Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Englische Zustände Knäuel aufzuwickeln, wollen wir wenigstens ein paar kurze Stellen heraus¬ Englische Zustände Knäuel aufzuwickeln, wollen wir wenigstens ein paar kurze Stellen heraus¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0476" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224060"/> <fw type="header" place="top"> Englische Zustände</fw><lb/> <p xml:id="ID_1409" prev="#ID_1408" next="#ID_1410"> Knäuel aufzuwickeln, wollen wir wenigstens ein paar kurze Stellen heraus¬<lb/> heben: „Warum mußten Menschen in solchen Massen nach dieser feuchten<lb/> Gegend kommen, alles Grün niedertreten und sich gezwungen sehen, gleichsam<lb/> auf dein kahlen schwarzen Grunde eines Meeres von Steinkohleuqualm zu<lb/> Hausen? Um ihren Lebensunterhalt mit der leichten, angenehmen und lohnenden<lb/> Baumwollenspinnerei zu erwerben, antworten gewisse Nationalökonomen. Sie<lb/> erklären aber nicht, wie es gekommen ist, daß ungeborne Millionen ein solches<lb/> Bedürfnis haben konnten, diese Arbeitslöhne unter diesen Verhältnissen zu ver¬<lb/> dienen, ehe noch keines (?) von beiden existirte. . . . Das sind dunkle Fragen.<lb/> Soviel steht indessen fest, daß die englischen Arbeiter von Beginn des Groß-<lb/> industrialismus an eine erschreckende Gleichgiltigkeit für die Beschaffenheit<lb/> ihrer Umgebung gezeigt haben." (S. 117.) Lebte man nicht in dem ganz<lb/> anders gearteten London und kennte nur die Jndustriebezirke im Norden, so<lb/> würde man die Vorstellung bekommen, „hier eine Rasse mit außerordentlicher<lb/> ökonomischer und politischer Veranlagung, sowie mit ausgeprägtem Bedürfnis<lb/> nach strenger religiöser und moralischer Zucht vor sich zu haben, eine Nasse,<lb/> der es freilich an ästhetischen und höheren intellektuellen Seelengaben gebricht.<lb/> Da könnte man sich vielleicht versucht fühlen, feine Eindrücke vom englischen<lb/> Nationalcharakter in folgender Weise zusammenzufassen: Es ist ein Volk mit<lb/> großer Kraft zum Handeln, doch mit geringer zum Denken, mit großer Selbst¬<lb/> beherrschung, doch mit geringer Seelentiefe, mit großer Klugheit, doch mit<lb/> geringer Weisheit, mit einer Zähigkeit im Erdulden von Ungemach, die für<lb/> kürzere Zeiträume wertvoll ist, auf .die Länge aber zu einem stetigen und<lb/> stumpfen Hinabsinken in erniedrigende Lebensverhältnisse führt, sowie mit einer<lb/> Beständigkeit, die eine gewisse Verläßlichkeit, doch auch einen sinnlosen Kon¬<lb/> servativismus erzeugt. Das industrielle England zu bereisen, ist gleichzeitig<lb/> nervenstärkend und entnervend, Mut einflößend und entmutigend. ... Es<lb/> liegt etwas erfrischendes und begeisterndes in der Tendenz, sich auf individuelle<lb/> Unternehmungsfreude und Arbeitslust, auf individuelles Rechtsgefühl und<lb/> Selbstkontrolle, auf individuellen Freiheitsdrang und Gesellschaftsinstinkt zu<lb/> verlassen, damit die gewaltige Gesellschaftsmaschinerie im Gang erhalten<lb/> bleibt. . . . Man hat wirklich Leidenschaft für jede »praktische« Thätigkeit.<lb/> Hier muß indes der warm, doch nicht kritiklos bewundernde Ausländer Halt<lb/> machen. Was ihn hier aufhält, ist nicht der Gedanke daran, daß das groß-<lb/> industrielle System Englands vom sozialen Standpunkt aus betrachtet eine<lb/> wahnwitzige Verschwendung von Produktivkräften verursacht . . . was uns<lb/> bedrückt, ist nur die unausweichliche Frage: oui poro? Was ist das Ziel all<lb/> dieser »praktischen« Thätigkeit? . . . Lauscht man den einseitig industriellen<lb/> Gedanken, die sich in den Köpfen der Bevölkerung regen, fo könnte man zu<lb/> dem Schlüsse kommen, daß die innerste Bedeutung der westeuropäischen<lb/> Zivilisation nur die wäre, immer mehr und mehr Menschen und immer bessere</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0476]
