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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Lnglijche Zustände

schränkt sich darauf, daß die deutschen Arbeiter mehr Temperament haben als
die englischen und daher mehr lärmen, daß sie durch polizeiliche Einschrän¬
kungen und gerichtliche Verfolgungen, die in England aufgehört haben, in einer
gereizten Stimmung erhalten werden, und daß in England die weise Politik
einer im guten Sinne aristokratischen Gesellschaft und die aufrichtige christliche
Gesinnung vieler Gebildeten einen freundschaftlichen geschäftlichen, politischen
und geselligen Verkehr zwischen den höhern und den niedern Klassen hergestellt
haben. Auf den Bildungsunterschied legt anch Whitman das Hauptgewicht.
..Indem die deutsche Erziehung dem Menschen eine weitere Perspektive eröffnete
gemeint ist: ihn mit den Gütern und Genüssen des höher zivilisirten Menschen
bekannt machte), ist sie doch nicht zugleich fähig gewesen, die Mafien mit deren
Unerreichbarkeit für den Einzelnen auszusöhnen. Mit andern Worten: seine
Erziehung hat ihn immer nur als ein Menschenkind gelassen: individuell zwar
geistig höher stehend als früher, aber moralisch nicht hoch genug." ^Ils uigu
ana M politie^H^ raost äekeotivö öäuoation c>5 ddo ni^hos führt er in
Imvöi-lal 66i-in!M7 als den Hauptgrund der sozialdemokratischen Bewegung
an. Das ist richtig, nur muß man hinzufügen, daß die politische Erziehung
des Grafen Kanitz und seiner Genossen und die der Zunfthandwerker in diesem
Sinne nicht weniger mangelhaft ist, und daß man die hohe Moralität, die
Whitman vom Arbeiter zu fordern scheint, überhaupt nicht in der Welt, sondern
im Kloster suchen muß. Führt er doch selbst zur Erklärung der Lage Bis-
warcks Wort an: "Haben Sie je einen zufriedner Millionär gesehen?" Wenn
aber dem Millionär das Recht der Unzufriedenheit zugestanden wird, so muß
es dem Arbeiter hundertfach zugestanden werden; es versteht sich ganz von
^'lbst, daß er unzufrieden ist, sobald er aus dem Zustande viehischen Stumpf¬
sinns herausgeführt oder gewaltsam herausgetrieben wird, und das ist in
Deutschland allgemeiner und seit längerer Zeit geschehen als in England.
Übrigens scheint es Werner mit der Erklärung, die er für den bisherigen fried¬
lichen Verlauf der englischen Arbeiterbewegung giebt, nicht so recht Ernst zu
sein. Im Vorwort schreibt er: "Wer zwischen den Zeilen zu lesen weiß, dem
wird auch ganz ungesucht die Frage gelöst, woher es kommt, daß die im
Innern des kulturellen Erdballs "an ist gar schon der Erdball "kulturell"!!
wogende Glntwelle revolutionärer Leidenschaft im "freien England" die
Schranken der bestehenden Ordnung noch nicht überflutet hat und wahr¬
scheinlich auch in absehbarer Zukunft nicht überfluten wird." Außer der so¬
zusagen exoterischen Erklärung, die er mit dem wiederholten Preise der christ¬
lichen Nächstenliebe giebt, muß also wohl noch eine esoterische in dem Büchlein
stecken. Die wüßten wir nirgends zu finden als in den Stellen, wo er be¬
schreibt, wie frei sich das öffentliche Leben in England entfaltet, wie unge¬
hindert die Arbeiter demonstriren und im Hydepark revolutionäre Reden halten
und anhören dürfen, und wenn er bei der Beschreibung der Achtstundentags-


