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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Englische Zustände

demonstration am 3. Mai 1891 bemerkt: "Freilich für unser deutsches Gefühl
ist es kaum begreiflich, daß Militärkapellen in einem Zuge thätig waren, darin
sich doch auch ausgesprochene Anarchisten mit revolutionären Kundgebungen
und Emblemen befanden," so sollen wir ohne Zweifel zwischen den Zeilen lesen,
daß dieses Gefühl, nicht sowohl des deutschen Mannes als des preußischen
und des sächsischen Ordnungsphilisters, sehr thöricht und eben die Ursache der
Revolutionsgefahr ist, soweit eine solche in Deutschland bestehen mag.

Das Buch von Steffen ist ein sehr bedeutendes Werk. Der Verfasser,
ein Schwede, hat sich sieben Jahre in London aufgehalten, "ohne England
gesehen zu haben," und im Sommer des vorigen Jahres, um endlich auch
England ein wenig kennen zu lernen, "eine Blitztour durch die englischen Jn-
dustriebezirke mit kurzen Abstechern nach Kathedralstädten und Fendalburgen,
sowie nach den Berglandschaften Schottlands und nach den Meeresbuchten
Irlands" unternommen. Er hat die kurze Zeit von zwei Monaten mit bewun¬
derungswürdiger Energie ausgenutzt: alles wichtige beobachtet und kennen
gelernt, mit dem Volke und mit Unternehmern verkehrt und sich überall von
Fachleuten unterrichten lassen, und erzählt nun, was er mit dem Auge des
Nationalökonomen, des Sozialpolitikers, des Ästhetikers und des Kulturhistorikers
gesehen hat, in der anziehendsten Form. Die Übersetzung ist verhältnismäßig
gut, die Ausstattung, zu der auch hübsche Illustrationen gehören, glänzend. Wir
geben zunächst eine Skizze des Eindrucks, den Land und Leute im allgemeinen
auf den Verfasser gemacht haben. Den Gesamteindruck faßt er gleich eingangs
in die Worte zusammen: "Das industrielle England erscheint als ein ungeheures
Arbeitshaus, wo man trefflich darüber Bescheid zu geben weiß, wie Sachen
und Dinge gemacht werden sollen, doch ganz vergessen hat, sich darüber zu
unterrichten, wozu und weshalb das überhaupt geschieht." Sein erster Besuch
galt deu Armstrongwerken in Elswick am Thue. "Wohin man sich ans den
kahlen Hügeln mit ihren einförmigen Reihen von Arbeiterhäusern oder in den
schwarzen, vernachlässigten Fabrikstraßen längs des Flusses auch wendet, überall
begegnet man demselben bleischweren, trostlosen, grauen Eindrucke von einer
Welt, die tags über arbeitet und sich abquält, jedoch kein andres Ziel für
ihre aufzehrende Arbeitsmühe, als deren ewige, geisttötende Fortsetzung kennt.
Die Einwohner des Orts tragen den Stempel des vernachlässigten und zweck¬
losen Daseins ihrer Umgebung. Verlottertere Männer, zerlumptere Weiber,
schmutzigere Kinder und anwiderndere Wohnstätten findet man nicht einmal
im Hafengebiete Londons. Selbst die Bäcker- und Lebensmittellüden zeigen
die Spuren mangelnder Selbstachtung bei der Bevölkerung. Unter deren jämmer¬
lichen, zum Teil aus Surrogaten und ebenso billigen, wie widerlichen kulina¬
rischen Reizmitteln bestehenden Inhalt fehlen niemals ganze Kästen voll kleiner
Pennyflcischen mit -- Nizinusöl. Hier kauft man Gift und Gegengift an der¬
selben Stelle, ohne dadurch den Appetit zu verlieren .... Nur allzu deutlich


Englische Zustände

demonstration am 3. Mai 1891 bemerkt: „Freilich für unser deutsches Gefühl
ist es kaum begreiflich, daß Militärkapellen in einem Zuge thätig waren, darin
sich doch auch ausgesprochene Anarchisten mit revolutionären Kundgebungen
und Emblemen befanden," so sollen wir ohne Zweifel zwischen den Zeilen lesen,
daß dieses Gefühl, nicht sowohl des deutschen Mannes als des preußischen
und des sächsischen Ordnungsphilisters, sehr thöricht und eben die Ursache der
Revolutionsgefahr ist, soweit eine solche in Deutschland bestehen mag.

