Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Lnglische Zustände

sprünglichen Ausgabe durch solche aus dem deutschen Leben ersetzt. Aber sie
spiegeln die Stimmung der Verfasser, die aus den englischen Verhältnissen
erwachsen ist. Nur drei Stellen wollen wir zur Charakteristik des Buches
anführen. "Mein Ideal wäre Mäßigkeit und Enthaltsamkeit für den Körper
und Opulenz für den Geist." (S. 41.) "Kraft und Schönheit sind die unfehl¬
baren Merkmale guter Gesundheit. Man betrachte die antike Statue eines
griechischen Athleten und als Gegenstück dazu die Gestalt eines modernen
Sweaters, so wird man sehen, wie wahr das ist." (S. 10.) "Die Gründe,
warum ich das heutige Fabrikations- und Geschäftswesen angreife, sind folgende:
1. weil es häßlich, unangenehm und mechanisch ist, 2. weil es gesundheits¬
schädlich ist, 3. weil es völlig überflüssig ist..... Die Fabrikstädte sind
dir bekannt. Sind sie nicht alle häßlich und schmutzig und rauchig und
unangenehm? Man vergleiche solche Orte mit den saubern, netten, reizenden
Städten und Gegenden, wo keine Fabrikindustrie existirt. In solchen Gegenden
hat man reine Luft, einen blauen Himmel, saubere Flüsse und Vüche, nette
Straßen, schöne Auen, Wälder und Gärten; man sieht da das Vieh auf der
Weide, und man freut sich an Vögeln und Blumen. Das sind lauter Dinge,
über die sich jedes Menschenherz freut. Die Anhänger der Manchesterschule
Sulche die allein!^ werden dir freilich sagen, das sei nur Sentimentalität.
Aber vergleichen wir mit der Sprache dieser Leute ihre Handlungen! Hast
du, Schulze, schon wahrgenommen, daß sie für ihre Person gleichgiltig sind
gegen Natur, Schönheit, Kunst, Gesundheit, und daß sie sich gar nichts daraus
machen -- außer in den an dich und deine Genossen gerichteten Schriften?
Nein! Du findest, daß diese Leute die Wvhnstütte so weit wie möglich vom
Zentrum des Fabrikorts wegrücken, und du siehst, wie sie die Ferien im Ge¬
birge, an der See, in Bädern oder in der Schweiz zubringen." (S. 16.)

Eine weitere Schattenseite des englischen Lebens ist die weitgehende Diffe-
renzirung und Spezialisirung der Arbeit. Die Sache ist bekannt genug, aber
was Steffen darüber sagt -- wir können es hier nicht abschreiben -- ist dennoch
sehr lesenswert. Er erörtert die unnatürliche Trennung von Landwirtschaft
und Industrie, die Verödung der Landschaften und die Anhäufung der Menschen¬
massen in den Industriezentren (zu denen London, nebenbei bemerkt, nicht
gehört), die Lokalisirung der einzelnen Gewerbe nicht allein, sondern der Zweige
eines und desselben Gewerbes (in Bolton wird nur feines, in Oldham mittel¬
feines Baumwollengarn gesponnen, in Blackburu Kattun gewebt) und die
Arbeitsteilung innerhalb derselben Fabrik: der Arbeiter in einer Schuhfabrik
zu Leicester ist nur noch ein vierundsechzigstel, ein achtundstebzigstel oder gar
nur ein dreiuudneunzigstel Schuster. Die Folge davon ist die Vernichtung der
Individualität. Der Sinn für Qualität geht bei den Arbeitern wie bei den
Käufern verloren, und es gilt nur noch die Quantität. Selbst an den Orten,
wo die Arbeiterwohnungen reinlich und ziemlich behaglich sind, machen sie durch


Lnglische Zustände

sprünglichen Ausgabe durch solche aus dem deutschen Leben ersetzt. Aber sie
spiegeln die Stimmung der Verfasser, die aus den englischen Verhältnissen
