Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Englische Zustände reibenden Kohlenindustrielebens entgehen. Man findet nämlich bald, daß Englische Zustände reibenden Kohlenindustrielebens entgehen. Man findet nämlich bald, daß <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0472" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224056"/> <fw type="header" place="top"> Englische Zustände</fw><lb/> <p xml:id="ID_1402" prev="#ID_1401" next="#ID_1403"> reibenden Kohlenindustrielebens entgehen. Man findet nämlich bald, daß<lb/> es nicht die Kohlengewinnung, sondern der großindustrielle, in Städten und<lb/> ganzen Bezirken konzentrirte Kohlenverbrauch ist, der vielerorts (!) in England<lb/> das Menschenleben zur tragikomischen Maskerade in Ruß und Rauchnebeln<lb/> macht." Northumberland bietet so manches erfreuliche; „die niedern Klassen in<lb/> England sind im allgemeinen unsauber; die abgehärtete Bevölkerung Northumber-<lb/> lands bildet jedoch eine leuchtende Ausnahme von dieser Regel." Wenn man<lb/> es unternähme, heißt es an einer andern Stelle, „diese Grubenortschaften mit<lb/> dem Schmutz und der Ungemütlichkeit solcher in gewissen andern englischen<lb/> Kohlengebieten zu vergleichen, so müßte man zwar die hier im Norden durch¬<lb/> gängig verhältnismäßig hohen Löhne und kurzen Arbeitszeiten besonders ab¬<lb/> rechnen, man dürfte aber auch nicht vergessen, daß diese für den Vergleichungs¬<lb/> weise hohen Lebensstand der northumbrischen Grubenarbeiter wichtigen Faktoren<lb/> mit dem steifnackigcn northumbrischen Charakter wesentlich zusammenhängen.<lb/> Solche Vorteile, wie sie die Kohlenhäuer Northumberlcmds jetzt auf Grund<lb/> des Reichtums und der vorzüglichen Qualität seiner Kohlenflötze genießen,<lb/> sind offenbar auch nicht ohne harten Zusammenstoß mit dem Grubenbesitzer¬<lb/> egoismus und der seinerzeit auch im nördlichen England landläufigen Ver¬<lb/> achtung des schmutzigen Kvhlenhäuerproletariats errungen worden." Doch<lb/> findet er auch bei diesen wackern Leuten die Spuren verheerender Überarbeit<lb/> und die dem modernen Engländer der untern Klassen eigne Unfähigkeit, sich<lb/> auf eine vernünftige Weise zu vergnügen; bei Festen neigen sie zu roher Un-<lb/> mäßigkeit, und statt sich an der Natur zu erfreuen, hockt Alt und Jung bei¬<lb/> sammen, um dem Wetten oder sonstigem Glücksspiel um Geld zu fröhnen.<lb/> Beinahe ebenso schwarz wie die Bezirke der Eisenindustrie sind Manchester<lb/> und Leeds, die Hauptorte der Baumwollen- und Wollenfabrikation. Weit<lb/> erträglicher als Leeds ist das kleinere Huddersfield. Steffens kommt bei<lb/> diesem Vergleich zu dem Schlüsse, „daß es für Städte im allgemeinen und<lb/> für Industriestädte im besondern verboten sein sollte, mehr als 100 000 Ein¬<lb/> wohner zu haben. Das scheint für die Zivilisation und einen bequemen Fort¬<lb/> schritt völlig ausreichend zu sein. Überschreitet man diese Grenze, so verfüllt<lb/> man gewöhnlich in eine neue, künstliche Barbarei, und ist die große Stadt<lb/> erst sehr groß geworden, so kann es leicht dazu kommen, daß die Gesamtsumme<lb/> ihres Lebens ein zivilisatorisches Minus statt eines kulturellen (!) Plus ergiebt.<lb/> Da die großen Kulturstaaten unter arger Verschwendung ihres »Menschen¬<lb/> materials« glücklich bewiesen haben, daß das Geheimnis des Fortschritts nicht<lb/> in der unbegrenzten Volkszusammenhäufung liegt, kann es sich ja ereignen,<lb/> daß die kleinen Staaten ebenso große, wenn nicht größere Aussicht haben, den<lb/> eigentlichen Forschritt nach vielen wichtigen Seiten hin in gute Wege zu leiten."<lb/> Wenn nur die wenigen noch übrigen Kleinstaaten nicht in Gefahr wären, von<lb/> den großen vollends verschlungen zu werden! In Edinbourgh freut er sich</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0472]
