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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Die Mißstände in der Kleider- und Wäscheindustrie

Was Maßregeln gegen die Mißstände auf wirtschaftlichem Gebiete anlangt,
so hat Herr von Boetticher am 12. Februar als den Hauptpunkt die sorg¬
fältigere Abfassung der Arbeitsverträge, womöglich schriftliche Verträge
bezeichnet. Wenn nur Herr von Boetticher für seinen Vorschlag nun auch
mit allem Ernst und Nachdruck eintreten wollte! Es wird einen harten
Kampf kosten, dieses einfache naturgemäße Heil- und Erziehungsmittel gegen
die Querköpfigkeit der parlamentarischen Parteimänner durchzusetzen. Nach den
Vernehmungen ist man auf den ersten Blick vielleicht erstaunt, welch herrliche,
ganz patriarchalische Rolle Treue und Glauben in dem Verhältnis zwischen
Konfektionär und Arbeiter spielt. Da wird nichts "schriftlich gegeben," nicht
einmal mündlich etwas festes verabredet. Warum auch? Wenn der gute
Unternehmer nur Bescheid weiß und in sein Buch einschreibt, was er für
nötig hält, so genügt das unter solche" harmlosen Menschen vollkommen, noch
ganz so, wie in der guten alten Zeit in dem idyllischsten Winkel des deutschen
Wirtschaftslebens. Die Sache liegt aber ganz anders. Beide Teile trauen
sich nur das allerschlechteste zu; aber nur der Unternehmer darf darnach handeln,
der Arbeiter muß, wenn er Arbeit haben will, sich so verhalten, als ob er
blind vertraute. "Alle Rechte vorbehalten" heißt es auf Schritt und Tritt
zu Gunsten des Geschäftsmanns, vom lüderlicher Ausgeben der Stoffteile, des
Futters, der Knöpfe bis zur schofeln und widerwilligen Bezahlung nach Ab¬
lieferung der Arbeit. Der Unternehmer bindet sich nie, er behält immer freie
Hand. Was er anschreibt, gilt, und wenn er nichts anschreibt, so hat er doch
Recht. Das ist die Idylle in Wirklichkeit; ein Schlendrian, eine Unordnung,
eine Zeitvergeudung, eine "Bummelei" -- wie es einer der Meister treffend
nannte -- über die man lachen müßte, wenn nicht "System" darin läge,
nämlich daß den Schaden immer und überall der Arbeiter, niemals der Unter¬
nehmer zu tragen hat. Die Arbeiterschaft, das Volk überhaupt nennt diese
Wirtschaft, wenn es die sozialdemokratischen Parteihüupter nicht hören: Juden¬
wirtschaft, und es liegt, wie wir schon angedeutet haben, viel Wahres darin.
Um diesen Augiasstall auszuräumen, ist der scharfe Besen des Zwangs
unerläßlich und, wie wir glauben, auch mit Erfolg verwendbar. Die Leute,
mit denen man es hier zu thun hat, sind erstaunlich bildungsfähig, haben
viel Organisationstalent, fürchten den Schutzmann und entwickeln einen
beispiellosen Ehrgeiz, wenn aus der Not eine Tugend gemacht werden muß.
Man greife nur rücksichtslos zu, der Erfolg ist ganz sicher. Das übliche Weh¬
geschrei wird bald verstummen.

Um Ordnung in dem Vertragsverhältnis der Werkstattarbeiter zu schaffen,
haben wir das bewährte Mittel der ZZ 134 bis 134K der Gewerbeordnung,
die Arbeitsordnungen. Sie lassen sich mit sachgemäßen Erweiterungen und
Abänderungen auch sür die Werkstätten in der Konfektionsindustrie vor¬
schreiben. Wir können uns hier damit begnügen, auf die vortreffliche Arbeit


Die Mißstände in der Kleider- und Wäscheindustrie

Was Maßregeln gegen die Mißstände auf wirtschaftlichem Gebiete anlangt,
so hat Herr von Boetticher am 12. Februar als den Hauptpunkt die sorg¬
fältigere Abfassung der Arbeitsverträge, womöglich schriftliche Verträge
bezeichnet. Wenn nur Herr von Boetticher für seinen Vorschlag nun auch
mit allem Ernst und Nachdruck eintreten wollte! Es wird einen harten
Kampf kosten, dieses einfache naturgemäße Heil- und Erziehungsmittel gegen
die Querköpfigkeit der parlamentarischen Parteimänner durchzusetzen. Nach den
Vernehmungen ist man auf den ersten Blick vielleicht erstaunt, welch herrliche,
ganz patriarchalische Rolle Treue und Glauben in dem Verhältnis zwischen
Konfektionär und Arbeiter spielt. Da wird nichts „schriftlich gegeben," nicht
einmal mündlich etwas festes verabredet. Warum auch? Wenn der gute
Unternehmer nur Bescheid weiß und in sein Buch einschreibt, was er für
nötig hält, so genügt das unter solche« harmlosen Menschen vollkommen, noch
ganz so, wie in der guten alten Zeit in dem idyllischsten Winkel des deutschen
Wirtschaftslebens. Die Sache liegt aber ganz anders. Beide Teile trauen
sich nur das allerschlechteste zu; aber nur der Unternehmer darf darnach handeln,
der Arbeiter muß, wenn er Arbeit haben will, sich so verhalten, als ob er
blind vertraute. „Alle Rechte vorbehalten" heißt es auf Schritt und Tritt
zu Gunsten des Geschäftsmanns, vom lüderlicher Ausgeben der Stoffteile, des
Futters, der Knöpfe bis zur schofeln und widerwilligen Bezahlung nach Ab¬
lieferung der Arbeit. Der Unternehmer bindet sich nie, er behält immer freie
Hand. Was er anschreibt, gilt, und wenn er nichts anschreibt, so hat er doch
Recht. Das ist die Idylle in Wirklichkeit; ein Schlendrian, eine Unordnung,
eine Zeitvergeudung, eine „Bummelei" — wie es einer der Meister treffend
nannte — über die man lachen müßte, wenn nicht „System" darin läge,
nämlich daß den Schaden immer und überall der Arbeiter, niemals der Unter¬
nehmer zu tragen hat. Die Arbeiterschaft, das Volk überhaupt nennt diese
Wirtschaft, wenn es die sozialdemokratischen Parteihüupter nicht hören: Juden¬
wirtschaft, und es liegt, wie wir schon angedeutet haben, viel Wahres darin.
Um diesen Augiasstall auszuräumen, ist der scharfe Besen des Zwangs
unerläßlich und, wie wir glauben, auch mit Erfolg verwendbar. Die Leute,
mit denen man es hier zu thun hat, sind erstaunlich bildungsfähig, haben
viel Organisationstalent, fürchten den Schutzmann und entwickeln einen
beispiellosen Ehrgeiz, wenn aus der Not eine Tugend gemacht werden muß.
Man greife nur rücksichtslos zu, der Erfolg ist ganz sicher. Das übliche Weh¬
geschrei wird bald verstummen.