erwachsen ist. Nur drei Stellen wollen wir zur Charakteristik des Buches
anführen. „Mein Ideal wäre Mäßigkeit und Enthaltsamkeit für den Körper
und Opulenz für den Geist." (S. 41.) „Kraft und Schönheit sind die unfehl¬
baren Merkmale guter Gesundheit. Man betrachte die antike Statue eines
griechischen Athleten und als Gegenstück dazu die Gestalt eines modernen
Sweaters, so wird man sehen, wie wahr das ist." (S. 10.) „Die Gründe,
warum ich das heutige Fabrikations- und Geschäftswesen angreife, sind folgende:
1. weil es häßlich, unangenehm und mechanisch ist, 2. weil es gesundheits¬
schädlich ist, 3. weil es völlig überflüssig ist..... Die Fabrikstädte sind
dir bekannt. Sind sie nicht alle häßlich und schmutzig und rauchig und
unangenehm? Man vergleiche solche Orte mit den saubern, netten, reizenden
Städten und Gegenden, wo keine Fabrikindustrie existirt. In solchen Gegenden
hat man reine Luft, einen blauen Himmel, saubere Flüsse und Vüche, nette
Straßen, schöne Auen, Wälder und Gärten; man sieht da das Vieh auf der
Weide, und man freut sich an Vögeln und Blumen. Das sind lauter Dinge,
über die sich jedes Menschenherz freut. Die Anhänger der Manchesterschule
Sulche die allein!^ werden dir freilich sagen, das sei nur Sentimentalität.
Aber vergleichen wir mit der Sprache dieser Leute ihre Handlungen! Hast
du, Schulze, schon wahrgenommen, daß sie für ihre Person gleichgiltig sind
gegen Natur, Schönheit, Kunst, Gesundheit, und daß sie sich gar nichts daraus
machen — außer in den an dich und deine Genossen gerichteten Schriften?
Nein! Du findest, daß diese Leute die Wvhnstütte so weit wie möglich vom
Zentrum des Fabrikorts wegrücken, und du siehst, wie sie die Ferien im Ge¬
birge, an der See, in Bädern oder in der Schweiz zubringen." (S. 16.)

Eine weitere Schattenseite des englischen Lebens ist die weitgehende Diffe-
renzirung und Spezialisirung der Arbeit. Die Sache ist bekannt genug, aber
was Steffen darüber sagt — wir können es hier nicht abschreiben — ist dennoch
sehr lesenswert. Er erörtert die unnatürliche Trennung von Landwirtschaft
und Industrie, die Verödung der Landschaften und die Anhäufung der Menschen¬
massen in den Industriezentren (zu denen London, nebenbei bemerkt, nicht
gehört), die Lokalisirung der einzelnen Gewerbe nicht allein, sondern der Zweige
eines und desselben Gewerbes (in Bolton wird nur feines, in Oldham mittel¬
feines Baumwollengarn gesponnen, in Blackburu Kattun gewebt) und die
Arbeitsteilung innerhalb derselben Fabrik: der Arbeiter in einer Schuhfabrik
zu Leicester ist nur noch ein vierundsechzigstel, ein achtundstebzigstel oder gar
nur ein dreiuudneunzigstel Schuster. Die Folge davon ist die Vernichtung der
Individualität. Der Sinn für Qualität geht bei den Arbeitern wie bei den
Käufern verloren, und es gilt nur noch die Quantität. Selbst an den Orten,
wo die Arbeiterwohnungen reinlich und ziemlich behaglich sind, machen sie durch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0474" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224058"/>
          <fw type="header" place="top"> Lnglische Zustände</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1405" prev="#ID_1404"> sprünglichen Ausgabe durch solche aus dem deutschen Leben ersetzt. Aber sie<lb/>