Englische Zustände
reibenden Kohlenindustrielebens entgehen. Man findet nämlich bald, daß
es nicht die Kohlengewinnung, sondern der großindustrielle, in Städten und
ganzen Bezirken konzentrirte Kohlenverbrauch ist, der vielerorts (!) in England
das Menschenleben zur tragikomischen Maskerade in Ruß und Rauchnebeln
macht." Northumberland bietet so manches erfreuliche; „die niedern Klassen in
England sind im allgemeinen unsauber; die abgehärtete Bevölkerung Northumber-
lands bildet jedoch eine leuchtende Ausnahme von dieser Regel." Wenn man
es unternähme, heißt es an einer andern Stelle, „diese Grubenortschaften mit
dem Schmutz und der Ungemütlichkeit solcher in gewissen andern englischen
Kohlengebieten zu vergleichen, so müßte man zwar die hier im Norden durch¬
gängig verhältnismäßig hohen Löhne und kurzen Arbeitszeiten besonders ab¬
rechnen, man dürfte aber auch nicht vergessen, daß diese für den Vergleichungs¬
weise hohen Lebensstand der northumbrischen Grubenarbeiter wichtigen Faktoren
mit dem steifnackigcn northumbrischen Charakter wesentlich zusammenhängen.
Solche Vorteile, wie sie die Kohlenhäuer Northumberlcmds jetzt auf Grund
des Reichtums und der vorzüglichen Qualität seiner Kohlenflötze genießen,
sind offenbar auch nicht ohne harten Zusammenstoß mit dem Grubenbesitzer¬
egoismus und der seinerzeit auch im nördlichen England landläufigen Ver¬
achtung des schmutzigen Kvhlenhäuerproletariats errungen worden." Doch
findet er auch bei diesen wackern Leuten die Spuren verheerender Überarbeit
und die dem modernen Engländer der untern Klassen eigne Unfähigkeit, sich
auf eine vernünftige Weise zu vergnügen; bei Festen neigen sie zu roher Un-
mäßigkeit, und statt sich an der Natur zu erfreuen, hockt Alt und Jung bei¬
sammen, um dem Wetten oder sonstigem Glücksspiel um Geld zu fröhnen.
Beinahe ebenso schwarz wie die Bezirke der Eisenindustrie sind Manchester
und Leeds, die Hauptorte der Baumwollen- und Wollenfabrikation. Weit
erträglicher als Leeds ist das kleinere Huddersfield. Steffens kommt bei
diesem Vergleich zu dem Schlüsse, „daß es für Städte im allgemeinen und
für Industriestädte im besondern verboten sein sollte, mehr als 100 000 Ein¬
wohner zu haben. Das scheint für die Zivilisation und einen bequemen Fort¬
schritt völlig ausreichend zu sein. Überschreitet man diese Grenze, so verfüllt
man gewöhnlich in eine neue, künstliche Barbarei, und ist die große Stadt
erst sehr groß geworden, so kann es leicht dazu kommen, daß die Gesamtsumme
ihres Lebens ein zivilisatorisches Minus statt eines kulturellen (!) Plus ergiebt.
Da die großen Kulturstaaten unter arger Verschwendung ihres »Menschen¬
materials« glücklich bewiesen haben, daß das Geheimnis des Fortschritts nicht
in der unbegrenzten Volkszusammenhäufung liegt, kann es sich ja ereignen,
daß die kleinen Staaten ebenso große, wenn nicht größere Aussicht haben, den
eigentlichen Forschritt nach vielen wichtigen Seiten hin in gute Wege zu leiten."
Wenn nur die wenigen noch übrigen Kleinstaaten nicht in Gefahr wären, von
den großen vollends verschlungen zu werden! In Edinbourgh freut er sich
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