Lnglijche Zustände

schränkt sich darauf, daß die deutschen Arbeiter mehr Temperament haben als
die englischen und daher mehr lärmen, daß sie durch polizeiliche Einschrän¬
kungen und gerichtliche Verfolgungen, die in England aufgehört haben, in einer
gereizten Stimmung erhalten werden, und daß in England die weise Politik
einer im guten Sinne aristokratischen Gesellschaft und die aufrichtige christliche
Gesinnung vieler Gebildeten einen freundschaftlichen geschäftlichen, politischen
und geselligen Verkehr zwischen den höhern und den niedern Klassen hergestellt
haben. Auf den Bildungsunterschied legt anch Whitman das Hauptgewicht.
..Indem die deutsche Erziehung dem Menschen eine weitere Perspektive eröffnete
gemeint ist: ihn mit den Gütern und Genüssen des höher zivilisirten Menschen
bekannt machte), ist sie doch nicht zugleich fähig gewesen, die Mafien mit deren
Unerreichbarkeit für den Einzelnen auszusöhnen. Mit andern Worten: seine
Erziehung hat ihn immer nur als ein Menschenkind gelassen: individuell zwar
geistig höher stehend als früher, aber moralisch nicht hoch genug." ^Ils uigu
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Imvöi-lal 66i-in!M7 als den Hauptgrund der sozialdemokratischen Bewegung
an. Das ist richtig, nur muß man hinzufügen, daß die politische Erziehung
des Grafen Kanitz und seiner Genossen und die der Zunfthandwerker in diesem
Sinne nicht weniger mangelhaft ist, und daß man die hohe Moralität, die
Whitman vom Arbeiter zu fordern scheint, überhaupt nicht in der Welt, sondern
im Kloster suchen muß. Führt er doch selbst zur Erklärung der Lage Bis-
warcks Wort an: „Haben Sie je einen zufriedner Millionär gesehen?" Wenn
aber dem Millionär das Recht der Unzufriedenheit zugestanden wird, so muß
es dem Arbeiter hundertfach zugestanden werden; es versteht sich ganz von
^'lbst, daß er unzufrieden ist, sobald er aus dem Zustande viehischen Stumpf¬
sinns herausgeführt oder gewaltsam herausgetrieben wird, und das ist in
Deutschland allgemeiner und seit längerer Zeit geschehen als in England.
Übrigens scheint es Werner mit der Erklärung, die er für den bisherigen fried¬
lichen Verlauf der englischen Arbeiterbewegung giebt, nicht so recht Ernst zu
sein. Im Vorwort schreibt er: „Wer zwischen den Zeilen zu lesen weiß, dem
wird auch ganz ungesucht die Frage gelöst, woher es kommt, daß die im
Innern des kulturellen Erdballs »an ist gar schon der Erdball „kulturell"!!
wogende Glntwelle revolutionärer Leidenschaft im „freien England" die
Schranken der bestehenden Ordnung noch nicht überflutet hat und wahr¬
scheinlich auch in absehbarer Zukunft nicht überfluten wird." Außer der so¬
zusagen exoterischen Erklärung, die er mit dem wiederholten Preise der christ¬
lichen Nächstenliebe giebt, muß also wohl noch eine esoterische in dem Büchlein
stecken. Die wüßten wir nirgends zu finden als in den Stellen, wo er be¬
schreibt, wie frei sich das öffentliche Leben in England entfaltet, wie unge¬
hindert die Arbeiter demonstriren und im Hydepark revolutionäre Reden halten
und anhören dürfen, und wenn er bei der Beschreibung der Achtstundentags-


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[0469] Lnglijche Zustände schränkt sich darauf, daß die deutschen Arbeiter mehr Temperament haben als die englischen und daher mehr lärmen, daß sie durch polizeiliche Einschrän¬ kungen und gerichtliche Verfolgungen, die in England aufgehört haben, in einer gereizten Stimmung erhalten werden, und daß in England die weise Politik einer im guten Sinne aristokratischen Gesellschaft und die aufrichtige christliche Gesinnung vieler Gebildeten einen freundschaftlichen geschäftlichen, politischen und geselligen Verkehr zwischen den höhern und den niedern Klassen hergestellt haben. Auf den Bildungsunterschied legt anch Whitman das Hauptgewicht. ..Indem die deutsche Erziehung dem Menschen eine weitere Perspektive eröffnete gemeint ist: ihn mit den Gütern und Genüssen des höher zivilisirten Menschen bekannt machte), ist sie doch nicht zugleich fähig gewesen, die Mafien mit deren Unerreichbarkeit für den Einzelnen auszusöhnen. Mit andern Worten: seine Erziehung hat ihn immer nur als ein Menschenkind gelassen: individuell zwar geistig höher stehend als früher, aber moralisch nicht hoch genug." ^Ils uigu ana M politie^H^ raost äekeotivö öäuoation c>5 ddo ni^hos führt er in Imvöi-lal 66i-in!M7 als den Hauptgrund der sozialdemokratischen Bewegung an. Das ist richtig, nur muß man hinzufügen, daß die politische Erziehung des Grafen Kanitz und seiner Genossen und die der Zunfthandwerker in diesem Sinne nicht weniger mangelhaft ist, und daß man die hohe Moralität, die Whitman vom Arbeiter zu fordern scheint, überhaupt nicht in der Welt, sondern im Kloster suchen muß. Führt er doch selbst zur Erklärung der Lage Bis- warcks Wort an: „Haben Sie je einen zufriedner Millionär gesehen?" Wenn aber dem Millionär das Recht der Unzufriedenheit zugestanden wird, so muß es dem Arbeiter hundertfach zugestanden werden; es versteht sich ganz von ^'lbst, daß er unzufrieden ist, sobald er aus dem Zustande viehischen Stumpf¬ sinns herausgeführt oder gewaltsam herausgetrieben wird, und das ist in Deutschland allgemeiner und seit längerer Zeit geschehen als in England. Übrigens scheint es Werner mit der Erklärung, die er für den bisherigen fried¬ lichen Verlauf der englischen Arbeiterbewegung giebt, nicht so recht Ernst zu sein. Im Vorwort schreibt er: „Wer zwischen den Zeilen zu lesen weiß, dem wird auch ganz ungesucht die Frage gelöst, woher es kommt, daß die im Innern des kulturellen Erdballs »an ist gar schon der Erdball „kulturell"!! wogende Glntwelle revolutionärer Leidenschaft im „freien England" die Schranken der bestehenden Ordnung noch nicht überflutet hat und wahr¬ scheinlich auch in absehbarer Zukunft nicht überfluten wird." Außer der so¬ zusagen exoterischen Erklärung, die er mit dem wiederholten Preise der christ¬ lichen Nächstenliebe giebt, muß also wohl noch eine esoterische in dem Büchlein stecken. Die wüßten wir nirgends zu finden als in den Stellen, wo er be¬ schreibt, wie frei sich das öffentliche Leben in England entfaltet, wie unge¬ hindert die Arbeiter demonstriren und im Hydepark revolutionäre Reden halten und anhören dürfen, und wenn er bei der Beschreibung der Achtstundentags-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/469>, abgerufen am 08.01.2025.