorbei, giebt statt eines Bildes Schwärmereien und
Faseleien, die gefährlich bleiben, gleichviel ob sie in poetisches oder philo¬
sophisches Gewand gekleidet sind. Die Art von Gründlichkeit aber -- in den
Analysen der Mnsikzeitungcn, auch in vielen Heften des Frankfurter "Musik-
sührers" tritt sie uns entgegen --, die Satz für Satz mit Dominante und
Tonika, mit doppeltem und einfachem Kontrapunkt um sich wirft und sich
sorgfältig über jeden kleinen Buckel des äußern Musikgerippes verbreitet, ist
in der Regel nur eine scheinbare, nur ein Deckmantel tastender Hilflosigkeit und


Gin neues Buch über Beethoven und seine Sinfonien

Es ist Möglich, und es könnte nichts schaden, wenn dieser Erfolg einen
deutschen Verleger zu einer Übersetzung reizte. Denn das Buch hat nach verschied-
nen Seiten hin neues und wertvolles und verspricht praktischen Nutzen. Noch
wichtiger aber ist es durch die Lücken, die es läßt, und durch die Irrtümer, in
denen es befangen ist. Es läßt von dieser Seite häufiger und stärker, als
man es seit langem hat beobachten können, grelle Lichter auf die Stellung
fallen, die die Gegenwart zu Beethoven und zu seiner Kunst einnimmt.

Es giebt Kunstfreunde, die die Möglichkeit, dem Wesen und der Art
musikalischer Kompositionen, namentlich instrumentaler, durch Beschreibungen
und Erklärungen gerecht zu werden, überhaupt in Abrede stellen. Sie mußten
folgerichtig auch jeden musikalischen Unterricht, mindestens aus den höhern
Stufen, verwerfen. Wo sichs um Auffassen, um Eindringen in ganze Musik¬
werke oder einzelne Stellen handelt, ist das Wort nicht zu entbehren, und der
Lehrer und der Dirigent erreicht das meiste, der ohne lange Reden das
treffendste findet. So haben auch die Komponisten selbst von Monteverdi an
bis auf Wagner von diesem Mittel zum bessern Verständnis ihrer Werke ost
genug Gebrauch gemacht. Es giebt aber für diese Kunst der Erläuterung
verschiedne Methoden. Man kann sich auf die Hauptpunkte und Hauptzüge
beschränken, oder man kann bei jedem Schritt des Komponisten verweilen; man
kann sich an die Ideen halten; die der Musik zu Grunde liegen und in ihr ent¬
wickelt werden, oder man kann das Technische in den Vordergrund der Be¬
trachtung rücken. Welche dieser Methoden der Verfasser wählt, ob er und wie
er verschiedne zusammen gebraucht, das hängt von dem besondern Zwecke seiner
Arbeit, von dem Bedürfnis des Leserkreises ab, an den er sich wendet; am
stärksten aber hängt das alles ab von dem Takt und der Begabung des Ver¬
fassers. Eine gewisse Erfahrung und einfaches Nachdenken führen zur Vor¬
sicht in der Behandlung des technischen und formellen Teils. Berlioz. Schu¬
mann, Liszt und Wagner haben Erläuterungen geschrieben, in denen gar keine
oder nur wenige Notenbeispiele, äußerliche Beschreibungen ganz spärlich vor¬
kommen, und doch liest sie kein Empfänglicher, ohne sich dem Geist der Kom¬
position näher zu fühlen. Diese Kunst ist aber nur wenigen gegeben. Sie ver¬
langt neben reicher Bildung, daß der Erklärer die Werke ganz durchdrungen,
ihren Inhalt in sich aufgenommen und in jedem Zuge durchlebt habe; sonst
redet er ein der Sache vorbei, giebt statt eines Bildes Schwärmereien und
Faseleien, die gefährlich bleiben, gleichviel ob sie in poetisches oder philo¬
sophisches Gewand gekleidet sind. Die Art von Gründlichkeit aber — in den
Analysen der Mnsikzeitungcn, auch in vielen Heften des Frankfurter „Musik-
sührers" tritt sie uns entgegen —, die Satz für Satz mit Dominante und
Tonika, mit doppeltem und einfachem Kontrapunkt um sich wirft und sich
sorgfältig über jeden kleinen Buckel des äußern Musikgerippes verbreitet, ist
in der Regel nur eine scheinbare, nur ein Deckmantel tastender Hilflosigkeit und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/47>, abgerufen am 06.01.2025.