Um Ordnung in dem Vertragsverhältnis der Werkstattarbeiter zu schaffen,
haben wir das bewährte Mittel der ZZ 134 bis 134K der Gewerbeordnung,
die Arbeitsordnungen. Sie lassen sich mit sachgemäßen Erweiterungen und
Abänderungen auch sür die Werkstätten in der Konfektionsindustrie vor¬
schreiben. Wir können uns hier damit begnügen, auf die vortreffliche Arbeit


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[0460] Die Mißstände in der Kleider- und Wäscheindustrie Was Maßregeln gegen die Mißstände auf wirtschaftlichem Gebiete anlangt, so hat Herr von Boetticher am 12. Februar als den Hauptpunkt die sorg¬ fältigere Abfassung der Arbeitsverträge, womöglich schriftliche Verträge bezeichnet. Wenn nur Herr von Boetticher für seinen Vorschlag nun auch mit allem Ernst und Nachdruck eintreten wollte! Es wird einen harten Kampf kosten, dieses einfache naturgemäße Heil- und Erziehungsmittel gegen die Querköpfigkeit der parlamentarischen Parteimänner durchzusetzen. Nach den Vernehmungen ist man auf den ersten Blick vielleicht erstaunt, welch herrliche, ganz patriarchalische Rolle Treue und Glauben in dem Verhältnis zwischen Konfektionär und Arbeiter spielt. Da wird nichts „schriftlich gegeben," nicht einmal mündlich etwas festes verabredet. Warum auch? Wenn der gute Unternehmer nur Bescheid weiß und in sein Buch einschreibt, was er für nötig hält, so genügt das unter solche« harmlosen Menschen vollkommen, noch ganz so, wie in der guten alten Zeit in dem idyllischsten Winkel des deutschen Wirtschaftslebens. Die Sache liegt aber ganz anders. Beide Teile trauen sich nur das allerschlechteste zu; aber nur der Unternehmer darf darnach handeln, der Arbeiter muß, wenn er Arbeit haben will, sich so verhalten, als ob er blind vertraute. „Alle Rechte vorbehalten" heißt es auf Schritt und Tritt zu Gunsten des Geschäftsmanns, vom lüderlicher Ausgeben der Stoffteile, des Futters, der Knöpfe bis zur schofeln und widerwilligen Bezahlung nach Ab¬ lieferung der Arbeit. Der Unternehmer bindet sich nie, er behält immer freie Hand. Was er anschreibt, gilt, und wenn er nichts anschreibt, so hat er doch Recht. Das ist die Idylle in Wirklichkeit; ein Schlendrian, eine Unordnung, eine Zeitvergeudung, eine „Bummelei" — wie es einer der Meister treffend nannte — über die man lachen müßte, wenn nicht „System" darin läge, nämlich daß den Schaden immer und überall der Arbeiter, niemals der Unter¬ nehmer zu tragen hat. Die Arbeiterschaft, das Volk überhaupt nennt diese Wirtschaft, wenn es die sozialdemokratischen Parteihüupter nicht hören: Juden¬ wirtschaft, und es liegt, wie wir schon angedeutet haben, viel Wahres darin. Um diesen Augiasstall auszuräumen, ist der scharfe Besen des Zwangs unerläßlich und, wie wir glauben, auch mit Erfolg verwendbar. Die Leute, mit denen man es hier zu thun hat, sind erstaunlich bildungsfähig, haben viel Organisationstalent, fürchten den Schutzmann und entwickeln einen beispiellosen Ehrgeiz, wenn aus der Not eine Tugend gemacht werden muß. Man greife nur rücksichtslos zu, der Erfolg ist ganz sicher. Das übliche Weh¬ geschrei wird bald verstummen. Um Ordnung in dem Vertragsverhältnis der Werkstattarbeiter zu schaffen, haben wir das bewährte Mittel der ZZ 134 bis 134K der Gewerbeordnung, die Arbeitsordnungen. Sie lassen sich mit sachgemäßen Erweiterungen und Abänderungen auch sür die Werkstätten in der Konfektionsindustrie vor¬ schreiben. Wir können uns hier damit begnügen, auf die vortreffliche Arbeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/460>, abgerufen am 08.01.2025.