Das Buch von Steffen ist ein sehr bedeutendes Werk. Der Verfasser,
ein Schwede, hat sich sieben Jahre in London aufgehalten, „ohne England
gesehen zu haben," und im Sommer des vorigen Jahres, um endlich auch
England ein wenig kennen zu lernen, „eine Blitztour durch die englischen Jn-
dustriebezirke mit kurzen Abstechern nach Kathedralstädten und Fendalburgen,
sowie nach den Berglandschaften Schottlands und nach den Meeresbuchten
Irlands" unternommen. Er hat die kurze Zeit von zwei Monaten mit bewun¬
derungswürdiger Energie ausgenutzt: alles wichtige beobachtet und kennen
gelernt, mit dem Volke und mit Unternehmern verkehrt und sich überall von
Fachleuten unterrichten lassen, und erzählt nun, was er mit dem Auge des
Nationalökonomen, des Sozialpolitikers, des Ästhetikers und des Kulturhistorikers
gesehen hat, in der anziehendsten Form. Die Übersetzung ist verhältnismäßig
gut, die Ausstattung, zu der auch hübsche Illustrationen gehören, glänzend. Wir
geben zunächst eine Skizze des Eindrucks, den Land und Leute im allgemeinen
auf den Verfasser gemacht haben. Den Gesamteindruck faßt er gleich eingangs
in die Worte zusammen: „Das industrielle England erscheint als ein ungeheures
Arbeitshaus, wo man trefflich darüber Bescheid zu geben weiß, wie Sachen
und Dinge gemacht werden sollen, doch ganz vergessen hat, sich darüber zu
unterrichten, wozu und weshalb das überhaupt geschieht." Sein erster Besuch
galt deu Armstrongwerken in Elswick am Thue. „Wohin man sich ans den
kahlen Hügeln mit ihren einförmigen Reihen von Arbeiterhäusern oder in den
schwarzen, vernachlässigten Fabrikstraßen längs des Flusses auch wendet, überall
begegnet man demselben bleischweren, trostlosen, grauen Eindrucke von einer
Welt, die tags über arbeitet und sich abquält, jedoch kein andres Ziel für
ihre aufzehrende Arbeitsmühe, als deren ewige, geisttötende Fortsetzung kennt.
Die Einwohner des Orts tragen den Stempel des vernachlässigten und zweck¬
losen Daseins ihrer Umgebung. Verlottertere Männer, zerlumptere Weiber,
schmutzigere Kinder und anwiderndere Wohnstätten findet man nicht einmal
im Hafengebiete Londons. Selbst die Bäcker- und Lebensmittellüden zeigen
die Spuren mangelnder Selbstachtung bei der Bevölkerung. Unter deren jämmer¬
lichen, zum Teil aus Surrogaten und ebenso billigen, wie widerlichen kulina¬
rischen Reizmitteln bestehenden Inhalt fehlen niemals ganze Kästen voll kleiner
Pennyflcischen mit — Nizinusöl. Hier kauft man Gift und Gegengift an der¬
selben Stelle, ohne dadurch den Appetit zu verlieren .... Nur allzu deutlich


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[0470] Englische Zustände demonstration am 3. Mai 1891 bemerkt: „Freilich für unser deutsches Gefühl ist es kaum begreiflich, daß Militärkapellen in einem Zuge thätig waren, darin sich doch auch ausgesprochene Anarchisten mit revolutionären Kundgebungen und Emblemen befanden," so sollen wir ohne Zweifel zwischen den Zeilen lesen, daß dieses Gefühl, nicht sowohl des deutschen Mannes als des preußischen und des sächsischen Ordnungsphilisters, sehr thöricht und eben die Ursache der Revolutionsgefahr ist, soweit eine solche in Deutschland bestehen mag. Das Buch von Steffen ist ein sehr bedeutendes Werk. Der Verfasser, ein Schwede, hat sich sieben Jahre in London aufgehalten, „ohne England gesehen zu haben," und im Sommer des vorigen Jahres, um endlich auch England ein wenig kennen zu lernen, „eine Blitztour durch die englischen Jn- dustriebezirke mit kurzen Abstechern nach Kathedralstädten und Fendalburgen, sowie nach den Berglandschaften Schottlands und nach den Meeresbuchten Irlands" unternommen. Er hat die kurze Zeit von zwei Monaten mit bewun¬ derungswürdiger Energie ausgenutzt: alles wichtige beobachtet und kennen gelernt, mit dem Volke und mit Unternehmern verkehrt und sich überall von Fachleuten unterrichten lassen, und erzählt nun, was er mit dem Auge des Nationalökonomen, des Sozialpolitikers, des Ästhetikers und des Kulturhistorikers gesehen hat, in der anziehendsten Form. Die Übersetzung ist verhältnismäßig gut, die Ausstattung, zu der auch hübsche Illustrationen gehören, glänzend. Wir geben zunächst eine Skizze des Eindrucks, den Land und Leute im allgemeinen auf den Verfasser gemacht haben. Den Gesamteindruck faßt er gleich eingangs in die Worte zusammen: „Das industrielle England erscheint als ein ungeheures Arbeitshaus, wo man trefflich darüber Bescheid zu geben weiß, wie Sachen und Dinge gemacht werden sollen, doch ganz vergessen hat, sich darüber zu unterrichten, wozu und weshalb das überhaupt geschieht." Sein erster Besuch galt deu Armstrongwerken in Elswick am Thue. „Wohin man sich ans den kahlen Hügeln mit ihren einförmigen Reihen von Arbeiterhäusern oder in den schwarzen, vernachlässigten Fabrikstraßen längs des Flusses auch wendet, überall begegnet man demselben bleischweren, trostlosen, grauen Eindrucke von einer Welt, die tags über arbeitet und sich abquält, jedoch kein andres Ziel für ihre aufzehrende Arbeitsmühe, als deren ewige, geisttötende Fortsetzung kennt. Die Einwohner des Orts tragen den Stempel des vernachlässigten und zweck¬ losen Daseins ihrer Umgebung. Verlottertere Männer, zerlumptere Weiber, schmutzigere Kinder und anwiderndere Wohnstätten findet man nicht einmal im Hafengebiete Londons. Selbst die Bäcker- und Lebensmittellüden zeigen die Spuren mangelnder Selbstachtung bei der Bevölkerung. Unter deren jämmer¬ lichen, zum Teil aus Surrogaten und ebenso billigen, wie widerlichen kulina¬ rischen Reizmitteln bestehenden Inhalt fehlen niemals ganze Kästen voll kleiner Pennyflcischen mit — Nizinusöl. Hier kauft man Gift und Gegengift an der¬ selben Stelle, ohne dadurch den Appetit zu verlieren .... Nur allzu deutlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/470>, abgerufen am 08.01.2025.