Englische Zustände
Knäuel aufzuwickeln, wollen wir wenigstens ein paar kurze Stellen heraus¬
heben: „Warum mußten Menschen in solchen Massen nach dieser feuchten
Gegend kommen, alles Grün niedertreten und sich gezwungen sehen, gleichsam
auf dein kahlen schwarzen Grunde eines Meeres von Steinkohleuqualm zu
Hausen? Um ihren Lebensunterhalt mit der leichten, angenehmen und lohnenden
Baumwollenspinnerei zu erwerben, antworten gewisse Nationalökonomen. Sie
erklären aber nicht, wie es gekommen ist, daß ungeborne Millionen ein solches
Bedürfnis haben konnten, diese Arbeitslöhne unter diesen Verhältnissen zu ver¬
dienen, ehe noch keines (?) von beiden existirte. . . . Das sind dunkle Fragen.
Soviel steht indessen fest, daß die englischen Arbeiter von Beginn des Groß-
industrialismus an eine erschreckende Gleichgiltigkeit für die Beschaffenheit
ihrer Umgebung gezeigt haben." (S. 117.) Lebte man nicht in dem ganz
anders gearteten London und kennte nur die Jndustriebezirke im Norden, so
würde man die Vorstellung bekommen, „hier eine Rasse mit außerordentlicher
ökonomischer und politischer Veranlagung, sowie mit ausgeprägtem Bedürfnis
nach strenger religiöser und moralischer Zucht vor sich zu haben, eine Nasse,
der es freilich an ästhetischen und höheren intellektuellen Seelengaben gebricht.
Da könnte man sich vielleicht versucht fühlen, feine Eindrücke vom englischen
Nationalcharakter in folgender Weise zusammenzufassen: Es ist ein Volk mit
großer Kraft zum Handeln, doch mit geringer zum Denken, mit großer Selbst¬
beherrschung, doch mit geringer Seelentiefe, mit großer Klugheit, doch mit
geringer Weisheit, mit einer Zähigkeit im Erdulden von Ungemach, die für
kürzere Zeiträume wertvoll ist, auf .die Länge aber zu einem stetigen und
stumpfen Hinabsinken in erniedrigende Lebensverhältnisse führt, sowie mit einer
Beständigkeit, die eine gewisse Verläßlichkeit, doch auch einen sinnlosen Kon¬
servativismus erzeugt. Das industrielle England zu bereisen, ist gleichzeitig
nervenstärkend und entnervend, Mut einflößend und entmutigend. ... Es
liegt etwas erfrischendes und begeisterndes in der Tendenz, sich auf individuelle
Unternehmungsfreude und Arbeitslust, auf individuelles Rechtsgefühl und
Selbstkontrolle, auf individuellen Freiheitsdrang und Gesellschaftsinstinkt zu
verlassen, damit die gewaltige Gesellschaftsmaschinerie im Gang erhalten
bleibt. . . . Man hat wirklich Leidenschaft für jede »praktische« Thätigkeit.
Hier muß indes der warm, doch nicht kritiklos bewundernde Ausländer Halt
machen. Was ihn hier aufhält, ist nicht der Gedanke daran, daß das groß-
industrielle System Englands vom sozialen Standpunkt aus betrachtet eine
wahnwitzige Verschwendung von Produktivkräften verursacht . . . was uns
bedrückt, ist nur die unausweichliche Frage: oui poro? Was ist das Ziel all
dieser »praktischen« Thätigkeit? . . . Lauscht man den einseitig industriellen
Gedanken, die sich in den Köpfen der Bevölkerung regen, fo könnte man zu
dem Schlüsse kommen, daß die innerste Bedeutung der westeuropäischen
Zivilisation nur die wäre, immer mehr und mehr Menschen und immer bessere
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