spiegeln die Stimmung der Verfasser, die aus den englischen Verhältnissen<lb/>
erwachsen ist. Nur drei Stellen wollen wir zur Charakteristik des Buches<lb/>
anführen. &#x201E;Mein Ideal wäre Mäßigkeit und Enthaltsamkeit für den Körper<lb/>
und Opulenz für den Geist." (S. 41.) &#x201E;Kraft und Schönheit sind die unfehl¬<lb/>
baren Merkmale guter Gesundheit. Man betrachte die antike Statue eines<lb/>
griechischen Athleten und als Gegenstück dazu die Gestalt eines modernen<lb/>
Sweaters, so wird man sehen, wie wahr das ist." (S. 10.) &#x201E;Die Gründe,<lb/>
warum ich das heutige Fabrikations- und Geschäftswesen angreife, sind folgende:<lb/>
1. weil es häßlich, unangenehm und mechanisch ist, 2. weil es gesundheits¬<lb/>
schädlich ist, 3. weil es völlig überflüssig ist..... Die Fabrikstädte sind<lb/>
dir bekannt. Sind sie nicht alle häßlich und schmutzig und rauchig und<lb/>
unangenehm? Man vergleiche solche Orte mit den saubern, netten, reizenden<lb/>
Städten und Gegenden, wo keine Fabrikindustrie existirt. In solchen Gegenden<lb/>
hat man reine Luft, einen blauen Himmel, saubere Flüsse und Vüche, nette<lb/>
Straßen, schöne Auen, Wälder und Gärten; man sieht da das Vieh auf der<lb/>
Weide, und man freut sich an Vögeln und Blumen. Das sind lauter Dinge,<lb/>
über die sich jedes Menschenherz freut. Die Anhänger der Manchesterschule<lb/>
Sulche die allein!^ werden dir freilich sagen, das sei nur Sentimentalität.<lb/>
Aber vergleichen wir mit der Sprache dieser Leute ihre Handlungen! Hast<lb/>
du, Schulze, schon wahrgenommen, daß sie für ihre Person gleichgiltig sind<lb/>
gegen Natur, Schönheit, Kunst, Gesundheit, und daß sie sich gar nichts daraus<lb/>
machen &#x2014; außer in den an dich und deine Genossen gerichteten Schriften?<lb/>
Nein! Du findest, daß diese Leute die Wvhnstütte so weit wie möglich vom<lb/>
Zentrum des Fabrikorts wegrücken, und du siehst, wie sie die Ferien im Ge¬<lb/>
birge, an der See, in Bädern oder in der Schweiz zubringen." (S. 16.)</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1406" next="#ID_1407"> Eine weitere Schattenseite des englischen Lebens ist die weitgehende Diffe-<lb/>
renzirung und Spezialisirung der Arbeit. Die Sache ist bekannt genug, aber<lb/>
was Steffen darüber sagt &#x2014; wir können es hier nicht abschreiben &#x2014; ist dennoch<lb/>
sehr lesenswert. Er erörtert die unnatürliche Trennung von Landwirtschaft<lb/>
und Industrie, die Verödung der Landschaften und die Anhäufung der Menschen¬<lb/>
massen in den Industriezentren (zu denen London, nebenbei bemerkt, nicht<lb/>
gehört), die Lokalisirung der einzelnen Gewerbe nicht allein, sondern der Zweige<lb/>
eines und desselben Gewerbes (in Bolton wird nur feines, in Oldham mittel¬<lb/>
feines Baumwollengarn gesponnen, in Blackburu Kattun gewebt) und die<lb/>
Arbeitsteilung innerhalb derselben Fabrik: der Arbeiter in einer Schuhfabrik<lb/>
zu Leicester ist nur noch ein vierundsechzigstel, ein achtundstebzigstel oder gar<lb/>
nur ein dreiuudneunzigstel Schuster. Die Folge davon ist die Vernichtung der<lb/>
Individualität. Der Sinn für Qualität geht bei den Arbeitern wie bei den<lb/>
Käufern verloren, und es gilt nur noch die Quantität. Selbst an den Orten,<lb/>
wo die Arbeiterwohnungen reinlich und ziemlich behaglich sind, machen sie durch</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0474] Lnglische Zustände sprünglichen Ausgabe durch solche aus dem deutschen Leben ersetzt. Aber sie spiegeln die Stimmung der Verfasser, die aus den englischen Verhältnissen erwachsen ist. Nur drei Stellen wollen wir zur Charakteristik des Buches anführen. „Mein Ideal wäre Mäßigkeit und Enthaltsamkeit für den Körper und Opulenz für den Geist." (S. 41.) „Kraft und Schönheit sind die unfehl¬ baren Merkmale guter Gesundheit. Man betrachte die antike Statue eines griechischen Athleten und als Gegenstück dazu die Gestalt eines modernen Sweaters, so wird man sehen, wie wahr das ist." (S. 10.) „Die Gründe, warum ich das heutige Fabrikations- und Geschäftswesen angreife, sind folgende: 1. weil es häßlich, unangenehm und mechanisch ist, 2. weil es gesundheits¬ schädlich ist, 3. weil es völlig überflüssig ist..... Die Fabrikstädte sind dir bekannt. Sind sie nicht alle häßlich und schmutzig und rauchig und unangenehm? Man vergleiche solche Orte mit den saubern, netten, reizenden Städten und Gegenden, wo keine Fabrikindustrie existirt. In solchen Gegenden hat man reine Luft, einen blauen Himmel, saubere Flüsse und Vüche, nette Straßen, schöne Auen, Wälder und Gärten; man sieht da das Vieh auf der Weide, und man freut sich an Vögeln und Blumen. Das sind lauter Dinge, über die sich jedes Menschenherz freut. Die Anhänger der Manchesterschule Sulche die allein!^ werden dir freilich sagen, das sei nur Sentimentalität. Aber vergleichen wir mit der Sprache dieser Leute ihre Handlungen! Hast du, Schulze, schon wahrgenommen, daß sie für ihre Person gleichgiltig sind gegen Natur, Schönheit, Kunst, Gesundheit, und daß sie sich gar nichts daraus machen — außer in den an dich und deine Genossen gerichteten Schriften? Nein! Du findest, daß diese Leute die Wvhnstütte so weit wie möglich vom Zentrum des Fabrikorts wegrücken, und du siehst, wie sie die Ferien im Ge¬ birge, an der See, in Bädern oder in der Schweiz zubringen." (S. 16.) Eine weitere Schattenseite des englischen Lebens ist die weitgehende Diffe- renzirung und Spezialisirung der Arbeit. Die Sache ist bekannt genug, aber was Steffen darüber sagt — wir können es hier nicht abschreiben — ist dennoch sehr lesenswert. Er erörtert die unnatürliche Trennung von Landwirtschaft und Industrie, die Verödung der Landschaften und die Anhäufung der Menschen¬ massen in den Industriezentren (zu denen London, nebenbei bemerkt, nicht gehört), die Lokalisirung der einzelnen Gewerbe nicht allein, sondern der Zweige eines und desselben Gewerbes (in Bolton wird nur feines, in Oldham mittel¬ feines Baumwollengarn gesponnen, in Blackburu Kattun gewebt) und die Arbeitsteilung innerhalb derselben Fabrik: der Arbeiter in einer Schuhfabrik zu Leicester ist nur noch ein vierundsechzigstel, ein achtundstebzigstel oder gar nur ein dreiuudneunzigstel Schuster. Die Folge davon ist die Vernichtung der Individualität. Der Sinn für Qualität geht bei den Arbeitern wie bei den Käufern verloren, und es gilt nur noch die Quantität. Selbst an den Orten, wo die Arbeiterwohnungen reinlich und ziemlich behaglich sind, machen sie durch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/474
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/474>, abgerufen am 08.01.2025.